Es ist Freitag, der Feiertag der Muslime, und Familie Sharif freut sich auf den Höhepunkt der Woche: Es gibt Huhn zu Mittag. In ihrer kahlen Küche im überfüllten Flüchtlingslager Beach beugt sich die 45-jährige Amal Sharif über eine dampfende Pfanne mit Maftoul, geschmortem Huhn mit Couscous. Die jüngeren ihrer zehn Kinder kommen erwartungsvoll immer wieder in die Küche gerannt. Ein großes Huhn wie dieses kostet 60 Shekel (umgerechnet 13 Euro) und ist eine Gaumenfreude, die sich die Sharifs nur einmal pro Woche leisten. An den übrigen Tagen lebt die Familie ausschließlich von Mehl, Reis, Öl und Lebensmitteln, die sie sich dank kleiner finanzieller Zuschüsse der lokalen UN-Mission leisten können. Obst gilt als unerschwinglicher Luxus. Rindfleisch hat die Familie seit einem Jahr nicht mehr gegessen.
18 Jahre lang konnte Amal als Familienoberhaupt selbst für den Unterhalt seiner Familie aufkommen. Er war Angestellter einer israelischen Reederei. Doch im Jahr 2000, als Israel mit der zweiten Intifada den Gaza-Streifen durch Zäune, Mauern und Schlagbäume abriegelte, war damit Schluss. Danach arbeitete er als Fischer. Auch dieser Broterwerb fiel weg, nachdem sein Boot während des dreiwöchigen Gaza-Kriegs Anfang 2009 zerstört wurde. Mit der einen Hand umklammert Amal Sharif eine Gebetskette, mit der anderen eine Zigarette: „Mein Einkommen ist um 100 Prozent gefallen. Wenn du kein Geld hast, dann ist alles zu teuer.“
Nachdem sie die Blockade gelockert haben, erklären die israelischen Behörden, im Gazastreifen gab und gäbe es keine humanitäre Krise. Doch für Familienoberhäupter wie Amal Sahrif sind es tagtäglich Kampf und Herausforderung, genug Essen auf den Tisch zu bringen. Seit dem Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte Ende Mai betonen die Israelis immer wieder, es sei überflüssig, das abgeriegelte Gebiet auf diesem Weg mit Hilfsgütern beliefern zu wollen. Was sich auf den Märkten türmt – Früchte, Gemüse, Nüsse, Süßigkeiten, sogar geschlachtete Hasen – ist für die meisten in Gaza-City oder Rafah unerschwinglich. Es verschleiert die Komplexität des Gemäldes, auf dem Armut, Schattenwirtschaft, Depression und wachsender Ärger einer Bevölkerung auszumachen sind, die sich einer Kontrolle ihres Alltags durch die Israelis zu fügen hat.
Was nach Gaza hinein darf und was hinaus, ändert sich laufend nach unerklärlichen und unberechenbaren Kriterien. Für die Einwohner ist es schwer nachvollziehbar, weshalb Koriander draußen bleiben muss und Zimt hinein darf, weshalb Kinderspielzeug und Ersatzteile für Autos tabu sind, Baustoffe erst recht.
Von Granaten zermahlen
„Vor zwei Wochen wurden Kaffeebohnen verboten“, erzählt Raed Fatouh, der für die Koordination mit den Israelis an den Grenzübergängen zuständig ist. „Ich rief an, und sie erklärten mir, sie könnten Bohnen nicht mehr erlauben, nur noch gemahlenen Kaffee.“ Zur Begründung hieß es, die Bohnen müssten gemahlen werden, und das wiederum lasse sich als „industrieller Prozess“ klassifizieren. „Mit Butter ist es Dasselbe. Wenn sie als 20-Kilo-Platte kommt, dann ist sie verboten, weil sie geschnitten werden muss. Kleine Butterpakete hingegen sind erlaubt. Alles, was einem Kleinunternehmen Arbeit beschaffen könnte, ist verboten.“
Acht von zehn Einwohnern des Gaza-Streifens sind von Lebensmittelhilfe abhängig – bei den UN-Abgabestellen in Gaza-City wurde Ende Mai wesentlich mehr verteilt als in Lebensmittelgeschäften umgesetzt. Vor einem solchen Versorgungsdepot der Vereinten Nationen wartet die 22-jährige Dina Aldan mit anderen Frauen im schwarzen Jilbabs und hält ihre Lebensmittelkarten und ihr fünf Monate altes Baby fest. Durch eine Luke wird ihr für die fünfköpfige Familie eine durchsichtige Plastiktüte zugeworfen: zwei Flaschen Speiseöl, drei Kilo Zucker, drei Kilo Reis, eine Tüte Milch und eine Dose gepökeltes Lammfleisch. Für den 30-Kilo-Sack Mehl, der ihr zustehen würde, ist Dina Aldan zu schwach. „Ich bekomme diese Ration alle drei Monate, aber sie hält nur eine Woche“, erzählt sie. „Wenn ich andere Lebensmittel will, muss ich zum Markt gehen, aber dort ist alles teuer und die Qualität schlecht. Vieles bekommt man überhaupt nicht.“ Ihr Ehemann kann als Glaser im Schnitt nur noch an jedem zehnten Tag arbeiten. Das Haus der Familie wurde während des Gaza-Krieges vor anderthalb Jahren von Granaten zermahlen. Die jetzige Miete für das neue Domizil lässt die Familie ausbluten.
Dina Aldan steht wie viele vor der Frage, ob sie ihre Hilfsgüter nach Hause schleppen oder an die Händler verkaufen soll, die vor dem Ausgabe-Punkt warten. Die UN-Helfer sagen, sie würden nicht überwachen, was die Empfänger mit den Hilfsgütern täten. Man sehe ja, dass die Armen eine ganze Reihe von Bedürfnissen nicht abdecken könnten. „Der schleichende Tod der Wirtschaft im Gaza-Streifen bedeutet, dass einige unter den Ärmsten auf ein mittelalterliches Tauschsystem zurückgeworfen sind und überhaupt nicht mehr an Geld herankommen“, meint Chris Gunness, Sprecher für die Gaza-UN-Mission
Anstelle der einst funktionierenden legalen Wirtschaft ist der illegale Import von Gütern getreten, der durch Tunnel aus Ägypten einsickert. Von diesem Parallelmarkt wird angenommen, das er etwa 20.000 Menschen beschäftigt und auf den ersten Blick einige Bedürfnisse der Bevölkerung ganz gut abdeckt. Die israelische Regierung verweist darauf, dass Magazine im Gaza-Streifen eine große Produktauswahl zu bieten hätten. Kunden und Ladeninhaber erzählen eine ganz andere Geschichte. In einem gut sortierten Lebensmittelgeschäft in Gaza-City brütet der 62-jährige Abu Hassan über seiner Buchhaltung. Der Laden ist seit 50 Jahren in Familienbesitz, doch die Geschäfte liefen noch nie so schlecht. „Wie viele Kunden haben mein Geschäft betreten, seit Sie hier sind?“ fragt er. „Kein einziger!“ Die Tunnel-Ware sei sehr teuer, die Qualität oft schlecht. Er zeigt auf eine Packung mit ägyptischen Keksen, die in der Verpackung zerbröselt sind. Abu Hassan musste die gesamte Sendung wegwerfen. Auf eine Entschädigung durch die Händler darf er nicht rechnen. „Ich muss das hinnehmen und weiterhin im Voraus bezahlen.“
Unweit von Hassans Laden zeigt der 42-jährige Walid Naim auf die HDTV-Geräte, Rührwerke, Mikrowellen, Waschmaschinen, Gefrierschränke, Plätteisen, Nähmaschinen und Staubsauger, die sich in dem Geschäft stapeln, das seine Familie führt. „Alles kommt aus dunklen Welten“, meint er, während eine winzige Porzellantasse mit arabischem Kaffee vor ihm steht. „Wir konnten früher gut verdienen, aber jetzt haben die Leute kein Geld mehr, um einzukaufen.“ Dass in Gaza-City immer wieder der Strom ausfällt, sei nicht eben hilfreich. „Warum sollte jemand Elektrogeräte kaufen, wenn er sie nicht gebrauchen kann?“ Walid zuckt mit den Achseln. „Die Welt versteht die Gaza-Krise nicht“, brüllt sein jüngerer Bruder Wissam gegen den Lärm der Generatoren an, der zum Soundtrack der Stadt gehört. „Die ganze Welt bestraft uns.“
Gaza ist nicht Darfur
Im Zuge des Aufruhrs um den Angriff auf die Hilfsflotte hörte man immer wieder den Vorschlag, Israel könne die Blockade doch lockern und mehr Konvois mit Nahrungsmittel nach Gaza lassen. Aber Abriegelung und Abschottung – das sind nicht nur ein paar Säcke Mehl und ein paar Flaschen Speiseöl, so wichtig die auch sein mögen. Das Gesundheitssystem ist nach Angabe der UNO in einem desolaten Zustand, der Mangel an medizinischem Equipment hat einen kritischen Punkt erreicht. Die UNO schafft es nicht, die Schulen, die im Gaza-Krieg 2009 zerstört wurden, wieder aufzubauen und ausreichend neue Gebäude für eine explosiv wachsende Bevölkerung zu errichten.
Die Folgen eines Lebens unter Verschluss sind ohnehin nicht nur materieller Art, auch psychologisch fühlen sich die Einwohner isoliert. „Wir befinden uns mental in einem Belagerungszustand – wir sind vom Rest der Welt abgeschnitten“, meint der Ökonom Omar Shaban. Experten und Hilfsorganisationen widersprechen der israelischen Einschätzung, dass im Gaza-Streifen keine humanitäre Krise mehr bestehe. Im Gegenteil. „Die Leute stellen sich Gaza gern wie Dafur vor“, erklärt Shaban. „Doch das ist etwas ganz anderes. Es geht hier nicht um die Angst vor dem Hungertod, aber die Anzahl derer, die sich viele Nahrungsmittel nicht mehr leisten können, nimmt zu. So sieht eine humanitäre Krise aus.“ Chris Gunness teilt dieses Urteil für die Vereinten Nationen. „Die Krise in Gaza ist mit der Krise in der südlichen Sahara nicht vergleichbar. Der Zustand dieses Terrains hat politische Ursachen. Und die haben gravierende humanitäre Auswirkungen.“
Harriet Sherwood schreibt für den Guardian über den Nahen Osten.Übersetzung: Christine Käppeler
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