Ein paar Sekunden nur

Afghanistan Die Morde an Zivilisten durch einen US-Soldaten zeigen, wie sehr die Preisgabe von Werten der Zivilisation ans Barbarische das Leben unter einem Besatzungsregime prägt

Die Ermordung afghanischer Zivilisten durch einen Soldaten der US-Armee hat einmal mehr die bleibende Wahrheit dieses über zehn Jahre alten Konfliktes in Erinnerung gerufen: Die jahrelangen Anstrengungen Tausender unter Aufwendung von Milliarden Dollar können in ein paar Sekunden durch die Taten eines einzelnen, von Hass verblendeten Menschen zunichte gemacht werden.

Diese Wahrheit gilt in doppeltem Sinne: Die immer häufigeren Morde an NATO-Ausbildern durch Afghanen, die sie betreuen sollten, hat ebenso viel dazu beigetragen, das Vertrauen in das Verhältnis zwischen der afghanischen Regierung und ihren westlichen Unterstützern zu untergraben wie das Video mit den auf die Leiche von Taliban urinierenden Marines oder die gedankenlose Entscheidung, in einem US-Militärstützpunkt Koran-Ausgaben einfach zu verbrennen.

Komplott gegen die Nation

Sechs Amerikaner wurden bei den wütenden Demonstrationen gegen die Koran-Verbrennungen getötet, was die Zahl der in den vergangenen fünf Jahren getöteten NATO-Ausbilder auf mindestens 75 erhöht. Zwei der jüngsten Opfer waren hochrangige Offiziere, die im Innenministerium als Berater tätig waren. Sie wurden am 25. Februar in ihren Büros in der streng bewachten Zentrale des Ministeriums tot aufgefunden. Man hatte ihnen von hinten in den Kopf geschossen. Sämtliche Militärberater wurden unverzüglich abgezogen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ohne Leibwächter und bewaffnete Eskorte wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Die neue Welle der Entrüstung über den Amoklauf des US-Soldaten am 11. März, unter dessen Opfern drei Frauen und neun Kinder gewesen sind, wird diese Rückkehr noch weiter verzögern.

Die US-Botschaft in Kabul veröffentlichte schnell eine Erklärung auf Paschtu, Dari und Englisch, in der sie ihr Beileid bekundete und der afghanischen Bevölkerung versicherte, „die Person oder die Personen, die für diese Tat verantwortlich sind, zu identifizieren und vor Gericht zu bringen“. Dies dürfte jedoch wenig gegen die Verbreitung der Verschwörungstheorie ausrichten, die Amerikaner und ihre Alliierten hätten ein Komplott gegen die afghanische Nation geschmiedet. Nur wenige Afghanen glauben, die Koran-Verbrennung im Februar sei unabsichtlich geschehen. Angesichts der steigenden Spannungen kam es vielen vor wie eine kalkulierte Beleidigung und trug bestimmt mehr dazu bei, den Aufstand anzuheizen, als 100 Angriffe der Taliban.

Dies führt dazu, dass eine vor Monaten noch einigermaßen plausibel wirkende Strategie jetzt nahezu vergeblich scheint: Die USA und ihre Verbündeten von der International Security Assistance Force (ISAF) hatten geplant, sich in den nächsten zwei Jahren von ihren Einsatzverpflichtungen zurückzuziehen und neben eng eingegrenzten Anti-Terror-Operationen mit dem Ziel, jedes Wiedererstarken Al-Qaidas zu verhindern, eine „Ausbildungs- und Beraterrolle“ einzunehmen.

Das gewaltige Vertrauensdefizit, das aus sich selbst heraus mit jedem Tag größer wird, wirft aber ernsthaft die Frage auf, ob eine solche "train and advise"-Strategie sich wirklich noch realisieren lässt. Unterdessen gefährdet das Fehlen eines Abkommens über strategische Partnerschaft zwischen Washington und Kabul jede zukünftige Anti-Terror-Operation. Beide Staaten haben zwar mehr schlecht als recht einen Deal über die Frage zustande gebracht, wer wie über afghanische Gefangene zu befinden hat. Das problematischere Thema – die nächtlichen, von den USA geführten Razzien in mutmaßlichen Hochburgen der Aufständischen – wurde hingegen außen vor gelassen. Zur Frage der US-Basen in Afghanistan erklärte Karsai gerade, eine Entscheidung hierzu werde bis 2013 aufgeschoben.

Drogen und Waffen

So sieht die düstere Realität aus, der Barack Obama und David Cameron ins Gesicht blicken müssen, wenn sie sich zu Beginn dieser Woche in Washington zusammensetzen, um über Afghanistan zu beraten. Die Geschichte, die beide in ihren jeweiligen Ländern über das Ende des Krieges in Afghanistan erzählt haben, ist durch die Opferzahlen unter ihren Soldaten und die täglichen Schlagzeilen über die scheinbar unverbesserliche Bestechlichkeit der Regierung Hamid Karsais schonungslos zunichte gemacht worden. So berichtete das Wall Street Journal jüngst davon, die von den USA finanzierte afghanische Luftwaffe fliege mit ihren Flugzeugen Drogen und illegale Waffen durchs Land.

Die Unterstützung für den Krieg schwindet in beiden Ländern rapide und in beiden stellen Kommentatoren die Frage, was die weitere Präsenz westlicher Truppen unter großen Kosten an Menschenleben und knappen Ressourcen den Afghanen denn überhaupt noch nutze. Und auch in Regierungskreisen – egal ob in Washington, London oder Paris - finden sich nur noch äußerst wenige, die eine Verbesserung der Lage noch für möglich halten. Vielmehr geht es jetzt um die Frage, wie der Westen dazu beitragen kann, dass die Lage sich nicht dermaßen verschlechtert, dass sie völlig unkalkulierbar wird. Die Sicherheit an die Afghanen zu übergeben, ohne dass ein alles erfassender Bürgerkrieg ausbricht, bei dem die Todeszahlen in die Zehn- oder Hunderttausende gehen, würde derzeit bereits als Erfolg angesehen.

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Übersetzung Holger Hutt
Geschrieben von

Julian Borger | The Guardian

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