Umweltbewegung Vor 50 Jahren brachte Rachel Carson mit „Der stumme Frühling“ das ökologische Bewusstsein in die Welt. Leider ist das Buch noch heute hochaktuell
Rachel Carson war als höflich und bescheiden bekannt – wem die Wahrheit nicht passte, sah in ihr ein Hysterikerin
Foto: Alfred Eisenstaedt/Time & Life Pictures/Getty Images
Nahe eines Baches im Südosten Englands, 1961: Der Vogelbeobachter J.A. Baker wird Zeuge einer bewegenden Szene. „Ein Fischreiher lag im vereisten Gestrüpp. Seine Flügel waren am Boden festgefroren, seine Augen offen und lebendig, der Rest des Körpers reglos. Als ich mich näherte, sah ich, wie das Tier mit aller Kraft zu fliegen versuchte. Es konnte nicht. Ich erlöste den Vogel.“
Das Leiden des Tieres hatte keine natürliche Ursache, und sein Schicksal blieb kein einzelnes. In jenem Jahr wurden in Großbritannien Tausende tote Vögel gefunden: Lerchen, Moorhühner, Gold- und Buchfinken, Sperber, Nebelkrähen, Rebhühner, Fasane, Holztauben. „Es war eine regelrechte Schwemme“, sagt Martin Harper, Naturschützer
#252;tzer der Royal Society for the Protection of Birds (RSPB). Und das Sterben beschränkte sich nicht auf Großbritannien. In den USA etwa verschwanden die Weißkopfseeadler. Forscher stellten fest, dass die Tiere kaum Eier legten oder sie nicht ausbrüteten. Mit den Vögeln der westlichen Hemisphäre stimmte etwas nicht.Man spekulierte über die Ursachen, niemand kannte die Antwort – bis auf Rachel Carson. Sie hatte sich in jenem Jahr in ihr Ferienhaus zurückgezogen, um in einem Buch zu erklären, woran all die Vögel starben. Carson war überzeugt, dass synthetische Pestizide wie DDT die Nahrungsketten vergiftet hatten. „Fast überall, ob auf Farmen, in Gärten, Wäldern oder Wohnungen, werden heute Sprays, Pulver und Aerosole eingesetzt“, schrieb die Biologin. „Chemische Gifte, die unterschiedslos alle Tiere töten, gute wie schlechte. Sie bringen den Gesang der Vögel zum Verstummen, bedecken die Blätter mit tödlichen Belägen und reichern sich im Boden an – und all das nur, um ein paar Unkräuter oder Insekten loszuwerden.“ Vor ihr hatten schon andere Experten vermutet, dass moderne Pflanzenschutzmittel eine schwer einschätzbare Bedrohung darstellen. Aber keiner von ihnen konnte so gut schreiben wie Carson.Kritik an industrieller PraxisIm Sommer 1962 veröffentlichte der New Yorker Carsons Text als Serie, im September erschien Silent Spring – Der stumme Frühling als jenes Buch, das bis heute eine der wirkungsvollsten Kritiken industrieller Praktiken darstellt und weithin als das Werk gilt, das erstmals ein breites ökologischen Bewusstseins in den USA und Europa geschaffen hat. Friends of the Earth und Greenpeace führen ihre Wurzeln direkt auf Der stumme Frühling zurück. „In den Sechzigern fingen wir gerade erst an zu verstehen, in welchem Maße wir imstande sind, die Natur zu zerstören“, sagt der ehemalige Friends-of-the-Earth-Direktor Jonathon Porritt heute. „Rachel Carson war die erste, die diese Bedenken auf eine Weise artikulierte, die die Gesellschaft auch erreichte.“Rachel Carson besaß eine seltene Kombination von Fähigkeiten: Sie war eine ebenso fähige Meeresbiologin wie Autorin, ihr Stil war präzise, gleichzeitig aber gefühlvoll und lebendig. Allerdings ist Der Stille Frühling, anders als ihre übrigen Bücher, doch überraschend schwer zu lesen. „Es ist dicht und äußerst fachsprachlich gehalten – kein Buch, das man am Strand liest“, sagt der Ornithologe Conor Mark Jameson, Autor von Silent Spring Revisited, in dem er Carsons Vermächtnis aus Sicht der Gegenwart neu in Augenschein nimmt. Carson wollte ja weit mehr, als nur dem Pestizid-Einsatz ein Ende zu setzen. „Sie hatte beschlossen, das in den USA damals dominante Paradigma des wissenschaftlichen Fortschritts infrage zu stellen“, sagt ihr Biograf Mark Hamilton Lytle. „Das war mutig. Selbst legitime Kritik an der Regierung war in den USA damals ein riskantes Unterfangen.“„Wissenschaft und Technik wurden als Retter der freien Welt und als Garanten des Wohlstands angesehen“, bestätigt Linda Lear, die ebenfalls eine Biografie Carsons verfasst hat. „In Der Stumme Frühling setzt sie die Wissenschaft dem kritischen Blick der Öffentlichkeit aus und macht deutlich, dass die Forscher bestenfalls ihre Hausaufgaben nicht gemacht und schlimmstenfalls mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten hatten.“Es handelte sich bei dem Buch also nicht nur um eine ökologische Warnung, sondern um einen Angriff auf den Paternalismus der Wissenschaft nach dem Krieg – auch wenn man vielen Wissenschaftlern zugutehalten muss, dass sie Carson mit Hintergrundmaterial versorgten, um den Reaktionen der Industrie vorauszugreifen.„Eine kinderlose alte Jungfer“Und die Chemiegiganten Amerikas enttäuschten die Erwartungen nicht. Als sie mit einer Klage gegen Carson, den New Yorker und Carsons Verleger Houghton Mifflin keinen Erfolg hatten, initiierten sie eine 250.000-Dollar-Kampagne, um Carson und ihre Botschaft zu vernichten. Man unterstellte ihr Hysterie und Unwissenschaftlichkeit. Ein Ex-US-Landwirtschaftsminister fragte gar, warum „eine kinderlose alte Jungfer sich denn so sehr für Genetik“ interessierte. Eines ihrer schlimmsten Vergehen war offenbar, dass sie den ihr zugewiesenen Platz als Frau verlassen hatte.Obwohl sie an Brustkrebs erkrankt war und unter den Folgen der Bestrahlung litt, wehrte Carson sich. Öffentlich kritisierte sie die Verbindungen, die sich zwischen Wissenschaft und der Industrie etabliert hatten. „Wenn eine wissenschaftliche Organisation spricht, wessen Stimme hören wir dann?“, fragte sie. „Die der Wissenschaft oder die der Industrie, die sie unterstützt?“ Eine Frage übrigens, die heute so aktuell ist wie vor 50 Jahren.Die Aufregung hatte zur Folge, dass Der stumme Frühling sich bis zu Carsons frühem Tod im Jahr 1964 eine Million mal verkaufte. Gedrängt, seine Meinung über das Buch zu äußern, bekundete Präsident John F. Kennedy sein Interesse und wies das wissenschaftliche Beratergremium der US-Regierung schließlich an, Carsons Kritik zu prüfen. Der abschließende Bericht bestätigte ihre Ergebnisse. Der ausgiebige Einsatz von Pestiziden führt dazu, dass sich Gifte in der Nahrungskette ansammeln und stellt damit auch eine konkrete Gefahr für den Menschen dar. Zehn Jahre und zwei Präsidenten später wurden die Produktion und der Einsatz von DDT in der Landwirtschaft in den USA verboten.Carsons Gegner können das nicht vergessen. Noch immer findet sich auf Internetseiten (von denen viele von rechten Industrie-finanzierten Institutionen betrieben werden) die Behauptung, die Biologin sei eine Massenmörderin. Mit den Todesfällen durch Malariaerkrankungen, die auf das Verbot von DDT zurückgingen und die man andernfalls unter Kontrolle gehabt hätte, habe sie mehr Menschen auf dem Gewissen als die Nazis. Der US-Klimatologe Michael E. Mann beschreibt die Strategie, „Symbolfiguren anzugreifen, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Wenn man sie mit genügend Dreck beworfen habe, müsse schließlich auch deren gesamtes Anliegen fragwürdig erscheinen.“ Dabei ist der Vorwurf des „Massenmords“ klar haltlos, wie Wissenschaftshistoriker wissen: DDT wurde nicht nur verboten, weil es sich in der Nahrungskette festsetzt, sondern auch weil die Mücken, auf die das Gift abzielt, Resistenzen gegen DDT entwickelten.Eine Botschaft bleibt ungehörtCarsons Warnungen sind noch heute aktuell, sowohl was die Gefahr von DDT und verwandter Chemikalien im Besonderen angeht als auch in Bezug auf die allgemeinen ökologischen Gefahren. 50 Jahre nach der Veröffentlichung von Der stumme Frühling stellt sich im Angesicht der Erderwärmung, des steigenden Meeresspiegels und zerfallender Korallenriffe aber die Frage, ob sich die Umwelt nicht in größerer Gefahr denn je befindet. „Heute erleben die Weltmeere jene Gräuel, den Der Stumme Frühling für das Festland beschrieben hat“, sagt der Ozeanograf Callum Roberts von der Universität York. „Die Meere sind die ultimativen Abfallgruben. Chemikalien werden aus dem Boden gespült und gelangen in die Flüsse. Eigentlich sollten sie sich am Meeresboden ablagern und dort bleiben. Der Fischfang hat aber eine solche Intensität erreicht, dass wir diese Gifte, DDT inbegriffen, permanent aufwühlen und sie wieder ins Wasser bringen.“ Und auch an Land hat sich die Lage keineswegs verbessert. Neonicotinoide für den Schutz von Saat- und Pflanzgut werden mit der Colony Collapse Disorder in Verbindung gebracht – einer Erkrankung, der 2007 allein 800.000 Bienenvölker zum Opfer gefallen sind (siehe Freitag 12/2011). In Asien wurden die Geier durch den Einsatz von Diclofenac ausgerottet. Wie Carson schrieb: „So ist der chemische Krieg niemals gewonnen, und in seinem Kreuzfeuer bleibt alles Leben auf der Strecke.“„Carson glaubte, dass wir ein Gleichgewicht zwischen uns und der Natur brauchen. Aber der Drang, die Welt in Macho-Manier zu beherrschen, scheint heute so stark zu sein wie 1962“, sagt Porritt. „Wir haben viel geringere Fortschritte gemacht, als wir damals hofften.“ Martin Harper vom RSPB sieht es ähnlich. „Es hat zehn Jahre gedauert, bis DDT verboten wurde, nachdem erwiesen war, welche Folgen es hat. Und so verhält es sich bis heute. Wenn Experten vor einer Chemikalie warnen, warten die Regierungen ab, bis der letzte Zweifel ausgeräumt ist. Dann fordern sie freiwillige Maßnahmen der Industrie. Und erst wenn das zu nichts führt, werden Verbote ausgesprochen – Jahre zu spät.“Was also ist Rachel Carsons Vermächtnis? Mehr als jeder andere hat sie dazu beigetragen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welches Potenzial zur ökologischen Zerstörung die Menschheit hat. Aber es ist klar, dass die Erde sich heute in einem weitaus schlechteren Zustand befindet als im Jahr 1962. Die Weltbevölkerung hat sich mehr als verdoppelt. Die Meere sind abgefischt, natürlicher Lebensraum zerstört und wildlebende Tiere getötet. „Der stumme Frühling hat eine klare und wichtige Botschaft formuliert: dass alles in der Natur mit allem zusammenhängt“, sagt Porritt. „Trotzdem haben wir diesen Gedanken nicht wirklich in vollem Umfang beherzigt oder seine Bedeutung nicht gänzlich verstanden. Ich denke, Carson wäre entsetzt.“Robin McKie ist Redakteur des ObserverÜbersetzung d. gekürzten Fassung: Holger Hutt
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