Die Gegner einer Gesundheitsreform haben nicht nur das Weiße Haus im Visier, sie erinnern sich auch eines altbewährten Buhmanns – der Gewerkschaften nämlich. Dabei waren die bislang alles andere als vehemente Parteigänger eines Wandels im US-Gesundheitssystem. Obwohl sie jetzt nach der Reform verlangen, waren US-Gewerkschaften in der Vergangenheit stets ein Bollwerk, um das System der privaten – vom Unternehmen mitgetragenen – Krankenversicherungen zu verteidigen. Sie tragen maßgeblich Verantwortung dafür, dass die Widerstände gegen ein wie auch immer geartetes staatliches Modell heute so groß sind.
Die Zugkraft einer arbeitgebergestützten privaten Gesundheitsversicherung resultiert für die organisierte Arbeiterschaft aus d
haft aus dem „Gewerkschaftsbonus“ (Union Difference) – einer besseren Bezahlung oder anderer Zusatzleistungen, mit denen die Gewerkschaften Anreize schaffen und Arbeiter zum Beitritt motivieren. Als Organisationsstrategie hat sich dies freilich kaum bewährt. Zum einen, weil Unternehmen, deren Mitarbeiter nicht gewerkschaftlich gebunden sind, ihrerseits immer wieder Löhne und Zusatzleistungen anheben, um den Anreiz für die eigene Belegschaft zu verringern, in die Gewerkschaften einzutreten. Zum anderen führen steigende Kosten im Gesundheitswesen dazu, dass die Leistungen im Krankheitsfall bei Verhandlungen mit den Unternehmen andere wichtige Punkte wie Löhne oder Arbeitsplatzsicherheit von der Agenda verdrängen. Mit anderen Worten: Arbeiter akzeptieren Nullrunden bei den Löhnen oder gar Kürzungen, nur um sich die Krankenversicherung zu erhalten.Obwohl sogar Andy Stern, Chef der größten US-Gewerkschaft für Angestellte im Gesundheitswesen (Service Employees International Union/SEIU) gegenüber dem Wall Street Journal das System der arbeitgeberfinanzierten Krankenversicherung für „tot“ erklärt und als „Relikt der Industriegesellschaft“ geißelt, fordern sein Verband und andere Gewerkschaften, auch künftig die Krankenversicherung bei Neueinstellungen in die Verträge zu schreiben. Deshalb werben sie dafür, die Option, wonach der Arbeitgeber Zusatzleistungen bezahlt, auf jeden Fall in das Gesetz für eine Gesundheitsreform zu übernehmen.Verschwörung der SowjetsDie Yale-Historikerin Jennifer Klein gibt in ihrem Buch For All These Rights: Business, Labor, and the Shaping of America's Public-Private Welfare State (Politics and Society in Twentieth Century America)" target="_blank">For All These Rights detailliert Auskunft über die komplizierte Geschichte staatlicher und privatwirtschaftlicher Modelle, die gefunden, kreiert und praktiziert wurden, um die Arbeiterschaft im Krankheitsfall abzusichern. Zwar unterstützte der Gewerkschaftsbund Congress of Industrial Organisations (CIO) bereits 1941 eine einheitliche staatliche Krankenversicherung. In der Realität wandten sich die meisten Einzelgewerkschaften aber an die Unternehmen, um ihre Mitglieder für den Krankheitsfall zu schützen. Die Praxis, dass Gewerkschaften mit den Arbeitgebern um eine Krankenversicherung feilschen, etablierte sich während des Zweiten Weltkriegs, als das National War Labour Board (Behörde für Nationale Kriegswirtschaft) entschied, dass kriegsbedingt eingefrorene Löhne nicht zu verminderten Sozialleistungen der Unternehmen führen dürften.Als 1946/47 eine Streikwelle die Vereinigten Staaten erfasste, erkannten die Arbeitgeber die Vorteile einer derart festgelegten Krankenversicherung. Es ließ sich wunderbar verhindern, dass die Versicherung zum Verhandlungsgegenstand in den damaligen Arbeitskämpfen wurde. Außerdem ließ sich damit die Arbeitsdisziplin heben, weil der Zugang zur finanziellen Vorsorge für den Krankheitsfall an den Erhalt des Arbeitsplatzes geknüpft war.Die Arbeiterschaft setzte in jener Zeit Hoffnungen in Pläne von Präsident Truman, ein staatliches Gesundheitssystem auf den Weg zu bringen. Als dann jedoch eine republikanische Mehrheit im Kongress alles kassierte, was an einschlägigen Gesetzesentwürfen vorlag, folgten die meisten Gewerkschaften der Strategie der Automobil- und Minenarbeiter und handelten auf eigene Faust Gesundheitsleistungen mit den Arbeitgebern aus. Das Gewerkschaftsgesetz von 1947 rief den Taft-Hartley-Gesundheitsfonds ins Leben, der bis heute zu gleichen Teilen von Gewerkschaftern und Arbeitgebern verwaltet wird. Er trägt im Übrigen die Namen zweier republikanischer US-Politiker, in deren Augen sämtliche Pläne für eine staatliche Krankenversicherung stets eine Verschwörung der Sowjets waren.Vergeltung ist denkbarDie Gewerkschaften kämpften noch in den siebziger Jahren für mehr Zusatzleistungen bei Augen- und Zahnbehandlungen oder verschreibungspflichtigen Medikamenten. Doch begannen die Kosten im Gesundheitswesen in einem Maße zu steigen, dass einer arbeitgeberfinanzierten Krankenversicherung mehr und mehr der Boden entzogen wurde.Heute sind die US-Gewerkschaften zu einer Einsicht gelangt, die sich in anderen Ländern längst durchgesetzt hat: Eine gesetzliche Krankenversicherung ist privat finanzierten Modellen vorzuziehen. Das hindert die Gewerkschaften freilich nicht daran, weiter auf zwei Hochzeiten zu tanzen und zu verlangen: Es solle sowohl Obamas „staatliche Option“ als auch einen Auftrag an die Arbeitgeber zur Ausweitung des Leistungskataloges der Privatversicherungen geben – Steuerfreiheit für bereits existierende Leistungen inklusive. Ob es alle drei Forderungen letzten Endes in den Gesetzestext schaffen – das bleibt eine offene Frage. Gleiches gilt für mögliche Vergeltungsmaßnahmen, die sich die Gewerkschaften vorbehalten haben, sollte es den konservativen Blue-Dog-Demokraten in Washington gelingen, eine wirkliche Reform zu verhindern.Übersetzung: Holger Hutt