Labour ist laut Umfragen auf der Überholspur. Nach Theresa Mays desaströsen Pleiten beim Umgang mit dem Brexit ist die Premierministerin seit gut zwei Wochen gezwungen, mit Jeremy Corbyn zu verhandeln, um einen von beiden Parteien getragenen Deal zu finden. Die Alternative wären Neuwahlen, ein Risiko, das bei den Konservativen niemand eingehen möchte.
Labours derzeitige Stärke ist aus traditioneller britischer Politikperspektive nicht unmittelbar einleuchtend. Corbyn als Parteichef, so deklamieren die Tories, sei ein „Marxist“, ein Mann mit angeblichen Verbindungen zur nordirischen Republikanischen Armee IRA. Dass er für den tschechischen Geheimdienst arbeite, wird Corbyn absurderweise ebenfalls vorgeworfen. Seit dem Verzicht von Ed Miliband auf den
nd auf den Parteivorsitz nach der enttäuschenden Unterhauswahl im Mai 2015 hat Corbyn fraglos dafür gesorgt, dass Labour mit seiner Programmatik ein gutes Stück links von dem steht, was als Mainstream gilt. Nationalisierung und Umverteilung sind auf die Agenda zurückgekehrt, was zur Folge hat, dass nicht eine einzige nationale Zeitung derzeit mit der Labour-Führung sympathisiert. Überdies hat die Partei in den eigenen Reihen mit gespaltenen Lagern in Sachen Brexit zu kämpfen. Vor Kurzem sind neun Abgeordnete des rechten Flügels ausgetreten, von denen sich acht ihren einstigen Wahlrivalen, zumeist Konservativen, angeschlossen haben. Trotzdem gibt es kaum Zweifel: Würde jetzt eine Wahl abgehalten, hätte Labour gute Chancen, zu triumphieren.Gegen die NATO und diese EUVerständlich wird das nur, wenn man sich anschaut, was in weniger als vier Jahren aus Labour geworden ist. Als Corbyn den Vorsitz übernahm, schien es unwahrscheinlich, dass sich der „Corbynismus“ übermäßig lange halten würde. Die Begeisterten, die der neue Vorsitzende in die Partei zog, waren keine erfahrenen Kämpfer. Der Parteiapparat – darunter das National Office und das für den Kurs zuständige National Executive Committee (NEC) – war weiterhin in der Hand des konservativeren Parteiflügels, und die Labour-Fraktion im Unterhaus hielt sich deutlich rechts von Corbyn. Selbst die Gewerkschaften, die den neuen Frontmann durchaus hofierten, waren nicht so radikal wie er. Schließlich gab es eine Zeit, da stand Corbyn gegen die NATO, die atomar bestückten Trident-Raketen und eine aus seiner Sicht nicht reformierbare EU. Diesen Maximalismus musste er aufgeben, um Gewerkschafter und Parlamentarier zu beschwichtigen. Zudem betrieben die Arbeitnehmervertreter beim Klimawandel Klientelpolitik nach dem Credo: „Die Arbeitsplätze gehen vor!“ Insofern ließ sich schwer sagen, wie viel Corbynismus mit und in Corbyn überleben würde. Doch unterschätzten die Gegner seine politische Kohärenz.Weit entfernt davon, ein Neuaufguss der 1970er Jahre zu sein, überlebt der Corbynismus bis heute, weil er die Konflikte des 21. Jahrhunderts reflektiert. Seine Strategie ist es, den Staat als ökonomischen Akteur neu zu erfinden. Dabei würde ein Zurückdrehen der Sparpolitik allein nicht die strukturellen Schwächen des britischen Kapitalismus heilen. Diese bestehen in den regional weit auseinanderdriftenden Investitionen, im Kollaps der Infrastruktur, in der übermäßigen Abhängigkeit von der Finanzwirtschaft und in einem dysfunktionalen Wohnungssystem. Labour will den Staat nutzen, um entstehende grüne Industrien zu fördern, um eine geordnete Dezentralisierung von Wirtschaftsmacht – jenseits von London – und eine Umverteilung von sozialer Macht zugunsten der Arbeiterschaft zu bewirken. Alles andere, von der Nationalisierung öffentlicher Versorgungsbetriebe bis hin zu Ausgaben für eine kostenlose Bildung, ist davon abhängig. Aus dieser Programmatik resultiert Labours Position, die auf einen „weichen Brexit“ zielt und natürlich kaum jemandem gefällt. Nur wäre – was die Partei an Reformen anstrebt – gefährdet, würden entweder die Brexit-Befürworter oder die Brexit-Gegner bewusst verprellt. Ohnehin ist die hier skizzierte Reformagenda an die makroökonomische Bedingung gebunden, wirtschaftliche Kollateralschäden des EU-Ausstiegs gering zu halten. Daher setzt Labour auf Vorsicht, erst recht in den Verhandlungen mit Theresa May.Der Corbynismus konnte sich stabilisieren, weil er – im Gegensatz zu allen Mainstream-Alternativen – Lösungen anbietet, die der Größe zu lösender Probleme gerecht werden. Deshalb scheiterten bisher auch alle Versuche, Corbyn als Parteiführer zu stürzen. Seine Labour-Linke profitiert davon, den Parteiapparat übernommen zu haben, ihre Politik auf Parteitagen schrittweise durchzusetzen und eine lebendige politische Kultur geschaffen zu haben. Auch dadurch steckt die Partei in keiner Wahlkrise mehr, verfügt sie über ein Mitgliederreservoir, das im April 2018 mehr als 540.000 Personen umfasste und seither noch gewachsen ist. Es handelt sich um eine völlig andere Partei als im September 2015, da Jeremy Corbyn zum Parteichef gewählt wurde. Durch den Linksruck ist Labour zu einem mächtigeren Wahlmotor geworden als in den Jahrzehnten zuvor.Schwäche auf der StraßeEines hat der Corbynismus hingegen nicht erreicht, was anfangs wie seine größte Stärke wirkte: Es ist nicht gelungen, Labour in eine soziale Bewegung zu verwandeln. Angesichts der Krise der Mainstreampolitik war Corbyn davon überzeugt, dass die wahre politische Energie in Graswurzel-Kampagnen steckt, die sich die Straße erobern. Ironischerweise hat der Corbynismus mehr dazu beigetragen, die traditionelle Parteipolitik zu erneuern, als die Kraft einer sozialen Bewegung zu stimulieren. Die Gewerkschaften konnten zwar an Macht in der Partei zulegen, leiden aber weiter unter Mitgliederschwund und der niedrigsten Zahl an Streikteilnehmern seit dem 19. Jahrhundert. Nur ein kleiner Teil der Mitgliederbasis lässt sich zuverlässig mobilisieren. Angesichts der unerbittlichen, mächtigen und gut organisierten Gegner, denen der Corbynismus gegenüberstehen wird, sollte er an die Regierung kommen, ist das eine ernsthafte Schwäche.Placeholder authorbio-1
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