Das Abgleiten von der Zivilisation in die Barbarei geht schneller, als wir uns vielleicht vorstellen mögen. Jedes Gewaltverbrechen beschmutzt das Ideal einer zivilisierten Gesellschaft, doch wenn dieses Verbrechen sich gegen diejenigen richtet, die friedlich dazu bestimmt wurden, die Regeln zu bestimmen, wiegt der Affront noch schwerer.
Der Mord an Jo Cox, die auf offener Straße angeschossen und erstochen wurde, ist zuallererst eine zutiefst verabscheuungswürdige und niederträchtige Tat. Sie war die Mutter zweier kleiner Kinder, die nun ohne sie aufwachsen müssen. Der Mord ist aber auch ein Angriff auf die Demokratie, auf sehr konkrete Weise. Gewalt gegen Abgeordnete kommt in Großbritannien zum Glück nur selten vor. In der jüngeren Geschichte wurden nur drei Parlamentarier ermordet: Airey Neave, Tony Berry und Ian Gow, alle von irischen Republikanern. Mit Nigel Jones und Stephen Timms wurden zwei weitere schwer verletzt, Timms durch eine Frau, die ihre Tat mit ihrer Empörung über den Irakkrieg begründete. Unabhängig von den Gründen ist ein Angriff auf einen Parlamentarier immer auch ein Angriff auf das Parlament. Das wurde im Mord an Jo Cox so deutlich wie nie zuvor.
Die Abgeordnete, der die Bürgerinnen und Bürger des Wahlkreiseses Batley and Spen anvertraut hatten, sie zu repräsentieren, hatte gerade eben noch ihre Pflicht erfüllt: die praktischen Probleme eben dieser Bürger in einem Wahlkreisbüro zu lösen. Wer sie zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort angreift, richtet seine Waffe auf alles, worauf die Briten zu Recht stolz sind.
Jo Cox war aber nicht nur eine Abgeordnete, die ihre Pflicht erfüllte. Sie war eine Abgeordnete, die von einem Ideal angetrieben wurde. In ihrer Antrittsrede im britischen Unterhaus erklärte die ehemalige Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation so eloquent wie nur möglich, worin dieses Ideal bestand: „Unsere Gemeinden haben sich durch den Zuzug von Einwanderer vergrößert“, erklärte sie, „Seien es irische Katholiken oder Muslime aus Indien oder Pakistan, vorwiegend aus Kaschmir. Während wir stolz auf unsere Vielfalt und unsere Unterschiede sind, überrauscht mich doch jedes Mal, wenn ich durch meinen Wahlkreis reise, aufs Neue, dass wir viel mehr gemeinsam haben, als uns trennt.”
Kann es eine humanere Vorstellung von einer Gesellschaft geben als eine, in der Menschen sich in ihrer Verschiedenheit wohlfühlen können? Und kann es einen anständigeren Grundsatz geben, als den, zuerst auf das zu blicken und das zu betonen, was wir als Menschen alle gemeinsam haben, anstatt danach zu suchen, was eine Gruppe von der anderen unterscheidet? Wenn diese Ideale als Multikulturalismus bezeichnet werden, geschieht dies oft in der Absicht, sie zu diskreditieren. Doch das ändert nichts daran, wie wertvoll und kostbar sie sind. Diese Ideale haben Jo Cox dazu gebracht, sich unermüdlich für die Menschen einzusetzen, die in Syrien schreckliche Gewalt erfahren haben und vertrieben wurden. Es schmerzt zutiefst, wenn man sich klarmacht, dass sie für diese Ideale sterben musste.
Die Polizei untersucht Berichte, nach denen ihr Mörder während des Angriffs „Britain first“ gerufen haben soll. Das ist nicht nur eine chauvinistische Parole, sondern der Name einer rechtsradikalen Partei, deren Kandidat für das Amt des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan voller Abscheu und sektiererischer Empörung darüber den Rücken zuwandte, dass eine großartige, kosmopolitische Stadt einen Moslem zu ihrem Oberhaupt bestimmt hat. Die Brutalität, mit der die Tat ausgeführt wurde, sollte Jo Cox noch im Tod verachten. Der Mord an ihr könnte aber durchaus dazu führen, dass andere sich in ihrer Ansicht bestätigt sehen, dass manche Menschen weniger wert sind und es daher legitim ist, sie anzugreifen und zu töten. Rassismus und Islamophobie des Westens sind das Spiegelbild der Ideologie, mit der Daesh und al Qaida ihre Anhänger rekrutieren und diese dazu überreden, sich Sprengstoffgürtel umzubinden und zu sterben um zu töten.
Wenn die Situation weiter außer Kontrolle gerät, steuern wir auf eine Volksabstimmung über Einwanderung und Einwanderer zu. Der Ton ist schon jetzt polarisierend und hasserfüllt. Am Donnerstag hat Nigel Farage ein Plakat vorgestellt. Im Hintergrund eine lange Schlange drängender Menschen auf der Flucht. Die Botschaft: “Die EU lässt uns im Stich.“ Die Schlagzeile: “Breaking point – Belastungsgrenze.” Die Zeit, in der man glauben konnte, dass die Europhoben mit Fakten erreicht werden könnten – wie etwa der Tatsache, dass eine Flüchtlingskrise, die von Syrien und Nordafrika ausgeht, kaum der EU angelastet werden kann oder die unbequeme Tatsache, dass die Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union abhängen – sind vorbei. Dennoch hätte man noch Hoffnung haben können, dass selbst Leute, die die Wahrheit gar nicht wissen wollen, nicht so weit gehen würden, die humanitäre Krise unserer Zeit zu instrumentalisieren und gegen die Opfer von Krieg und Vertreibung zu hetzen, um die Wähler davon zu überzeugen, es sei besser, der Welt einfach den Rücken zuzuwenden.
Der Idealismus von Jo Cox ist genau das Gegenteil von diesem brutalen Zynismus. Wir sollten sie nicht vergessen und ihrer gedenken. Denn die Werte und das Engagement, die sie verkörperte, sind alles, was wir haben, um die Barbarei zumindest ein Stück weit unter Kontrolle zu halten.
Kommentare 23
"Eine Attacke auf den Anstand".
Mit Anstand hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun!
Die Überschrift sollte noch einmal überarbeitet werden.
Der diesen Mord instrumentalisierende Beitrag ist mit solcher Überschrift sehr treffend zusammengefasst.
Für einen bürgerlichen Kopf gibt es halt nichts Barbarischeres als einen Angriff auf die Werte der Zivilisation und seiner Nation.
http://www.heise.de/tp/artikel/48/48551/1.html
Jeder Mord bleibt eine Attacke auf den Anstand;
selbst auf den von Mental-Gouvernanten.
Dass aber politische Eintagsamöben die Oberhand gewinnen wollen mit ihrem zumeist vollkommen unpolitischen, weil auf Mordlust, basierenden Auslassungen gibt weniger zu denken als der Hype der daraus destilliert geronnen wirken könnte
Ja, der gewaltsame Tod von Jo Cox ist schon sehr traurig. Nun steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Referendum in ihrem Sinne entschieden wird. Denn so ein politisches Attentat hat stets den Effekt, dass die Haltung der Opfer Unterstützung findet.
Ob die deutsche Politik die Konsequenz daraus zieht, die faschistischen Organisationen nicht mehr länger zu finanzieren durch die V-Leute des "Verfassungsschutzes"? Schließlich finanzieren sie da den Terror gegen sich selbst.
Ich lese immer wieder das "Cui Bono"-Rumgeunke, das darauf abzielt, die Tat als unpolitisch oder "false flag"-Aktion erscheinen zu lassen. Auch der oben verlinkte TP-Artikel ist da nicht gerade ruhmreich. Daher möchte ich hier mal eine einfache Erklärung anbieten, wie die Tat dem "leave"-Lager nutzt: Der Ausgang der Referendums war vor und nach der Tat unklar. Wäre Frau Cox nicht ermordet worden und die Mehrheit hätte für den Verbleib in der EU gestimmt, wäre das den EU-Gegnern bei jeder Gelegenheit entgegen gehalten worden und es wäre schwer geworden, ein starkes Gegenargument zu finden. Ein solcher Anlass unterstützt nicht die Polarisierung der öffentlichen Debatte und hätte dazu führen können, dass sich größere Teile des anti-EU-Lagers einer achselzuckenden "die Mehrheit will es so"-Resignation zuwenden, die zwar nicht zu einem Sinneswandel aber zu einem Verlust an politischem Momentum der UKIP führen könnte.
Nun aber, nach dem Mord, können die EU-Gegner nicht mehr verlieren. Wenn die Mehrheit bei der Abstimmung für den Verbleib in der EU stimmt, wird immer der Cox-Mord im Bewusstsein aller sein. Die EU-Gegner werden, auf das Abstimmungsergebnis hingewiesen, sich immer mit Andeutungen über den Cox-Mord immunisieren können. Dies wird natürlich zu entsprechender "rechtschaffener Empörung" führen, damit den Diskurs verschärfen und das anti-EU-Lager "verdichten". Selbst moderate EU-Gegner werden sich stärker der UKIP zuwenden, weil ihre Unzufriedenheit über den Abstimmungsausgang sich nun nicht Resignation erschöpfen muss, sondern mit dem Cox-Mord und dem "politsch korrekten outrageism [etwa: Empörungsgehabe]" ein schöner Blitzableiter dargeboten wird.
De facto sieht man schon jetzt, da die Umstände des Mordes noch teilweise unklar sind, die rechten Ratten aus den Löchern kriechen und "Widersprüche in der offiziellen Geschichte" herbei phantasieren.
O, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, that has such people in’t!
Was hat dieser Mord mit
"Rassismus und Islamophobie des Westens ..."
zu tun? Wenn sich fanatische Islamisten Sprengstoffgürtel umschnallen und Massenmorde - zu 99 % gegen Angehörige der gleichen Glaubensgemeinschaft - begehen, dann lässt sich das nicht auf "Rassismus und Islamophobie des Westens" zurück führen. Das wird gerne von der IS-Propaganda vorgebracht - offensichtlich hier mit Erfolg.
Wer verfasst denn im Guardian solch verqueren unhistorischen Gedankengänge?
Dieser Mord ist ein Angriff auf die Mitmenschlichkeit auf alles wofür Jo Cox stand für ein Miteinander und nicht für ein gegeneinander und es ist ein Angriff auf Frauen in der Politik auf jeden Fortschrittlichen Gedanken und sehr wohl ein Akt der Barbarei ein Angriff auf alles was wir uns erkämpft haben in den letzten Jahrhunderten . Jeder Mord ist das und wer den allgemeinen Rechtsruck in Welt noch nicht bemerkt hat ist einfach blind und taub oder will es sein. Rechte fortschrittsfeindliche Ideologien sind meist mit Gewalt durchgesetzt worden.
Hilfe, bitte, was soll das? ..."wie etwa die Tatsache, dass eine Flüchtlingskrise, die von Syrien und Nordafrika ausgeht, kaum der EU angelastet werden kann"... Der Westen, US-dominiert, inkl. EU ist voll mit verantwortlich für das, was in Nahost passiert. GB insbesondere spielt dabei eine historische Hauptrolle als vor 100 Jahren der Mittlere Osten als Kriegsbeute zerteilt wurde. Der weisse "SchlaraffenWesten" lebt bis heute auf Kosten der Regionen, von wo aus heute die dunklen Flüchtlinge kommen. Gegenwärtig werden Staaten zerschlagen, da westliche Strategen eine Neuordung des "Mittleren Ostens" planen. Das setzt die Zerstörung der territorialen Einheit Syriens und des Irak voraus. Dieser Prozess spielt sich heute ab, sagt uns Profi Karin Leukefeld!
Jeder Mord bleibt eine Attacke auf den Anstand;
selbst auf den von Mental-Gouvernanten.
es war bloß eine Frau
The Guardian view on Jo Cox: an attack on humanity, idealism and democracy
schreibt der Guardian
Jo Cox hatte vor ihrem Tod „zunehmende Feindseligkeit und Aggression“ gegen weibliche Parlamentsabgeordnete ausgemacht, berichtete ihre Labour-Kollegin Anne Turley.
Als die 34-jährige Labour-Abgeordnete Jess Phillips aus Birmingham, die vor ihrer Wahl ins Parlament Opfer häuslicher Gewalt betreute, im Mai die Kampagne „Reclaim the Internet“ gegen Onlinesexismus startete, erhielt sie 600 Vergewaltigungsdrohungen in einer Nacht, berichtete sie.
Aggressionen gegen Frauen
Der Freitag hätte die Überschrift bloß übersetzen brauchen.
an attack on humanity, idealism and democracy
Editor des Guardian ist Katharine Viner.
Diese Überschrift wollte nicht in meinen Kopf.Was für ein Unfug ist das denn.Da blieb mir die Sprache weg, bei der Verkündung dieser Mordnachricht und dann noch dieser Blödsinn,der für mich keinen Sinn ergibt,außer in dem Bemühen kreativ tätig zu sein,diese unsinnige Wortwahl zu treffen.
Trotz all dieser Elegien gehe ich mal davon aus, dass dem meisten Menschen hier und sonstwo außerhalb ihres Wahlkreises vor dem Mord der Name "Jo Cox" vollkommen unbekannt war. Und die Person außerhalb ihres Freundeskreises so oder so vollkommen gleichgültig ist, abgesehen von ihrer politischen Funktionalisierung.
Danke für den Hinweis. Wenn die Informationen in Wikipedia etc. zutreffen, passt die von ihr geäusserte Ansicht, dass "Rassismus und Islamophobie des Westens ..." diesen Mord begangen haben, zu ihrem Weltbild.
Das wäre ohne Zweifel treffender gewesen. Aus der Überschrift könnte man auch schließen, dass Morde an "Nichtpolitikern" ...
Abgesehen davon ist Anstand in dem Zusammenhang die völlig falsche Kategorie.
Unglücklicherweise steht im Text etwas völlig Anderes. Der Satz besagt, dass die westliche Islamophobie ein 'Spiegelbild' der IS-Ideologie ist, beide also ideologisch auf einer Wellenlänge liegen. Dem lässt sich schwerlich widersprechen, wie auch der Annahme, dass der Mord an Cox etwas mit Rassismus zu tun hatte.
Über den Satz bin ich auch gestolpert. Davon abgesehen aber ein ganz passabler Artikel, wenn sich auch mangels Masse nicht wirklich mehr darüber sagen lässt.
Interessante Variante - Mensch hüte sich vor schnellen Erklärungen...
"... westliche Islamophobie ein 'Spiegelbild' der IS-Ideologie ..."
Auch das halte ich für nicht stichhaltig.
Die "IS-Ideologie" (d. h. extreme Auslegung des Koran, Gewalt gegen Andersdenkende, Kalifatgründung) und eine (angenommene) westliche Angst vor dem Islam haben m. E. wenig miteinander zu tun. Letztere richtet sich gegen Überfremdung - nicht unbedingt gegen IS.
Lol...wenn Sie wirklich glauben wollen, dass es mehr als graduelle Unterschiede sind, dann glauben Sie es.
Ach wissen Sie, die "graduellen Unterschiede" können über Kopf und kopf-los entscheiden. Wem das unwesentlich erscheint, der sieht möglicherweise auch keine Unterschiede zwischen Pegida und Mord/Terror.