Eine Attacke auf den Anstand

Großbritannien Die ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox verkörperte Engagement und Menschlichkeit. Werte, die man im zynischen Politikbetrieb immer schmerzlicher vermisst
Jo Cox: "Wir haben viel mehr gemeinsam, als uns trennt."
Jo Cox: "Wir haben viel mehr gemeinsam, als uns trennt."

Bild: Dan Kitwood / Getty

Das Abgleiten von der Zivilisation in die Barbarei geht schneller, als wir uns vielleicht vorstellen mögen. Jedes Gewaltverbrechen beschmutzt das Ideal einer zivilisierten Gesellschaft, doch wenn dieses Verbrechen sich gegen diejenigen richtet, die friedlich dazu bestimmt wurden, die Regeln zu bestimmen, wiegt der Affront noch schwerer.

Der Mord an Jo Cox, die auf offener Straße angeschossen und erstochen wurde, ist zuallererst eine zutiefst verabscheuungswürdige und niederträchtige Tat. Sie war die Mutter zweier kleiner Kinder, die nun ohne sie aufwachsen müssen. Der Mord ist aber auch ein Angriff auf die Demokratie, auf sehr konkrete Weise. Gewalt gegen Abgeordnete kommt in Großbritannien zum Glück nur selten vor. In der jüngeren Geschichte wurden nur drei Parlamentarier ermordet: Airey Neave, Tony Berry und Ian Gow, alle von irischen Republikanern. Mit Nigel Jones und Stephen Timms wurden zwei weitere schwer verletzt, Timms durch eine Frau, die ihre Tat mit ihrer Empörung über den Irakkrieg begründete. Unabhängig von den Gründen ist ein Angriff auf einen Parlamentarier immer auch ein Angriff auf das Parlament. Das wurde im Mord an Jo Cox so deutlich wie nie zuvor.

Die Abgeordnete, der die Bürgerinnen und Bürger des Wahlkreiseses Batley and Spen anvertraut hatten, sie zu repräsentieren, hatte gerade eben noch ihre Pflicht erfüllt: die praktischen Probleme eben dieser Bürger in einem Wahlkreisbüro zu lösen. Wer sie zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort angreift, richtet seine Waffe auf alles, worauf die Briten zu Recht stolz sind.

Jo Cox war aber nicht nur eine Abgeordnete, die ihre Pflicht erfüllte. Sie war eine Abgeordnete, die von einem Ideal angetrieben wurde. In ihrer Antrittsrede im britischen Unterhaus erklärte die ehemalige Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation so eloquent wie nur möglich, worin dieses Ideal bestand: „Unsere Gemeinden haben sich durch den Zuzug von Einwanderer vergrößert“, erklärte sie, „Seien es irische Katholiken oder Muslime aus Indien oder Pakistan, vorwiegend aus Kaschmir. Während wir stolz auf unsere Vielfalt und unsere Unterschiede sind, überrauscht mich doch jedes Mal, wenn ich durch meinen Wahlkreis reise, aufs Neue, dass wir viel mehr gemeinsam haben, als uns trennt.”

Kann es eine humanere Vorstellung von einer Gesellschaft geben als eine, in der Menschen sich in ihrer Verschiedenheit wohlfühlen können? Und kann es einen anständigeren Grundsatz geben, als den, zuerst auf das zu blicken und das zu betonen, was wir als Menschen alle gemeinsam haben, anstatt danach zu suchen, was eine Gruppe von der anderen unterscheidet? Wenn diese Ideale als Multikulturalismus bezeichnet werden, geschieht dies oft in der Absicht, sie zu diskreditieren. Doch das ändert nichts daran, wie wertvoll und kostbar sie sind. Diese Ideale haben Jo Cox dazu gebracht, sich unermüdlich für die Menschen einzusetzen, die in Syrien schreckliche Gewalt erfahren haben und vertrieben wurden. Es schmerzt zutiefst, wenn man sich klarmacht, dass sie für diese Ideale sterben musste.

Die Polizei untersucht Berichte, nach denen ihr Mörder während des Angriffs „Britain first“ gerufen haben soll. Das ist nicht nur eine chauvinistische Parole, sondern der Name einer rechtsradikalen Partei, deren Kandidat für das Amt des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan voller Abscheu und sektiererischer Empörung darüber den Rücken zuwandte, dass eine großartige, kosmopolitische Stadt einen Moslem zu ihrem Oberhaupt bestimmt hat. Die Brutalität, mit der die Tat ausgeführt wurde, sollte Jo Cox noch im Tod verachten. Der Mord an ihr könnte aber durchaus dazu führen, dass andere sich in ihrer Ansicht bestätigt sehen, dass manche Menschen weniger wert sind und es daher legitim ist, sie anzugreifen und zu töten. Rassismus und Islamophobie des Westens sind das Spiegelbild der Ideologie, mit der Daesh und al Qaida ihre Anhänger rekrutieren und diese dazu überreden, sich Sprengstoffgürtel umzubinden und zu sterben um zu töten.

Wenn die Situation weiter außer Kontrolle gerät, steuern wir auf eine Volksabstimmung über Einwanderung und Einwanderer zu. Der Ton ist schon jetzt polarisierend und hasserfüllt. Am Donnerstag hat Nigel Farage ein Plakat vorgestellt. Im Hintergrund eine lange Schlange drängender Menschen auf der Flucht. Die Botschaft: “Die EU lässt uns im Stich.“ Die Schlagzeile: “Breaking point – Belastungsgrenze.” Die Zeit, in der man glauben konnte, dass die Europhoben mit Fakten erreicht werden könnten – wie etwa der Tatsache, dass eine Flüchtlingskrise, die von Syrien und Nordafrika ausgeht, kaum der EU angelastet werden kann oder die unbequeme Tatsache, dass die Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union abhängen – sind vorbei. Dennoch hätte man noch Hoffnung haben können, dass selbst Leute, die die Wahrheit gar nicht wissen wollen, nicht so weit gehen würden, die humanitäre Krise unserer Zeit zu instrumentalisieren und gegen die Opfer von Krieg und Vertreibung zu hetzen, um die Wähler davon zu überzeugen, es sei besser, der Welt einfach den Rücken zuzuwenden.

Der Idealismus von Jo Cox ist genau das Gegenteil von diesem brutalen Zynismus. Wir sollten sie nicht vergessen und ihrer gedenken. Denn die Werte und das Engagement, die sie verkörperte, sind alles, was wir haben, um die Barbarei zumindest ein Stück weit unter Kontrolle zu halten.

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Geschrieben von

Editorial | The Guardian

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