Eine Frage der Logik

Brexit Großbritannien und die EU haben sich geeinigt. Aber kann Boris Johnsons Deal überhaupt halten, was er verspricht?
Sehen so Sieger aus?
Sehen so Sieger aus?

Foto: Daniel Leal-Olivas - WPA Pool/Getty Images

Nun, da er Theresa Mays Brexit-Deal erfolgreich überarbeitet hat, gibt sich Boris Johnson als großer Triumphator. Nicht zum ersten Mal nimmt ein Mann die Anerkennung für die Arbeit einer Frau für sich in Anspruch. Aber hat Johnson wirklich das Problem mit dem Brexit gelöst – oder handelt es sich hier nicht doch um ein weiteres Lügenkonstrukt? Werden seine Vorschläge Bestand haben, wenn das Parlament am Wochenende tagt?

Die Wahrscheinlichkeit, dass Johnsons Pläne scheitern, ist relativ hoch. Das hat verschiedene Gründe. Der erste Schwachpunkt ist immer noch Nordirland. Der Plan, eine stabile Angleichung der Vorschriften zwischen der Irischen Republik und Nordirland aufrechtzuerhalten, mag vernünftig erscheinen. Das nordirische Parlament soll alle vier Jahre darüber abstimmen können, wobei eine zweijährige Abkühlungsphase vorgesehen ist. Aber mit Blick auf die Zukunft bricht dieses Konstrukt schnell in sich zusammen. Was passiert, wenn der Rest des Vereinigten Königreichs beschließt, einen anderen Regulierungskurs einzuschlagen – so wie von dieser extrem rechten konservativen Regierung versprochen? Wenn es keine Landgrenze geben kann, müsste es in der Irischen See Regulierungskontrollen geben, um die Integrität des Binnenmarkts zu wahren. Die Verlegung der Regulierungsgrenze in die Irische See wäre ein konkreter Schritt in Richtung Wiedervereinigung. Es ist daher nur zu verständlich, dass die DUP, die unionistische Partei Nordirlands, die strikt gegen eine Wiedervereinigung ist, sie nicht unterstützen wird. Die politischen Grenzen von „Ein Land, zwei Systeme“ sind offensichtlich.

Aber der eigentliche Fehler besteht darin, dieses Abkommen auf Basis seiner eigenen Bedingungen zu analysieren, und nicht auf der Basis des nationalen Interesses Großbritanniens. So wichtig es ist, sich zu fragen, ob das Abkommen kohärent und langlebig ist, verfehlt diese Sichtweise den eigentlichen Sinn des Deals. Johnsons Abkommen basiert auf der Illusion, Großbritannien habe mehr durch neue Handelsabkommen mit weit entfernten Ländern zu gewinnen als davon, den reibungslosen Handel mit seinen nächsten Nachbarn aufrechtzuerhalten. Dabei macht der Handel mit diesen Nachbarn – als Teil des mächtigsten Handelsblocks der Welt – bereits die Hälfte des britischen Handels aus. Die Zahlen der Regierung selbst zeigen, dass ein harter Brexit – außerhalb der Zollunion und des Binnenmarkts – jeden Haushalt mehr als 2.000 Pfund ärmer machen würde.

Tatsächlich kristallisiert sich am Brexit ein Streit über die Zukunft des Landes. Deshalb ist der Streit um gleiche Wettbewerbsbedingungen in der politischen Erklärung so wichtig. Für die European Research Group (ERG) – eine Gruppe konservativer Brexit-Hardliner – war der strategische Zweck des Brexit immer die Deregulierung im Inland, um Handelsabkommen mit den USA und den Schwellenländern abzuschließen, da es bei den meisten modernen Handelsabkommen weniger um Zölle als vielmehr um Regulierung geht. Denn das politische Ziel der Brexit-Hardliner ist es, die Ausrichtung Großbritanniens zu verändern – weg von der EU hin zu den USA.

Großbritannien kann nicht gleichzeitig Schweden und Singapur sein

Unterdessen haben sich die unentschlossenen Labour-Abgeordneten um Zusicherungen hoher Industriestandards, um Arbeitnehmerrechte und um Umweltschutz bemüht, die alle unerlässlich sind, um Großbritannien als Sozialdemokratie mit einer regulierten Wirtschaft zu erhalten. Aber beide Zukunftsvisionen zugleich können nicht wahr sein. Das ist keine Ansichtssache, sondern eine Frage der Logik. Großbritannien kann nicht gleichzeitig Schweden und Singapur sein. Es kann nicht gleichzeitig im US-amerikanischen Regulierungsbereich und in dem der EU sein.

Wie hat Boris Johnson das also hinbekommen? Der Knackpunkt ist der unterschiedliche Stellenwert von Austrittsvereinbarung und politischer Erklärung. Die politische Erklärung wird zwar in nationales Recht übergehen, ist aber nur eine Absichtserklärung und hat nicht den dauerhaften Status eines internationalen Vertragswerks. Johnson kann den Brexiteers daher versprechen, dass er nach dem Gewinn einer Mehrheit bei den nächsten Parlamentswahlen die politische Erklärung beiseite legen und sich auf Deregulierung und einen Kuhhandel mit Donald Trump konzentrieren wird. Die Brexit-Hardliner wurden offensichtlich davon überzeugt, dass Johnsons Deal ihrer Zukunftsvorstellung zuträglich ist – sonst würden sie sie nicht unterstützen.

Die Labour-Abgeordneten müssen sich sehr gut überlegen, ob Boris Johnson sie und das britische Volk belügt – oder doch die Brexiteers. Diejenigen, die für seinen Deal stimmen, werden ihm nicht nur glauben müssen, was er bis dato von sich gegeben hat – sie werden auch seinen Plänen für die Zukunft vertrauen müssen und seiner Fähigkeit, diesen Absichten Taten folgen zu lassen. Wenn Johnson sich durchsetzt und das britische Gesundheitssystem an Donald Trump verhökert, während er Arbeiterrechte zusammenstutzt und Umweltschutzmaßnahmen drastisch reduziert, dann werden alle Labour-Abgeordneten, die das mitzuverantworten haben, in die erste Liga der nützlichsten Idioten der Geschichte aufsteigen. Und all das nur, um ein Abkommen durchzubringen, das die britische Wirtschaft schwächt, den Einfluss in Europa schmälert und das Land spaltet. Es ist ein äußerst riskantes Vabanquespiel, sich mit einem Mann einzulassen, dessen Machtübernahme allein schon eine Leerstelle offenbarte – gerade dort, wo eigentlich sein Verantwortungsbewusstsein hätte sein müssen.

Tom Kibasi ist Autor und forscht in den Bereichen Politik und Wirtschaft

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Übersetzung: Benjamin Knödler, Jan Jasper Kosok
Geschrieben von

Tom Kibasi | The Guardian

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