Im Nordosten Bosnien liegt im Dinarischen Gebirge an der Grenze zu Serbien ein kleiner See. Der Perućacsee, der in den sechziger Jahren durch den Bau eines Staudamms entstand, erscheint zunächst nicht weiter bemerkenswert – er ist nur einer von vielen künstlichen Seen in dieser Bergregion, deren Wirtschaft von Wasserkraftwerken abhängig ist. Bis in die Neunziger hinein war diese Region allenfalls für die stromaufwärts liegende Stadt Višegrad, mit ihrer wunderschönen osmanischen Brücke aus dem 16. Jahrhundert bekannt. Doch inzwischen gilt der Perućacsee gleich nach Srebrenica als Symbol für ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschheit.
Dreitausend bosnische Muslime wurden hier im Frühjahr 1992 getötet &
#246;tet – nicht in einer organisierten Operation wie in Srebrenica, sondern beinahe wie zum Vergnügen über Wochen und Monate hinweg von Polizisten und Soldaten. Die Leichen wurden von der berühmten Brücke in das glitzernde blau-grüne Wasser der Dina geworfen, die Strömung trug sie hinunter zum Perućacsee.Angesichts des Rufs der Stadt, konnte es kaum überraschend, als im Juli von Untersuchungsbeamten 50 weitere Leichen gefunden wurden, als sie den See durchkämmten, der im Moment wegen Wartungsarbeiten halb abgelassen ist. Keiner hatte erwartet, dass die Suche erfolglos bleiben würde. Überraschend kam vielmehr – zumindest für viele außerhalb Bosniens – wie schwierig den Ermittlern ihre Arbeit gemacht wurde.Die Untersuchung stieß auf allen Ebenen auf Widerstand. Die Einheimischen der mittlerweile durch und durch serbischen Stadt mieden die Ermittler, selbst die einfachsten Nachfragen stießen auf eine Mauer des Schweigens, manchmal begegnete man ihnen sogar mit absoluter Feindseligkeit. Vor zwei Wochen schoss ein Unbekannter auf das Boot eines forensischen Teams. Verletzt wurde niemand, doch die Botschaft war klar: Passt auf, nach was Ihr sucht.Kultur des SchweigensDie versteckten und nicht-ganz-so-versteckten Drohungen sind nur Teil einer Kultur des Schweigens, die eines der größten Hindernisse für den Versuch der Bosnier, Gerechtigkeit zu finden und die historischen Akten irgendwann schließen zu können, bedeutet. Ein zweifelhaftes Netzwerk aus ehemaligen und aktuellen Figuren der Regierung, der Polizei und der organisierten Kriminalität – der so genannten „Preventiva“ – schützen die Verantwortlichen der schlimmsten Kriegsverbrechen der Jahre 1992 bis 1995 und bringen diejenigen, die zu reden drohen, zum Schweigen.Die Preventiva, die auch den untergetauchten Radovan Karadzic schützte, lässt Gerichtsprozesse scheitern oder bringt sie zum Erliegen, wenn Täter gefasst werden. Zeugenaussagen weiß sie zu verhindern: Zeugen werden eingeschüchtert, oder ihnen geschieht Schlimmeres. Sei es aus Angst oder aus Loyalität: In Višegrad wollen nur wenige reden. Wer es doch tut, wird oft mundtot gemacht.Für Kriegsverbrecherprozesse sind Zeugenaussagen essentiell. Es ist in der Regel einfach nachzuweisen, dass eine Straftat stattgefunden hat: Massengräber gibt es in Bosnien leider nicht zu knapp. Aber um ein Individuum oder eine Militäreinheit dafür zur Verantwortung zu ziehen, benötigt man fast immer Zeugen – dessen sind sich die Preventiva und ihresgleichen sehr wohl bewusst.2005 sagte Milan Josipovic, ein ehemaliger Polizeiinspektor von Višegrad im Prozess gegen Novo Rajak aus. Rajak war einer der Polizisten aus Višegrad, die an der Misshandlung bosnischer Zivilisten beteiligt waren. Allein die Tatsache, dass Josipovic aussagen würde, reichte aus um die Preventiva zu provozieren. Als Gerüchte die Runde machten, er sei bereit, auch in einem Prozess gegen höherrangige Offiziere auszusagen, eskalierte die Situation. Josipovic wurde erschossen, seine Mörder wurden – kaum überraschend – nie gefasst.Die Schutzglocke bekommt RisseDie Zukunft ist jedoch nicht hoffnungslos. Die Ermittler finden immer mehr Beweismaterial und die bislang wasserdichte Schutzglocke um die Preventiva und ihre Mitglieder bekommt erste Risse. Viele gehen davon aus, dass eine interne Fehde zu der Verhaftung Milan Lukics geführt hat. Lukic war Mitglied der Preventiva und ehemals der Kopf der paramilitärischen "Weißen Adler", die für einige der schlimmsten Verbrechen in Višegrad verantwortlich sind. Im vergangenen Jahr wurde er vom Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.Es bleibt abzuwarten, ob sich der Schleier der Geheimhaltung irgendwann vollkommen lüftet. Wenn Bosnien jemals alle vor Gericht bringen will, die seine Vergangenheit heimsuchen, dann ist das unumgänglich.