Eine Oase für Fatima

Saudi-Arabien Auf den Arbeitsmarkt drängen immer mehr Frauen. Mancher Arbeitgeber versucht, sie von den Männern fernzuhalten
Ausgabe 36/2019

In der Luna-Lebensmittelfabrik in einem südöstlichen Außenbezirk von Dschidda sitzt Mashael Elghamdi im kunstvoll zerrissenen AC/DC-T-Shirt an ihrem Computer. Hinter den Tippgeräuschen der acht Frauen und ihrem gelegentlichen Lachen ist im Hintergrund das leise Surren von Maschinen zu hören, die Dosen mit Bohnen, Sahne oder Kondensmilch füllen. In diesem Büro gibt es keine Notwendigkeit für die ganz langen Abayas, die Frauen in Saudi-Arabien tragen müssen, wenn sie bei der Arbeit oder in der Öffentlichkeit Männern begegnen. Stattdessen geht es äußerst farbenprächtig zu. In der Werkhalle eine Etage tiefer kleben Frauen in maßgefertigten Overalls Etiketten auf Konserven. „Die Frauen, die Sie hier sehen, arbeiten völlig selbstständig“, erklärt Fatima Albasisi, der die Aufsicht über 90 Arbeiterinnen übertragen ist. Eine Treppe und ein Gang trennen die Abteilung von den männlichen Kollegen. „Wenn ich könnte“, beteuert Frau Albasisi, „würde ich gern eine Fabrik leiten, in der nur Frauen arbeiten. In der es überhaupt keine Männer gibt. Meiner Erfahrung nach sind Frauen stets pünktlich und machen wenig Fehler.“

Kisten heben? Verboten

Das Luna-Werk ist nach Geschlechtern getrennt, seitdem Frauen vor acht Jahren in der Verwaltung anfingen und bald in die Fertigung durften, 40 zunächst. „Wir arbeiten härter als die Männer“, meint Elghamdi, als wir wieder in ihrem Büro sitzen. „Für mich ist es besser, getrennt zu sein. Würden wir auf Männer treffen, muss ich meine Abaya und meinen Niqab tragen – das ist nicht sonderlich bequem.“ Elghamdi ist vorrangig für die Arbeitssicherheit der Frauen zuständig. „Für die Kolleginnen ist es einfacher, mir zu sagen, was geschehen muss, damit sie sich sicher fühlen. Bei einem Mann fällt ihnen das schwer.“

Nicht alle Bürohäuser und Fabriken sind heute noch kategorisch nach Geschlechtern getrennt. Seit 2005 ist das nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben, nur halten viele Arbeitgeber an der bis dahin üblichen Praxis fest, um die konservativen Werte einer oft mehrheitlich männlichen Belegschaft mit dem Wunsch der Regierung in Einklang zu bringen, mehr Frauen ins Berufsleben zu integrieren. Reine Frauenarbeitsplätze sind ein Symbol sowohl der Zukunft wie der Vergangenheit. Die Frage, ob sie ein notwendiger Schritt hin zu einer vollen Teilhabe von Frauen sind, bleibt vorerst unbeantwortet. Der Weltbank zufolge hat sich der Anteil von Frauen an der berufstätigen Bevölkerung Saudi-Arabiens von 1990 bis 2018 um etwa sieben Prozent erhöht und liegt gegenwärtig bei 16,8 Prozent. Um die Dienstleistungsbranche zu stärken und die Abhängigkeit vom Öl einzudämmen, dessen Verkauf derzeit noch 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmacht, soll die Beschäftigungsquote von Frauen 2030 bei gut einem Drittel aller Erwerbstätigen liegen. Dazu gibt es „Schritte hin zu einer vollständigen Teilhabe von Frauen an der Gesellschaft“, unter anderem wird die Teilnahme an Sportveranstaltungen erlaubt.

Bisher schreibt das saudische Recht vor, dass Frauen lediglich in „ihrer Natur entsprechenden Bereichen“ arbeiten dürfen, verboten sind Tätigkeiten, die als „gesundheitsschädigend“ gelten oder bei denen es wahrscheinlich ist, dass „Frauen besonderen Risiken ausgesetzt sind“. In der Praxis werden die diffusen Regeln häufig dazu genutzt, Frauen von allem auszuschließen, was eine körperliche Herausforderung sein könnte. In der Luna-Fabrik bleiben daraufhin Arbeiten wie das Heben schwerer Kisten auf die Männersektion beschränkt. Überdies gilt der Grundsatz, dass weibliche Beschäftigte nicht mit männlichen Kollegen allein gelassen werden.

Im Verkehr sieht man sie nicht

Schenkt man offiziellen Verlautbarungen in Riad Glauben, stehen größere Reformen an. Jüngste Veränderungen – wie das Aufheben des Fahrverbots für Frauen – sollen von der Modernisierungsbereitschaft im Königreich künden. Eingeschränkt werden die Rechte der Religionspolizei und der Kommission zum Schutz der Tugend, die früher dafür zuständig war, das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit zu überwachen. Heute ist es den Tugendwächtern nicht mehr gestattet, Frauen wegen des Umgangs mit Männern, die keine Familienangehörigen sind, abrupt zu verhaften oder zu beschimpfen, weil sie ihre unbedeckten Hände zeigen. Die Kontraste können gewaltig sein: Ein Nicki-Minaj-Konzert, das im August in Dschidda geplant war, sorgte für Empörung bei saudischen Frauen, die wütend waren, „dass Minaj auftreten und mit dem Hintern wackeln kann, und uns sagt ihr, wir sollen die Abaya tragen“, hieß es in einem Video auf Twitter, das mehr als 37.000-mal angesehen wurde. Minaj sagte ihren Auftritt letztlich ab und bekräftigte ihren „Beistand für die Rechte von Frauen, die LGBTQ-Community und die Meinungsfreiheit“. Für Prinz Mohammed bin Salman, Thronfolger und De-facto-Herrscher, auch als „MBS“ bekannt, bezeugt die öffentliche Präsenz von Frauen das neue Saudi-Arabien. Der Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im Vorjahr und die darauf folgende Vertuschung dürften das sorgfältig gepflegte Renommee des Königreichs auf internationaler Ebene zwar zerpflückt haben, aber der Kronprinz verfügt weiter über großen Einfluss, auch wenn die US-Geheimdienste zu der Auffassung gelangt sind, dass er den Mord an Khashoggi persönlich angeordnet hat. Sein Mantra vom Wandel verfängt auch in der Bevölkerung: Alle, mit denen man spricht – von Straßenverkäufern bis hin zu Regierungsbeamten –, versichern: „Die Dinge sind jetzt anders.“ Es ist allerdings gut möglich, dass sie nicht immer meinen, was sie sagen. Im Übrigen verändert sich die Gesellschaft weitaus langsamer als die offizielle Rhetorik. Eine „Initiative für Frauen“ fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit, denn es besteht ein gewaltiger Pay-Gap. Saudische Frauen erhalten im Schnitt 56 Prozent weniger als Männer, sodass dem Königreich unter 149 Ländern auf dem Global-Gender-Gap-Index nur Platz 145 gebührt.

Lange vor dem Khashoggi-Mord sahen sich viele Reformwillige brutal zum Schweigen gebracht. Amnesty International zufolge wurden 2019 schon 104 Menschen hingerichtet. Auch ging man lange Zeit hart gegen die Frauenrechtsbewegung vor. Allein elf ihrer Mitglieder kamen in Haft, weil sie auf eine Fahrerlaubnis für Frauen gedrängt hatten, bevor diese eingeführt wurde. Es gab Fälle von Folter gegen Frauen, inklusive Waterboarding und Elektroschocks. Vor diesem Hintergrund sind reine Frauendomänen in Fabriken ein starkes Zeichen, das die Frauen in einem modernen Saudi-Arabien positioniert. Nur was bedeutet das für die Betroffenen selbst, wenn sie zwischen den Versprechen des Staates und ihrem täglichen Bemühen, in einer konservativen Gesellschaft zurechtzukommen, gefangen sind?

Eine Stunde nördlich von Dschidda graben Bagger am Roten Meer auf einer kargen Ebene in der erbarmungslosen Mittagssonne die sandige Erde auf. Es gibt wenig mehr zu sehen als das türkisfarben leuchtende Glas eines leeren Verwaltungsgebäudes. Trotzdem wird der Ort als Zukunft für weibliche Beschäftigung im Königreich angepriesen, als eine für Frauen entworfene „Oase“. Der Komplex soll 48 Fabriken umfassen, die Arzneimittel, Lebensmittel und Technologie herstellen. Die saudische Behörde für gewerbliches Eigentum (Modon) entwickelte 2012 die Idee von Industrieparks allein für Frauen, als sie den Aufbau einer „reinen Frauenstadt“ in Al-Ahsa östlich von Riad verkündete. Diese „Oase“ wurde „für Arbeiterinnen und für Arbeitsbedingungen“ entworfen, die „mit der Privatsphäre von Frauen nach islamischen Vorschriften übereinstimmen“. 2015 kündigte Modon vier weitere Standorte an, über die öffentlich wenig bekannt ist.

Mit dem Projekt in der Nähe von Dschidda änderte sich die Rhetorik der Regierung in Bezug auf Frauenrechte und Privatsphäre. Die Dschidda-Oase, hieß es, werde „eine Umgebung sein, die Frauen zur Arbeit anregt“, zu der aber auch Männer zugelassen sind, erläutert Bandar Al-Toaimi, Modons Kommunikationsdirektor, mit weit ausholenden Gesten während eines Besuchs auf der Baustelle. Jede Entscheidung über Bedingungen, die Frauen anziehen, wie die Geschlechtertrennung, liege „in der Verantwortung des Arbeitsministeriums“, sagt Al-Toaimi. Wurden Frauen bei diesem Vorhaben konsultiert? Der Kommunikationsdirektor will bei der Projektleitung nachfragen – und die hüllt sich in Schweigen. Das ist ebenso eine Enttäuschung wie die Tatsache, dass man im Umfeld von Dschidda keine Millionen Quadratmeter große Baustelle zu sehen bekommt, aus der einmal eine imposante Metropole hervorgeht, sondern lediglich einen Komplex, der aus nicht viel mehr als einem Netzwerk von Straßen besteht, die Sandhaufen miteinander verbinden.

Al-Toaimi meint, ein solcher Industriepark könne „bei der Rekrutierung von Frauen in Saudi-Arabien vieles ermöglichen“. Immerhin soll es wie in der Al-Ahsa-Oase auch hier Kindergärten und möglicherweise eine Buslinie geben, um den Frauen das Arbeiten zu erleichtern – auch wenn Al-Toaimi abschätzig hinzufügt, dass der Transport nun ja kein Problem mehr sei. Die Frauen könnten schließlich selbst fahren. Allerdings ist es der Autorin weder in Riad noch in Dschidda gelungen, Frauen hinter einem Steuer zu entdecken, auch wenn ständig beteuert wird, zahlreiche Frauen hätten ihre Führerscheine erhalten und würden vorsichtig den Fahrbetrieb aufnehmen. Man müsse geduldig sein, doch es werde zur Normalität.

Al-Toaimi jedenfalls ist optimistisch, was internationale Investitionen angeht, und deutet auf ein Ensemble grauer Fabrikgebäude, die um leere Parkplätze herum angeordnet sind: „Wir geben Anreize, um Investoren anzulocken, und stellen sicher, dass sie hier eine respektable Zahl von Frauen beschäftigen.“

Ruth Michaelson ist Reisekorrespondentin des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Ruth Michaelson | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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