Auch nach fünf Stunden können die Demonstranten sich nicht entscheiden, wie sie mit den 25 Muslimbrüdern verfahren sollen, die sie in einer Moschee eingesperrt haben. Manche wollen sie einfach gegen Demonstranten eintauschen, die ihrerseits von der Muslimbruderschaft gefangen genommen und geschlagen wurden. Doch einig sind sie sich nicht. „Das sind Ungläubige“, schreit ein Mann immer wieder. „Lasst sie da drinnen sterben.“
Diese Szene ereignet sich am 22. März. Kairo liegt an diesem Tag unter dem fahlen Nebel des Staubs, den der Khanseem-Wind jeden Frühling in die Stadt trägt. Doch hoch oben in Mokattam – einem Stadtteil in den felsigen Hügeln, die sich aus den Slums im Osten der Stadt erheben, wo sich das Hauptquartier der Muslimbruderschaft befindet – liegt etwas Bedrohlicheres in der Luft.
"Hosni ist Mursi"
In den Straßen rund um die Gebäude der Muslimbrüder fliegen Molotow-Cocktails und Steine, Schrot und Tränengas. Schwarzer Rauch steigt gen Himmel, wo Demonstranten Plakate des einstigen Muslimbruders und derzeitigen Präsidenten Mohammed Mursi verbrennen. Es tobt eine Schlacht zwischen Anhängern der Bruderschaft und Demonstranten der Opposition.
Nicht unbedeutend ist dabei der Schauplatz. Seit Beginn der Aufstände, die 2011 zum Sturz von Diktator Hosni Mubarak führten, richteten sich die Proteste in der Regel gegen staatliche Institutionen. Wenn Büros der Muslimbrüder angegriffen wurden, geschah dies bislang stets im Rahmen breiter ausgerichteter Gewalt. Doch im vergangenen Monat nahmen Demonstranten erstmals gezielt das Hauptquartier der Muslimbrüder ins Visier. Für Oppositionelle gilt die Organisation inzwischen eben so sehr als Feind der Ziele der Revolution wie die Polizei, die Armee oder gar Mubarak.
„Hosni ist Mursi“, bringt es Maha Hatab auf den Punkt. Er ist aus einer sechzehn Kilometer westlich von Kairo gelegenen Stadt zu den Protesten angereist. „Es ist dieselbe Revolution.“
Die Liste der Vorwürfe gegen die Ikhwan – so der arabische Name – ist lang. Auf einen einzigen Kritikpunkt gebracht, lautete dieser aber etwa: Demokratie hört nicht an der Wahlurne auf – die Bruderschaft und ihre Ableger würden sich aber so verhalten.
Insbesondere hat die Opposition erzürnt, wie Mursi sich im November selbst umfassende Befugnisse übertragen hat, um eine äußerst umstrittene neue Verfassung durchzusetzen. Das Dokument war von einem aus Alliierten der Bruderschaft bestehendem Komitee entworfen worden. In Hinblick auf Redefreiheit, Frauenrechte und den Schutz von Minderheiten werten viele es als mehrdeutig. Sie glauben, es ebne den Weg für einen islamischen Staat.
Zu einer Zeit, da Ägypten einen politischen Konsens bitter nötig hat, sieht Mursi sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Schlüsselpositionen in der Administration mit eigenen Verbündeten besetzt zu haben. „Generell fürchtet man sich vor einer Ikhwanisierung des Staates“ sagt Khaled Fahmy von der American University in Kairo. Im Besonderen gilt die Sorge dem brutalen Vorgehen der Polizei. Die Menschen haben nicht den Eindruck, Mursi würde sich besonders um eine Reform des Polizeiapparates bemühen. Ein weiterer Anlass zur Sorge sind die extrem frauenfeindlichen Verlautbarungen der Muslimbrüder. Vergangenen Monat veröffentlichten sie eine Erklärung, in der es hieß, wenn man Frauen erlauben würde, ohne die Zustimmung ihrer Ehemänner zu arbeiten, würde dies zu einer „vollständigen Auflösung der Gesellschaft“ führen.
Eine Regierung für Eliten
Die Bruderschaft selbst weist die gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück. Sie betrachtet sich als eine Bewegung, die lange unterdrückt wurde, aber über eine starke Unterstützerschaft und eine lange Geschichte der sozialen Basisarbeit verfügt. Aus ihrer Sicht tut sie ihr Bestes, um den wirtschaftlichen Umständen zu trotzen und das Land zusammenzuhalten.
Mit der Arbeitslosigkeit und den Lebenshaltungskosten wächst in der ganzen ägyptischen Gesellschaft die Wut auf die Regierung und die Muslimbruderschaft. Die wähnt sich indes weiterhin im Besitz des Regierungsmandats – vor allem, da ihr politischer Flügel, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, seit 2011 jede Wahl gewonnen hat. Kritiker finden, sie bestünde aus Mitgliedern einer urbanen Elite, die ihrer Meinung nach keinen Kontakt zu der ägyptischen Bevölkerungsmehrheit hat.
Machtübernahme durch die Muslimbrüder
2011, als im Nahen Osten ein Diktator nach dem anderen gestürzt wurde, sah es von weitem so aus, als würden sie von einer Generation junger, westlich geprägter Twitterer ersetzt, die sich mit Liberalismus ebenso auskannten wie mit iPhones. Unter den Demonstranten auf dem Tahrirplatz waren zwar auch nicht wenige Muslimbrüder, doch selbst Mursi behauptete damals noch, die Gruppierung habe kein Interesse an der Macht.
Zwei Jahre später ist das Machtvakuum in den beiden Ländern, die zuvorderst mit dem Arabischen Frühling assoziiert werden – Tunesien und Ägypten – von den Muslimbrüdern gefüllt worden. In Tunesien, dem Ausgangspunkt der Aufstände 2011, ist Ennadah an der Regierung, die als tunesische Version der Musilmbrüder gilt und vor der Revolution praktisch ein Exildasein führte.
In Ägypten dominierte der politische Flügel der Bruderschaft das kurzlebige Parlament von 2012. Mursi, einst einer ihrer hochrangigen Vertreter, wurde im vergangenen Juni zum ersten gewählten Präsidenten Ägyptens. (Zuvor hatte er sich von der Bewegung getrennt, um so seine Unabhängigkeit zu demonstrieren.) In Libyen schnitt der politische Arm der Organisation bei den Wahlen im vergangenen Jahr nicht so gut ab, wie erwartet worden war – schaffte es aber immer noch, zur zweitstärksten Partei zu werden. Und auch im syrischen Bürgerkrieg spielen die Brüder eine bedeutende Rolle. Alison Pargeter schreibt in der Neuausgabe ihrer Biografie der Bewegung, diese habe sich fast über Nacht von einer semi-klandestinen, oppositionellen Gruppe zu einer legitimen politischen Kraft verwandelt.
Wenn man bedenkt, dass ihre Erfahrung sich in erster Linie auf die karitative Arbeit an der Basis (Krankenhäuser, Schulen und Suppenküchen in einigen der ärmsten Gegenden Ägyptens) beschränkt, ist das eine recht gewaltige Veränderung. Die karitative Arbeit erklärt aber, warum die Brüder bei vielen Ägyptern noch immer so beliebt sind. Ihre Mobilisierungsfähigkeit nach dem Sturz Mubaraks war ein weiterer wichtiger Punkt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sonst noch kaum jemand über die nötige Infrastruktur verfügte, konnten sie auf eine sich über fast das ganze Land erstreckende Organisation zurückgreifen.
Denn schließlich kann sie auch schon auf eine beachtliche Geschichte zurückblicken: Erst vor kurzem feierte sie den 85. Jahrestag ihrer Gründung. Im März 1928 rief Hassan al-Banna sie als Verfechter traditioneller islamischer Werte und Gegenkraft zu der Verwestlichung Ägyptens ins Leben. Zwanzig Jahre später zählte sie bereits an die 500.000 Mitglieder, heute sollen es eigenen Angaben zufolge über eine Million sein. Ihre Basis rekrutiert sich angeblich aus den unteren Mittelschichten, ihre Anführer sind aber des Öfteren Ärzte oder Geschäftsleute. Jeder Bruder spendet einen Teil seines Einkommens um die Bewegung zu finanzieren.
Die Mitglieder erhalten Befehle von einem sogenannten Führungsbüro, dem ungefähr 20 Älteste angehören. Nominell wird es zwar vom Obersten Führer, Murshid Mohamed Badie, geleitet, de facto hat aber einer seiner Stellvertreter das Sagen: der Geschäftsmann Khairat el-Shater. „Murshid hat nichts zu sagen, sagt ein Bruder mittleren Ranges. „Wenn wir eine Demonstration organisieren wollen, dann macht das Khairat el-Shater … Er hat eine wirklich starke Persönlichkeit und weiß, wie er die Leute hinter sich vereint.“
Al-Banna stand in dem Ruf, es allen recht zu machen. Zeitgenossen berichten, wie er vom Anzug in ein traditionelles Gewand gewechselt und wieder zurück gewechselt sei – je nachdem, vor welchem Publikum er sprechen musste. Sein Pragmatismus und seine Gewandtheit waren fast schon paradox – und dennoch können auch seine Nachfolger kollektiv mit ihnen beschrieben werden, einschließlich des Gradualisten Hassan al-Hodeibi und des Fundamentalisten Sayyid Qutb.
Doch die Bruderschaft ist nicht so beweglich, um sich auch international als einheitliche Kraft zu präsentieren. Zwar gab es in den 1980ern Versuche, die verschiedenen nationalen Verbände enger zusammenzubringen, doch das internationale Komitee übt Hamid zufolge nicht wirklich eine bindende Kontrolle über die einzelnen Organisationen aus. „Ja, es gibt da Konsultationen und ein gewisses Maß an Koordination, aber es gibt keine internationale Führung, die eine massenhafte regionale Verschwörung leiten würde. Es gibt wirklich nichts dergleichen.“ Nach Meinungsverschiedenheiten sind der irakische und der algerische Verband aus der Dachorganisation ausgestiegen. Die Verbindungen zwischen den übrigen nationalen Organisationen sind aber meistens sehr herzlich, auch wenn sich nicht alle in die gleiche Richtung entwickelt haben.
Tunesische Schwesternpartei ist offener
Ein Beispiel hierfür ist Ennahda in Tunesien. Ihr Gründer, Rachid Ghannouchi, studierte in Kairo und wurde dort sehr stark von den Muslimbrüdern inspiriert, bevor er in den Siebzigern Ennahda gründete. Doch seien die beiden Bewegungen nicht identisch, sagt Ghannouchis Tocher Yusra, die als Sprecherin für Ennahda arbeitet: „Sie haben vieles gemeinsam, es gibt aber auch Differenzen.“
Zum Beispiel: Ob aus religiösen oder aus rein pragmatischen Gründen scheinen Rachid Ghannouchi und Teile Ennahdas einer pluralistischen Gesellschaft offener gegenüberzustehen als ihre Brüder in Ägypten. Im März des vergangenen Jahres hielt Ghannouchi einen Vortrag, in dem er andeutete, dass der Säkularismus seiner Meinung nach nicht mit den Prinzipien des Islam in Konflikt stehe. „Der Staatsapparat ist nicht die wichtigste Einflusssphäre der Religion, sondern vielmehr die persönlichen, individuellen Überzeugungen.“
Während Ennahda und die ägyptische Bruderschaft also die selben grundlegenden Ziele verfolgen, agieren sie doch innerhalb verschiedener politischer Umfelder und verhalten sich entsprechend. Von den frühen Neunzigern an wurde Ennahda von der tunesischen Diktatur brutal unterdrückt, so dass die Gruppe zum Zeitpunkt der Revolution nur noch über eine äußerst schwache Organisationsstruktur verfügte. Viele ihrer höchsten Repräsentanten waren viele Jahre lang im Exil gewesen und kehrten in eine Gesellschaft zurück, mit der sie nicht mehr wirklich vertraut waren, sagt Hamid.
Ennahda hat sich also praktisch ganz neu aufgebaut. Sie musste das in einem viel säkularer geprägten politischen Umfeld tun als die Brüder in Ägypten. „In Tunesien hat es schon immer islamistische und säkulare Parteien gegeben“, sagt Yusra Ghannouchi, „und ich denke, diese Vielfalt wird es immer geben.“
Im Gegensatz dazu hatte die ägyptische Bruderschaft 40 Jahre lang Zeit, organisatorische Wurzeln zu schlagen und der Aufstand von 2011 erfolgte in einer Gesellschaft, die viel stärker von der Basisarbeit der Islamisten geprägt war. Mag die Bruderschaft auch unter Mubarak weiterhin politisch verboten geblieben sein, so erlaubten ihr die Behörden von den Siebzigern an doch stillschweigend, ihre Gemeindeprogramme zu entwickeln. 2005 bildeten ihre – als einzelne Kandidaten angetretenen Mitglieder – die größte oppositionelle Gruppe im Parlament. So hoffnungslos ihre gegenwärtigen Aktionen manchmal auch scheinen mögen, so haben die Jahre in der Opposition sie doch mit mehr organisatorischem Know-how ausgestattet als die meisten ihrer neuen säkularen Konkurrenten.
Nach dem Prinzip des geringeren Übels
Die Bruderschaft selbst dürfte die Entscheidung vom vergangenen November, die Abfassung und Verabschiedung der neuen Verfassung zu beschleunigen, wohl als Zeichen der politischen Reife betrachten. Eine neue Verfassung sei dringend erforderlich gewesen, um den Fortgang des demokratischen Wandels in Ägypten zu gewährleisten. Wenn Mursi seine Macht nicht dafür genutzt hätte, die Verfassung durchzupeitschen, so ihre Argumentation, hätte die Gefahr bestanden, dass Richter, deren Loyalität nach wie vor dem alten Regime gehört, sie scheitern lassen und den Schwebezustand weiter verlängern. Selbst wenn der Schritt kurzfristig diktatorisch angemutet haben mag, so habe er doch dazu gedient, eine Verfassung zu verankern, die Mursis Macht in Wahrheit langfristig sogar beschneidet.
Für ihre Kritiker ist dieser Gedanke lächerlich. Sie sind vielmehr der Überzeugung, dass die Jahre in der Opposition die Brüder paranoid gemacht hat und halten sie deshalb für unfähig, eine Demokratie zu leiten, die ihren Namen wert ist.
Mursi sei zwar von einer deutlichen Mehrheit gewählt worden, doch ihrer Meinung hätten viele ihn nur widerstrebend unterstützt. Vergangenen Juni hätten viele ihn nicht deshalb gewählt, weil sie fest vom politischen Islam überzeugt wären, sondern weil Mursi bei den Stichwahlen das geringere Übel darstellte – verglichen mit Ahmed Shafik, einem Überbleibsel der Mubarak-Ära. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen stimmte wirklich eine Mehrheit von 55, 7 Prozent für nicht-islamistische Kandidaten.
Als Musri sein Amt antrat, schien er das zu respektieren, als er erklärte, er wolle ein Präsident aller Ägypter sein. Doch seitdem hat er nach Ansicht seiner Kritiker nur noch die Interessen der Bruderschaft im Sinn.
Ist es also möglich, dass die Macht die Bruderschaft ins Verderben stürzt? Bruderschafts-Biografin Pargeter glaubt das nicht, zumindest noch nicht so schnell: „Die Bewegung kann sich noch immer auf die Basis von Leuten verlassen, die sie gleichermaßen für das wählen, für was sie stehen, wie auch für das, was sie politisch machen oder erreichen.“ Ihrer Meinung nach sind sie noch immer in der Lage, die Leute auf eine Art und Weise zu erreichen, wie dies ihren nicht religiösen Konkurrenten nicht möglich ist.
Hamid hingegen hält es für denkbar, dass die größte Gefahr den Islamisten gar nicht von säkularer Seite droht, sondern von der religiösen Konkurrenz wie der zentristischen Partei Starkes Ägypten oder einer der salafistischen Gruppen. „Wenn man in Ägypten jung und religiös ist und Teil einer Bewegung sein möchte, dann wollte man vor zehn Jahren vielleicht der Bruderschaft beitreten. Heute aber verhält sie sich in der Regierung so kontrovers, dass viele den Eindruck haben könnten, sie seien zu politisch, und sich für eine der salafistischen Gruppen entscheiden, die nicht so direkt in die Politik involviert sind.“ Nach Ansicht von Hamid sind es solche Fragen, die die größte Herausforderung für die Bruderschaft in den Blick treten lassen: „Wie findet man das Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen einer religiösen Bewegung und konkreten politischen Zielen?“ Den 25 Brüdern, die am 22. März in einer Kairoer Moschee eingeschlossen waren, muss auf schmerzliche Weise klar geworden sein, wie schwierig diese Frage zu beantworten ist.
Patrick Kingsley arbeitet als Ägyptenkorrespondent für den Guardian. Von 2010 bis 2013 war er als Feuilletonist für die britische Tageszeitung tätig.
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