In einem der letzten Interviews, das Rumäniens Staatschef Nicolae Ceausescu vor seinem Sturz gab, wurde er von einem westlichem Journalisten gefragt, wie er rechtfertige, dass seine Bürger nicht frei ins Ausland reisen könnten, obwohl die Verfassung Freizügigkeit garantiere. Die Antwort gab es in bester Tradition stalinistischer Spitzfindigkeit: Die Verfassung garantiere zwar Bewegungsfreiheit, aber auch das Recht auf ein sicheres, prosperierendes Heimatland. Somit läge ein potentieller Interessenkonflikt vor. Wenn rumänischen Bürgern gestattet würde, das Land zu verlassen, wäre der Wohlstand ihrer Heimat bedroht. In diesem Konflikt müsse eine Wahl getroffen werden und das Recht auf ein sicheres, prosperierendes Heimatland genieße da klare Priorität.
Im heutigen Slowenien lebt dieser Geist offenbar fort. Im Dezember entschied das Verfassungsgericht, ein Referendum über ein Gesetz zur Einführung einer Bad Bank und einer staatlichen Beteiligungsholding sei verfassungswidrig. Damit verbot es faktisch eine Volksabstimmung. Gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Front machende Gewerkschaften hatten eine solche vorgeschlagen und so viele Unterschriften zusammengetragen, dass eigentlich ein Votum hätte ausgeschrieben werden müssen.
Panik in Brüssel
In besagte Bad Bank sollten alle faulen Kredite der großen Banken fließen. Die Geldinstitute wären dann mit staatlichen Geldern gerettet worden. Niemand hätte mehr sondieren können, wer ursprünglich für die faulen Kredite verantwortlich war. Diese Maßnahme war monatelang diskutiert worden und stieß längst nicht auf allgemeine Zustimmung – noch nicht einmal unter Finanzexperten. Warum also das Verbot des Plebiszits? Als Ende 2011 Griechenlands damaliger Premier Papandreou eine Volksabstimmung über die Sparmaßnahmen in seinem Land ankündigte, sorgte das in Brüssel für Panik. Doch selbst dort wagte niemand ein direktes Verbot.
Dem slowenischem Verfassungsgericht zufolge „hätte das Referendum verfassungswidrige Folgen“ nach sich gezogen. Wie das? Das Gericht bestätigte zwar das verfassungsmäßige Recht auf ein Referendum, behauptete aber, dessen Umsetzung würde andere in der Verfassung verankerte Werte bedrohen, denen in einer Wirtschaftskrise Vorrang einzuräumen sei: Das effektive Funktionieren des Staaters, vor allem im Blick auf zu schaffende Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum.
Das Gericht nahm bei der Einschätzung der Konsequenzen des Referendums also einfach die Annahme als gegebene Tatsache an, dass es zu einer Krise führe und deshalb verfassungswidrig sei, sich nicht dem Diktat internationaler Finanzinstitute zu unterwerfen (oder deren Erwartungen zu erfüllen). Gerade heraus gesagt: Da es die Vorraussetzung für die Aufrechterhaltung der Verfassungsordnung ist, diesen Diktaten und Erwartungen zu entsprechen, haben sie Vorrang gegenüber der Verfassung.
Weg durch ein Tränental
Slowenien mag ein ein kleines Land sein. Dennoch ist diese Entscheidung ein Symptom einer weltweiten Tendenz zur Einschränkung der Demokratie. Dahinter steht die Vorstellung, in einer komplexen ökonomischen Situation wie der heutigen sei die Mehrheit der Menschen nicht in der Lage, qualifizierte Entscheidungen zu treffen - die katastrophalen Folgen, die es hätte, wenn ihren Forderungen entsprochen würde, seien ihnen nicht bewusst. Neu ist diese Argumentationsführung nicht. Der Soziologe Ralf Dahrendorf führte das zunehmende Misstrauen gegenüber der Demokratie vor ein paar Jahren in einem Fernsehinterview darauf zurück, dass der Weg zu neuem Wohlstand nach einer revolutionären Umwälzung durch ein „Tränental“ führe. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus könne man nicht einfach zum Überfluss einer erfolgreichen Marktökonomie übergehen: Eingeschränkte, aber tatsächlich im Sozialismus vorhandene Wohlfahrt und Sicherheit müssten abgebaut werden. Diese ersten Schritte seien notwendigerweise schmerzhaft. Gleiches gelte für Westeuropa, wo der Übergang vom Nachkriegswohlfahrtsstaat zur neuen globalen Wirtschaft schmerzhafte Entsagungen, weniger Sicherheit und Abstriche bei der garantierten sozialen Fürsorge mit sich bringe.
Für Dahrendorf liegt das Problem in dem simplen Umstand, dass dieser schmerzhafte Übergang durch das „Tal der Tränen“ mehr Zeit in Anspruch nähme als in der Regel zwischen Wahlen liege. Deshalb sei die Verlockung groß, diese schwierigen Veränderungen zu Gunsten kurzfristiger Wahlerfolge aufzuschieben.
Dahrendorfs Paradigma ist dabei die Enttäuschung breiter Bevölkerungsschichten der post-kommunistischen Nationen über ökonomische Folgen der neuen demokratischen Ordnung: In den glorreichen Tagen von 1989 hätten sie Demokratie mit dem Überfluss in den westlichen Konsumgesellschaften gleichgesetzt. 20 Jahre später machten sie die Demokratie selbst dafür verantwortlich, dass sich dieser Überfluss bei ihnen immer noch nicht eingestellt habe.
Die wahre Botschaft
Leider schenkt Dahrendorf der gegenteiligen Versuchung sehr viel weniger Aufmerksamkeit. Was wäre, wenn die Mehrheit sich den notwendigen strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft widersetzen würde? Wäre dann nicht eine logische Konsequenz, dass eine aufgeklärte Elite – gar mit undemokratischen Mitteln – für etwa ein Jahrzehnt die Macht übernehmen sollte, um die notwendigen Maßnahmen durchzuführen und damit die Grundlagen für eine wirklich stabile Demokratie zu legen?
In diesem Sinne wies der Journalist Fareed Zakaria darauf hin, die Demokratie könne nur in wirtschaftlich entwickelten Ländern „Fuß fassen.“ Würden Entwicklungsländer „vorzeitig demokratisiert“, sei das Ergebnis ein Populismus, der in der wirtschaftlichen Katastrophe und in politischem Despotismus enden würde. Kein Wunder, dass die derzeit wirtschaftliche erfolgreichsten Entwicklungsländer wie Taiwan, Südkorea und Chile erst nach einer Periode der autoritären Herrschaft zur Demokratie zurückgekehrt sind. Und liefert ein solches Denken nicht das beste Argument für das autoritäre Regime in China?
Neu ist heute, dass angesichts der Finanzkrise das Misstrauen gegenüber der Demokratie, das einst auf die Dritte Welt oder post-kommunistische Entwicklungsländer beschränkt war, auch im industrialisierten Westen auf dem Vormarsch ist. Die bevormundenden Ratschläge, mit denen wir vor 10 oder 20 Jahren andere bedacht haben, betreffen nun auch uns selbst.
Ende Oktober 2012 zeigten vom IWF selbst veröffentlichte Forschungsergebnisse, dass die von den aggressiven Sparmaßnahmen verursachten ökonomischen Schäden sich auf ein Dreifaches der vorher angestellten Schätzungen beliefen. Damit macht der IWF die eigenen Sparempfehlungen für die Eurokrise zunichte. Nun gibt der IWF auch zu, dass es kontraproduktiv sei, Griechenland und andere Schulden-Länder zu zwingen, ihre Defizite zu schnell zu reduzieren. Diese Einsicht gab es allerdings erst, nachdem durch solche „Fehleinschätzungen“ Hunderttausende ihre Jobs verloren hatten.
Hierin liegt die wahre Botschaft der „irrationalen“ Proteste, zu denen es derzeit in den Euro-Krisenländern kommt. Die Demonstranten wissen sehr gut, was sie nicht wissen. Sie geben nicht vor, schnelle und einfache Antworten zu haben. Was ihr Instinkt ihnen sagt, ist nichtsdestoweniger wahr: Nämlich, dass diejenigen, die an der Macht sind, auch nicht mehr wissen. In Europa führen dieser Tage die Blinden die Blinden.
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