Einfach den Sauerstoff abdrehen

USA Die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus hat wie versprochen ihren Sturmlauf gegen die Gesundheitsreform begonnen und profitiert von zu passiven Demokraten

Die Republikaner feiern einen Sieg, nachdem sie Mitte der Woche die Abstimmung über die Aufhebung der Gesundheitsreform mit 245 zu 189 Stimmen gewonnen haben. Doch eine totale Aufhebung anzustreben, ist müßig – das Vorhaben würde den demokratisch dominierten Senat oder das Veto des Präsidenten nicht überleben, dennoch stellt das Votum eine reale Bedrohung für die Zukunft des Gesetzes dar.

Debatte und Abstimmung im Repräsentantenhaus erfüllten ihren Zweck, indem sie die erforderliche Theatralik aufbieten, um die Tea Party-Basis zufrieden zu stellen – der ist die Aufhebung des Gesetzes versprochen. Zudem konnten die Republikaner Präsident Obama unter die Nase reiben, dass es ihm nicht gelungen ist, die Öffentlichkeit zu gewinnen – und dass, obwohl er Millionen Amerikanern eine Gesundheitsversicherung verschafft sowie gleichzeitig das Haushaltsdefizit reduziert hat.

Höchst merkwürdiger Umstand

Umfragen lassen erkennen, dass ein erheblicher Teil der US-Öffentlichkeit die Rücknahme des Gesetzes befürwortet, wenngleich die Zahl nach dem Massaker in Tucson leicht gesunken ist. Diese Ablehnung ist auch ein Indikator dafür, dass die Öffentlichkeit über den Inhalt der Reform in frappierendem Maße fehlinformiert ist. Und das, obowohl die tatsächlich mit dem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen durchaus beliebt sind. Die Bevölkerung begrüßt eine allgemeine Versicherung, sie hält es für richtig, dass es den Versicherungskonzerne verboten ist, kranke Menschen zu diskriminieren. Die Versicherungspflicht ist weniger populär, aber als dritte Säule unabdingbar für den Zusammenhalt des Paketes. Geschätzt werden weiter Vorkehrungen zur Abschaffung des so genannten Doghnut Hole (Selbstbeteiligung an Medikamenten ab einer gewissen Kostengrenze), Steuergutschriften für kleine Unternehmen und die Möglichkeit für junge Menschen, bis zum 28. Lebensjahr über ihre Eltern versichert zu bleiben.

Warum also ist die Öffentlichkeit so irregeleitet? Dies ist zweifellos Verdienst eines verbissenen, weithin auf unverblümten Lügen basierenden Sturmlaufes der Republikaner vor und bei der Wahl im November. Die Demokraten haben auf diesem Schlachtfeld von Beginn an zurückhaltend agiert und waren nach der Unterzeichnung ihrer großen Errungenschaft sofort von dannen geeilt.

Das überparteiliche Congressional Budget Office hat errechnet, der Rücknahmeplan der Republikaner würde 32 Millionen Amerikanern eine Versicherung vorenthalten, die sich noch nicht im Rentenalter befinden. Zugleich, so das Office, wäre mit einem Anstieg der Staatsverschuldung bis 2021 um rund 230 Milliarden Dollar zur rechnen. Ein höchst merkwürdiger Umstand, bedenkt man, dass die „große, alte Partei“ doch behauptet, es sei die Reform, die das Land in den Ruin treibe. Merkwürdig auch, weil die Reduzierung des Haushaltsdefizits zu den Kernversprechen gehörte, mit denen die Republikaner die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewonnen und ihre Stimmen im Senat vermehrt haben. Die Parteiführung ist bemüht, diese Unstimmigkeit in der Wahrnehmung zu beseitigen, indem sie die offiziellen Berechnungen anzweifelt. Dabei pries noch vor wenigen Jahren der republikanische Vorsitzende des Senatsfinanzausschusses das Congressional Budget Office als Vermittlungsinstanz, an die sich der Kongress „laut Gesetz halten müsse.“

Runderneuertes Republikaner-Gesetz

Kaum jemand bemerkt, dass die Republikaner über ihre eigenen Ideen herfallen. Obamas Reformgesetz, das Konservative heute als sozialistisch schmähen, ist im Grunde genommen deckungsgleich mit dem Gesetzesentwurf, den Mitt Romney 2006 als Gouverneur von Massachusetts entwickelt und für den sich die rechte Heritage Foundation eingesetzt hat. Mehr noch – was Obama durchgesetzt hat, ähnelt bemerkenswert der republikanischen Alternative zu Bill Clintons Gesundheitsreformvorhaben in den frühen Neunzigern. Die konservative Natur des jeztigen Gesetzes ist schließlich auch der Grund dafür, weshalb sich der Enthusiasmus der Progressiven in Grenzen hielt. Auch dies hat der öffentlichen Wahrnehmung des Gesetzes geschadet. Den liberalen Aktivisten kann man dies nicht zum Vorwurf machen: Sie wollten fortschrittliche Reformen – im Idealfall Medicare für alle, aber im mindestens eben ein staatliches Versicherungsangebot (public option) oder einen Medicare Buy-in. Stattdessen bekamen sie ein runderneuertes Republikaner-Gesetz.

Letztlich war den Republikanern die Tatsache, dass Obama ihren Vorstellungen entgegenkam, dann aber doch Grund genug, sich derer zu entledigen. Politisch betrachtet dient ein permanenter Frontalangriff auf Obamas wichtigstes politisches Projekt natürlich besser dem erklärten Ziel, ihn zu einem Präsidenten zu machen, der nur eine Amtszeit regiert. Man will die Demokraten in die Defensive drängen und ihre Agenda vor den Wahlen 2012 verzögern. Dann nämlich werden sowohl das Weiße Haus als auch der Senat zu haben sein.
Man sollte daher nicht erwarten, dass die Republikaner ihre Angriffe auf die Gesundheitsreform unterlassen, selbst wenn der Widerruf im Senat scheitern sollte. Es ist einfach ein allzu süßes Ziel – die republikanische Basis hasst das Gesetz, und die Demokraten haben es bislang nicht geschafft, dessen Image in der Öffentlichkeit zu verbessern. Plan B der Republikaner besteht darin, das Gesetz in seine Einzelteile zu zerlegen und Stück für Stück abzuwürgen, indem sie das Geld für seine schrittweise Umsetzung bis 2014 verweigern. Plan C besteht darin, juristische Unterstützung zu organisieren, um das Gesetz durch die Gerichte schleifen zu lassen. Wie immer die Sache ausgeht, ist klar: Die größte Errungenschaft der Demokraten in einer Generation wird verkümmern und sterben, wenn es ihnen nicht gelingt, genügend Abgeordnete umzustimmen, damit sie dem Gesetz nicht den Sauerstoff abdrehen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt/Zilla Hofman
Geschrieben von

Sahil Kapur | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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