Bagdad ist noch nie die sauberste aller Städte gewesen. Der Müll, der überall, besonders aber auf den Straßen herum liegt, strapaziert meine Nerven aufs Äußerste. Allerdings keineswegs, weil ich so ein Ordnungsfanatiker wäre. Immerhin ist das hier Bagdad. Wer Wert auf tägliche Straßenreinigung legt, muss sich schon einen anderen Wohnort suchen. Der Grund für mein blankes Nervenkostüm ist, dass es eine Verhaltensregel gibt, die eigentlich für jeden oberste Priorität haben müsste, der die besonderste Überraschung überleben will, die Bagdad für Einwohner und Besucher bereit hält: Die improvisierten Sprengkörpern am Straßenrand, kurz auch ISS genannt. Diese Regel lautet: Halten Sie sich von allen verdächtigen Dingen fern, die Ihnen vor die Füße kommen.
Mein Cousin, der mich ein wenig im Auto herumfährt, scheint sich über mein andauerndes schreckhaftes Zusammenzucken köstlich zu amüsieren. Zielsicher macht er etwas ausfindig, das ich unweigerlich für das Loch einer kleinen ISS-Explosion halte und steuert darauf zu, während ich tief einatme und mit aller Kraft ein imaginiertes Gaspedal durchdrücke.
Über die Jahre hat jeder Einzelne von uns ein persönliches Regelwerk für das Überleben in Bagdad erstellt. Ich zum Beispiel fuhr stets im Zick-Zack-Kurs, um sämtliche Gegenstände auf der Fahrbahn zu umkurven und setzte in bestimmte Stadtteile niemals auch nur einen Fuß. Darüber hinaus trug ich immer zwei verschiedene Personalausweise bei mir – einen mit einem sunnitischen und einen mit einem schiitischen Nachnamen – und vermied Checkpoints überhaupt so gut es ging. Unter gar keinen Umständen hätte ich nach Sonnenuntergang noch das Haus verlassen.
Handy aus der Hand und Fenster auf!
Doch seit ich vor zwei Monaten nach zweijährigem Exil nach Bagdad zurückgekehrt bin, habe ich festgestellt, dass viele dieser Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr nötig sind. An den Checkpoints sind immer noch gewisse Regeln zu beachten. Man muss allerdings nicht mehr raten, ob der Mensch mit dem Gewehr in der Hand ein Sunnit oder ein Schiit ist. Die Checkpoints sind jetzt von irakischen Soldaten besetzt, die nervös werden, wenn sie sehen, dass man ein Mobiltelefon in den Händen hält, weil man damit Sprengkörperexplosionen auslösen kann. Deshalb gilt: Handy aus der Hand und Fenster auf. Meist werden lediglich ein paar Grußworte ausgetauscht, ab und zu muss man auch einmal den Kofferraum für eine Inspektion öffnen. Das alles passiert, als sei es das normalste der Welt.
Spannung und Unruhe wie man sie von früher kennt, bekommt man eigentlich nur noch zu spüren, wenn US-Fahrzeuge auf der Straße oder an einem Checkpoint stehen. Mit den Irakis kann man reden, sogar scherzen, die US-Soldaten hingegen sind unnahbar wie eh und je. Wenn sie auf den Straßen unterwegs sind, ist das ein Anzeichen dafür, dass irgendetwas nicht stimmt.
Zu den Bagdad-Überlebens-Regeln, die ich in den alten Tagen aufgestellt habe und nun völlig bedenkenlos breche, gehört die mir selbst auferlegte Ausgangssperre nach Sonnenuntergang. So ereignete sich die waghalsige Einschlagloch-Spritztour mit meinem Cousin um acht oder neun Uhr abends – auf dem Weg zu einer Eisdiele. Ich bin seit 2006 nicht mehr abends oder nachts in dieser Stadt unterwegs gewesen. Wie hätte ich also nein sagen können, als Kadhum, so heißt mein Cousin, und seine Frau Eiscreme in einem öffentlichen Garten in Aussicht stellen – und das zu für Bagdad so gottloser Stunde?
Zweimal Vanille mit Pistazienstreuseln
Während mein Cousin sich mit unseren Bestellungen in die Schlange stellt – zweimal Vanille mit Pistazienstreuseln für ihn und seine Frau, einmal jede chemische Geschmacksrichtung unter der Sonne für mich – lasse ich den Blick über die vielen Familien schweifen, die an den Tischen und Bänken ihr Eis und den milden Winterabend genießen. Vor zwei Jahren wäre dieser Anblick undenkbar gewesen. Damals wäre es nicht nur viel zu gefährlich gewesen, zu dieser Uhrzeit mit der ganzen Familie auszugehen, man mied jede Menschenansammlung in der Öffentlichkeit, da diese ständig zu Zielen von Selbstmordattentätern wurden. Jetzt sitzen wir eine Stunde lang hier und es fühlt sich genau an wie in den alten Zeiten.
Ein paar Tage später beschließen meine Mutter und ich, unser altes Viertel zu besuchen und zu schauen, was aus dem Haus geworden ist, das wir 2004 verlassen mussten. Doch wie wenig hat dieser Weg mit dem Ausflug zum Eisladen gemeinsam. Unser Haus liegt in einem Viertel Bagdads, das in den zurückliegenden drei Jahren unaussprechliches Grauen erlebt hat. Auf dem Weg kommen wir an einer Straße vorbei, die als das „Leichenhaus“ bekannt ist: Sie erhielt diesen grauenvollen Namen, weil Terroristen und Entführer hier Leichen für die Polizei zu hinterlegen pflegten. Auf dem Weg zu unserem ehemaligen Haus passieren wir einen Checkpoint nach dem anderen, fahren am Leichenhaus und an Betonmauern vorbei, die scheinbar kein Ende nehmen wollen. Auch wenn es hier heute viel sicherer geworden ist, sind von den alten Nachbarn kaum noch welche da. Es ist eine Geisterstadt geworden. Ich kann nicht schnell genug wieder hier weg. So bald werden wir wohl nicht hierher zurückkehren.
Seit meiner Rückkehr fragen meine Freunde mich oft: „Wie ist es in Bagdad?“ Es fällt mir nicht leicht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Ich sage ihnen dann, dass es darauf ankomme, wo man sich befindet. Im Zentrum der Stadt ist es toll – ich verliebe mich gerade aufs Neue. Bei anderen Teilen der Stadt tut es hingegen schon weh, nur hindurch zu fahren. Ich halte mich an die Orte, an denen es gerade gut ist.
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Salam Pax (arabisch und lateinisch für "Frieden") ist der Tarnname des anonymen "Bagdad-Bloggers", dessen Site während und nach der Invasion des Irak 2003 beträchtliches Medieninteresse hervorrief. Wikipedia schreibt dazu: In seinem Blog berichtete Salam vom Krieg, von seiner Homosexualität, seinen Freunden, dem Verschwinden von Personen unter dem Regime Saddam Husseins und seiner Arbeit als Übersetzer für den Journalisten Peter Maass. Salams Site ist benannt nach seinem Freund Raed, der an seinem Master-Abschluss in Jordanien arbeitete: Raed hatte nicht auf Mails reagiert, weshalb Salam das Weblog anlegte.
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