Egal, wohin man geht und wen man fragt, zu Pablo Iglesias hat in Spanien im Moment jeder eine Meinung. Es reicht schon, nur den Namen des erst 35-jährigen Vorsitzenden der linken Bewegungspartei Podemos („Wir können“) zu nennen, und schon hören die Menschen nicht mehr auf, über ihn zu sprechen. In Barcelona hat mir eine Frau erzählt, sie halte ihn vor allem für sehr anständig. Deshalb habe sie seit zehn Jahren zum ersten Mal gewählt und ihm ihre Stimme gegeben. Ein Monarchist aus San Sebastián, der am Tag der Amtseinführung von König Felipe VI. stundenlang gewartet hat, um einen Blick auf den jungen Monarchen zu erhaschen, ist hingegen skeptisch: „Iglesias will Spanien in eine Art neues Venezuela verwandeln.“
Am 25. Mai 2014 hat Podemos bei den Wahlen zum Europaparlament quasi aus dem Nichts mit 1,2 Millionen Stimmen fast acht Prozent erreicht und damit fünf Sitze im EU-Parlament gewonnen. Eine Sensation! Zumal, da sich Podemos nicht als eine Partei im eigentlichen Sinne, sondern als ein basisdemokratisches Netzwerk versteht, das aus den großen Sozialprotesten der Jahre 2011 und 2012 hervorgegangen ist. Diese Bewegung der Indignados, also der Empörten, hatten damals in unzähligen Städten Spaniens Menschen auf die Straße gebracht, um gegen die Massenarbeitslosigkeit und die Sparmaßnahmen der Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero zu demonstrieren. Auf der Madrider Puerta del Sol schlugen Aktivisten ihre Zelte auf, hielten Debatten und praktizierten Szenarien, wie eine alternative Politik aussehen könnte. Schließlich wurde das Zeltlager von der Polizei geräumt.
Die Partei Podemos wiederum ist erst im März dieses Jahres gegründet worden; sie stellt nun den Versuch dar, die Wut der Straße in die Parlamente zu bringen. Vor der Europawahl hat Iglesias noch als Politologe an einer Universität gearbeitet, heute ist er einer der fünf Podemos-Abgeordneten in Brüssel und, wie gesagt, der wohl im Moment am stärksten polarisierende Politiker Spaniens. Was ein bisschen überrascht, denn eigentlich wirkt der Mann eher ruhig. Auch die plötzliche Aufmerksamkeit und den Medienrummel um seine Person nimmt er eher gelassen hin: „Ich bin ein ganz normaler Mensch“, sagt er.
Iglesias trägt ein Hemd in den Farben der spanischen Republik von 1931 bis 1939. Rot, gelb, lila. Zum Schlafen sei er in letzter Zeit nicht viel gekommen, erzählt er, seine neue Funktion fordere ihn: Pressekonferenzen, Auftritte im Fernsehen und beim Rundfunk, Parteiversammlungen und die dauernde Pendelei nach Brüssel: „Die Reaktionen auf unser Wahlergebnis sind gewaltig, das Interesse der Menschen riesengroß. Sie setzen große Hoffnungen in uns. Wir sind sehr zuversichtlich und denken, dass wir einen historischen Beitrag leisten können, um in unserem Land eine politische Veränderung herbeizuführen.“
Aus Solidarität mit den spanischen Arbeitern verzichten die fünf Abgeordneten auf einen Teil ihrer Diäten. Auch auf der Liste stehen vollmundige Wahlversprechen Erhöhung des Mindestlohns, Abschaffung von Steueroasen, Frontex und Eurosur, die vollständige Verstaatlichung der Daseinsvorsorge sowie jener Banken, die mit Steuermitteln gerettet werden mussten, ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen und die Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre.
Gegen die privilegierte Elite
Während in anderen Ländern der EU viele Wählerinnen und Wähler euroskeptischen Parteien ihr Mandat gaben, haben viele Spanier nun also einen Linksruck vollzogen. Der in Madrid regierende Partido Popular und die Sozialdemokraten haben zusammen nicht einmal mehr die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten. Von den 81 Prozent, die sie noch im Jahr 2009 erhielten, sind sie meilenweit entfernt. Und als am Tag nach der Wahl der Vorsitzende des sozialdemokratischen Partido Socialista Obrero Español (POSE), Alfredo Pérez Rubalcaba, zurücktrat und nur eine Woche später auch König Juan Carlos abdankte, wurde beides auch als eine Reaktion auf die Forderung nach Veränderung interpretiert, die bei den Europawahlen artikuliert wurde.
Für Iglesias handelt es sich um den Anfang vom Ende jenes politischen Systems, das seit dem Ende der Franco-Diktatur beziehungsweise seit 1978 in Spanien herrscht. „In gewisser Weise sind es ihre Institutionen, die sich in der Krise befinden: eine Monarchie, die immer stärker mit Willkür und Korruption in Verbindung gebracht wird ebenso wie die etablierte politische Klasse und das sie erhaltende System.“ Das Ziel von Podemos bestehe nun darin, der gesellschaftlichen Mehrheit des Landes auch zu einer politischen Mehrheit zu verhelfen. Dazu solle jeder sich an der Politik beteiligen können, so Iglesias.
„Wenn die Menschen die Politik nicht selbst in die Hand nehmen, machen das andere für sie. Und wenn andere für einen Politik machen, versetzt sie das in die Lage, einem die Rechte zu nehmen, die Mitbestimmungsmöglichkeiten zu beschneiden und in den Geldbeutel zu fassen.“ Lösungen für das Land, so wird Pablo Iglesias nicht müde zu wiederholen, kämen nicht aus einer wie auch immer gearteten linken oder rechten Ideologie, sondern eher aus einer großen Bewegung gegen eine privilegierte Elite, deren Prioritäten nicht mit dem übereinstimmten, was für den Rest der Spanierinnen und Spanier am besten sei.
Der Erfolg von Podemos kam nun viel früher als erwartet. Das zwingt die Partei, schnell zu beweisen, dass es sich bei ihnen um mehr als ein vorübergehendes Phänomen handelt, das sich lediglich aus der Verdrossenheit von Protestwählern speist. Die Bewegung, die weder über Mitgliederlisten noch über eine feste Führung verfügt, sondern aus vielen übers Land verstreuten Arbeitsgruppen besteht, sieht sich nun einer bekannten Herausforderung gegenüber: ein Gleichgewicht zwischen basisdemokratischer Bewegung und funktionierender politischer Partei zu finden.
Den ersten großen Konflikt freilich gab es schon und deutsche Leser denken dabei natürlich sofort an die Piraten: Iglesias kündigte so ziemlich im Alleingang an, 25 Personen für verschiedene Ämter zu nominieren, über die bei einer Generalversammlung im Herbst abgestimmt werden solle. Seinen Parteifreunden aber gab er nur sechs Tage Zeit, um Alternativvorschläge einzureichen. Darin sahen einige Mitglieder einen Affront gegen die offene Struktur von Podemos.
Noch ist nicht ausgemacht, wie die Bewegung als Partei funktionieren wird. Das wird sich wahrscheinlich erst auf dieser Generalversammlung im Oktober zeigen, hofft Iglesias. Dort werde der Schwerpunkt auf der Ausarbeitung von Instrumenten liegen, die es der Partei erlauben, an ihrer partizipativen Ausrichtung und ihrem Bekenntnis zu direkter Demokratie festzuhalten. Manche sehen in diesem Bekenntnis zu direkter Teilhabe die Achillesferse der Partei, da dadurch unrealistische Ideen in sie hineingetragen werden könnten. Andere bezweifeln, dass die spanische Wirtschaft, die sich gerade erst aus einer langen Rezession erholt, tiefgreifende Veränderungen verkraften könnte.
Iglesias wischt diese Vorbehalte vom Tisch. „Vor der Demokratie braucht man keine Angst zu haben. Wenn jemand behauptet, es sei nicht praktikabel, die Menschen in die politischen Prozesse miteinzubeziehen, dann offenbart der damit schlicht eine zutiefst undemokratische Einstellung.“ Es sei wie beim Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Damals hätten auch viele behauptet, es würde im Chaos enden, wenn alle wählen könnten. „Wir haben gesehen, dass das nicht stimmt.“
In einem Land aber, in dem jeder Vierte erwerbslos ist, sei die Definition dessen, was „machbar“ sei, relativ, so Iglesias. „Es kann nicht sein, dass sechs Millionen Menschen erwerbslos sind und viele, die einen Job haben, dennoch unter der Armutsgrenze leben müssen. Unsere Forderungen sind alles andere als radikal. Vielmehr handelt es sich um äußerst umsichtige Maßnahmen, die unserer Meinung nach unerlässlich sind, um unser Land aus der Krise zu retten.“
Für ein gerechteres System
Umfragen zufolge gewinnt die Bewegung immer weiter an Zustimmung. Nach derzeitigem Stand könnte sie im spanischen Parlament zwischen 30 und 58 Sitze gewinnen. Das wären an die 15 Prozent der Wählerstimmen und damit fast so viel wie bei den Europawahlen. Doch je besser Podemos abschneidet, desto kritischer wird Pablo Iglesias beäugt. Er wurde bereits mit Adolf Hitler und Fidel Castro verglichen, musste sich Freak und Extremist schimpfen lassen. Andere werfen ihm vor, er rechtfertige den Terrorismus der ETA, nachdem er gesagt hatte, die Gewalt der Gruppe habe „politische Gründe“ und diese müsse man verstehen, wenn man eine demokratische Lösung des Konflikts finden wolle.
Manche der Angriffe aber haben ihn einfach nur amüsiert, sagt er. Beispielsweise als gespottet wurde, dass er seine Klamotten in einem Kaufhaus für Billigmode kauft. „Ich hätte nie gedacht, dass das jemanden interessieren und eine solche Debatte auslösen würde“, sagt er und grinst. Er sieht in solchen Sachen lediglich ein Indiz dafür, dass Podemos die Herrschenden nervös macht. „Das ist der Grund, weshalb sie beleidigen, diffamieren und zetern. Sie machen sich Sorgen.“
Jetzt ist es an ihm und seiner Bewegung, für wirkliche politische Veränderungen zu sorgen. Iglesias schließt die Möglichkeit aus, einmal das Land zu regieren. Sein Fokus liege nun darauf, einen politischen Beitrag zu leisten. „Wir wollen ein gerechteres Land. Ein Land, in dem der öffentliche Dienst funktioniert; in dem niemand aus seiner Wohnung geschmissen wird; in dem es öffentliche Krankenhäuser gibt und staatlich garantierte Renten; ein Land, in dem die Menschen Arbeit haben, ihren Kühlschrank auffüllen können und ihren Kindern alles kaufen können, was sie für die Schule brauchen. Nichts weiter.“
Ashifa Kassam berichtet für den Guardian aus Spanien
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