Elektrobeats und Stromausfall

Musik Es ist gut für die Figur, die Turntables ständig mit sich herumzutragen: Die Clubszene im Kosovo ist arm und klein, aber äußerst kreativ

Der aus Pristina stammende Elektromusiker Toton hat ein Lied mit dem Titel Coca-Cola geschrieben, in dem er den Hersteller des weltweit wohl beliebtesten Getränkes darum bittet, er möge doch einfach das Kosovo kaufen, es rot anstreichen und seinen Schriftzug überall anbringen, wo es ihm gefällt. Er dürfe alles machen, wenn er nur im Gegenzug die Probleme mit der Stromversorgung löse. Das gesamte Kosovo wird von nur zwei Thermalkraftwerken mit Elektrizität versorgt. „Wir sind wahrscheinlich die einzigen Elektromusiker, die ohne Strom Musik machen. Unsere Politiker müssen die Sache endlich in den Griff kriegen“, sagt er.

Kosovo hat die jüngste Bevölkerung Europas – 60 Prozent der Kosovaren sind unter 25 – und dank einer kleinen kosmopolitischen Gruppe von Produzenten und Veranstaltern gleichzeitig eine der fortschrittlichsten und dynamischsten Szenen für elektronische Musik. Das Zentrum von Pristinas Techno-Szene – der Spray Club – schaffte es im DJ Magazine sogar unter die Top 100 der weltweit besten Clubs und Platten kosovarischer Produzenten werden von international renommierten DJs wie Richie Hawtin aufgelegt.

Die Szene ist klein: wenn man Freitagabend einen DJ trifft, hat man spätestens am Sonntag mit allen angestoßen. Veranstalter rufen sich gegenseitig zu allen Tages- und Nachtzeiten an, um Stecker, Kabel oder Leuchten auszuleihen – was auch immer gerade durchgebrannt ist und schnell ersetzt werden muss.

Sendungsbewusstsein

Alles begann mit einem Lied. 1995 brachte Josh Winks Higher State of Consciousness eine Generation kosovarischer Punk-Kids zum Techno. Man hatte nicht das Geld für das nötige Equipment, also musste improvisiert werden, bis man das Geld für die richtigen Mischpulte zusammengespart hatte. In besetzten oder einfach nur leerstehenden Häusern wurden Partys gefeiert, auf denen es an Drogen nie mangelte, da das Land strategisch günstig an den Versorgungsrouten zwischen Afrika, Asien und Europa liegt. Man erzählt sich, dass in den Neunzigern in Pristina jeder Vierte auf Acid unterwegs gewesen sei.

Außer im Sommer ist Pristina eine düstere Stadt. Der scheinbar unaufhörliche Regen bringt Asche und Mineralienpartikel mit sich, die alles bedecken und schmutzig erscheinen lassen. Nach Einbruch der Dunkelheit fühlt man sich wie in einer verlassenen Stadt. Mit dem Acid konnte man zwar der Düsternis entkommen, als sich aber 1998 die Kämpfe zwischen UCK und der jugoslawischen Armee zuspitzten, war es mit dem Feiern erst einmal vorüber.

Die Mehrzahl der Bewohner des Kosovo sind ethnische Albaner. Während des Krieges floh über eine Million von ihnen hauptsächlich nach Deutschland, in die Schweiz, die USA und Großbritannien. Die jungen Leute hielten aber Kontakt, indem sie Kosovos einzigen unabhängigen Radiosender radiourban FM hörten, der nach den Luftangriffen der NATO auf serbische Städte im Frühjahr 1999 auf Sendung ging und die neue elektronische Musik aus dem Kosovo spielte. Toton gab seinen Beruf auf, um sich wie viele andere fast unentgeltlich um den Sender zu kümmern. Gewissermaßen als Gegenleistung für dieses Engagement übten sich die Hörer in Geduld und schalteten während der zahlreichen Blackouts nicht gleich um.

Gut im Improvisieren

Im Unterschied zu den herkömmlichen Sendern bietet radiourban FM Informationen über lokale Gigs und Events und trägt dazu bei, der Szene Bedeutung zu verleihen. Sicherlich hatte der Sender auch einen gewissen Anteil daran, dass viele auf der ganzen Welt verstreute Kosovaren schließlich nachhause zurückkehrten. Erna, die von ihren Freunden nur Bass Face genannt wird, hatte von Anfang an mit dem Aufbau des Senders zu tun und machte eine eigene Sendung mit neuer Musik. „Das ist der einzige Sender in Kosovo, auf dem man die Freiheit hat zu sagen, was man will und sich Underground-Tracks anhören kann“, sagt sie. Ihr gehört eine Bar namens Llocks, einer der wenigen Locations in Pristina, die über eine ordentliche Anlage verfügen. In einem Land, in dem die Straßen Asphalt und die Krankenhäuser Betten brauchen und man zuhause nie weiß, ob aus den Hähnen auch Wasser kommt, stehen Soundsysteme ganz weit unten auf der Prioritätenliste. Aber die Kosovaren sind gut im Improvisieren. Wenn ein DJ spielen will, dann wird ihm das auch irgendwie ermöglicht.

Equipments werden je nach Bedarf herumgereicht und untereinander verliehen. Toton hat gelernt, auf einem Set von Decks zu mischen, mit dem die halbe Straße arbeitet. „Nicht jeder kann sich einen ordentlichen Mixer oder Turntables leisten.“ Obwohl er schon in ganz Europa und den USA aufgelegt hat, hat er immer noch keinen eigenen Plattenspieler zuhause.

„Wir machen das beste aus dem, was wir zur Verfügung haben“, sagt Likatek, ein anderer kosovarischer DJ, der den Sprung von nationalen zum internationalen Star geschafft hat. „Das Ganze hat schon auch seinen Charme. Außerdem ist es gut für die Figur, wenn man das Equipment ständig in der Gegend herumtragen muss.“

Trotz der praktischen Schwierigkeiten verlangen die kosovarischen Club-Gänger nach guter Musik. Bis vor ein paar Jahren gingen viele von ihnen in London, New York oder Berlin aus und machen jetzt, wo sie zurück sind, in Bezug auf die Qualität keine Kompromisse. Noch vor einem Jahr arbeitete Besa für den New Yorker, heute hat sie in Pristina ihre eigene Publikation. Sie deutet die Do-it-yourself-Kreativität im Kosovo als Reaktion auf die neunziger Jahre, in denen die Regierung Milosevic in Belgrad die Meinungsfreiheit stark einschränkte. „Wir mussten andere Wege finden, uns auszudrücken“, sagt sie.

Warten auf die EU

Heutzutage müssen die Musiker sich nicht mehr vor Repressionen fürchten, aber sie müssen hin und wieder bei größeren Veranstaltungen im Ausland spielen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Das ist nicht so leicht. Das Visa-Verfahren sieht vor, dass jemand, der ausreisen will, nachweisen muss, dass er auch wieder zurückzukommen gedenkt. Es fällt den Behörden schwer zu glauben, dass junge DJs ohne Ersparnisse, familiäre Verpflichtungen oder einen festen Arbeitsplatz zurückkommen wollen, weshalb viele Kosovaren früher oder später kein Visum mehr erhalten. Eines Tages wird das Kosovo sicherlich der EU beitreten – Deutschland, Frankreich und Großbritannien unterstützen seine Aufnahme – und das Reisen wird einfacher werden. Aber das Warten kann einen schon verrückt machen, vor allem, wenn Künstler Festivals und Auftritte absagen müssen, um die sie zuvor hart kämpfen mussten. „Die ausländischen Veranstalter können sich meistens überhaupt nicht vorstellen, was hier alles von einem verlangt wird, um ausreisen zu können und ich mache ihnen daraus keinen Vorwurf, denn schließlich waren sie noch nie so in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.“

Lustigerweise ist eines der wenigen Länder, in das die DJs ohne Probleme reisen können, Serbien; für die Serben gehört das Kosovo ohnehin noch zu Serbien. Toton war einer der ersten DJs, die nach dem Krieg in Serbien spielten. Er sollte im Verließ eines Schlosses auflegen und hatte die ganze Nacht eine schöne, getönte Blondine an seiner Seite. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sagte sie ihm gleich zu Beginn: „Ich bin nicht hier, um dich zu ficken. Ich bin hier, um dich zu beschützen.“ Sie hatte den schwarzen Gürtel in etwa einem halben Dutzend Kampfsportarten.

Es wäre falsch so zu tun, als würde die neue kosovarische Regierung kein Geld zur Förderung der nationalen Musikszene herausrücken, aber allzu oft gibt das Handelsministerium das Geld für fragwürdige Zwecke aus. So finanzierte es beispielsweise für eine halbe Million Euro ein Konzert mit Elvis- und Abba-Imitatoren, bei dem Samanta Fox als Headliner auftrat. Sicherlich erhält die Elektro-Szene in kaum einem Land Unterstützung von der Regierung und die DJs im Kosovo wissen dies natürlich. Ihnen würde es schon genügen, wenn die Verantwortlichen das Problem mit der unregelmäßigen Stromversorgung in den Griff kriegen würden.

Wer in Europa nach einem Beweis sucht, dass religiöse Toleranz, Zusammenarbeit und Optimismus auch vor dem Hintergrund materiellen Mangels gedeihen können, dann könnte er es wesentlich schlechter treffen, als sich einmal die Elektro-Szene des Kosovo näher anzusehen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Conor Creighton, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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