Das britische Unterhaus hat sich in der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode so sehr diskreditiert wie kein anderes vor ihm. Über 200 Parlamentarier mussten bislang Gelder zurückerstatten, die sie unrechtmäßiger Weise für ihre Aufwendungen erhalten hatten. Dutzende Karrieren, darunter auch die einiger Minister, fanden ein jähes Ende. Gegen einige Abgeordnete laufen immer noch Verfahren, auch Gefängnisstrafen drohen. Nach dem bisherigen Stand haben sich beachtliche 147 Abgeordnete aus allen Parteien entschlossen, nunmehr das House of Commens endgültig zu verlassen und nicht wieder zu kandidieren – so viele wie noch nie. Parlamentssprecher John Bercow – einer der wenigen, die gestärkt aus dieser Legislatur hervorgehen – sagt dazu, die Ereignisse des Jahres 2009 hätten den Commons so viel Schaden zugefügt wie die deutsche Luftwaffe 1941. Dieser Vergleich scheint nicht übertrieben. Man fühlt sich auch an Oliver Cromwells berühmte Worte der Geringschätzung erinnert, die er 1653 gegenüber dem sogenannten Rumpfparlament äußerte: „Der ganzen Nation seid ihr verhasst geworden ... Im Namen Gottes, geht.“
Es gibt noch einen weiteren Grund, der diese Wahlen notwenig macht. Großbritannien braucht nicht nur ein neues Parlament, sondern auch eine neue Regierung. Gordon Brown hat nun fast drei Jahre lang regiert, ohne jemals zum Premierminister gewählt worden zu sein. Das allein wäre indes nicht das Problem – von den 26 Premierministern, die Großbritannien seit der Jahrhundertwende geführt haben, kamen immerhin bereits 14 vor ihm auf diese Weise ins Amt. Doch die Geschlossenheit und Tatkraft, von denen die ersten Wochen nach Gordon Browns Amtsantritt geprägt waren, sind schon lange von der Last der Ereignisse erdrückt worden. Nur 14 seiner ursprünglichen 22 Kabinettsmitglieder sind noch mit von der Partie, nur neun von ihnen im gleichen Amt. Und auch von diesen 14 konnten sich einige nur mit Müh und Not auf ihrem Posten halten. Zu ihnen gehört nicht zuletzt Gordon Brown selbst, der bereits drei Putschversuche überstanden hat, dabei allerdings mächtig an Autorität einbüßte.
Die scheidende Regierung hat sich in den internen Schlachten verschlissen, der Regierungschef ist angeschlagen und seine Partei macht von Zeit zu Zeit einen recht erschöpften Eindruck. Den Wählerinnen und Wählern muss auf sehr schlagkräftige Weise vermittelt werden, warum sie das vierte Mal in Folge eine Labour-Regierung wählen sollten. Die Sozialdemokraten haben bis zum 6. Mai Zeit, neues Vertrauen zu gewinnen.
Dies ist einer der vielen Gründe, warum der gestern begonnene Wahlkampf von so großer Bedeutung ist. Wahlen werden manchmal auf den einfachen Nenner "Kontinuität gegen Veränderung" gebracht. Es wäre ziemlich erbärmlich, wenn dies wirklich die Wahl sein sollte, vor der Großbritannien 2010 steht. Die Wähler haben ein Recht, mehr zu erwarten. Ein Land, das von der schwersten Finanzkrise seit 80 Jahren erschüttert wurde und das mit einem Bein immer noch in der tiefsten Rezession seit Jahrzehnten steckt, braucht eine viel tiefer und weiter reichende Debatte als die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, die anderen auch mal wieder ran zu lassen; ein Land, das sich gegen Ende des kommenden Jahres länger und ohne Unterbrechung im Krieg befunden haben wird, als die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammengenommen gedauert haben; ein Land, das vor existentiellen Fragen in Bezug auf das Gleichgewicht seiner Wirtschaft, seine Schuldenkultur, die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, seine Energieversorgung, Fragen der Zentralisation, des Wahlsystems, der Qualität seines öffentlichen Dienstes, seiner Abhängigkeit von Arbeitsmigration sowie nach seinem grundsätzlichen Platz und seiner Rolle in der Welt steht, um nur einige zu nennen.
Gordon Brown hat gestern versucht, die Wahl auf die Frage nach den richtigen Maßnahmen zur Gewährleistung der wirtschaftlichen Erholung einzuengen. Oppositionsführer David Cameron hingegen hat sie einzig als Chance dargestellt, Gordon Brown loszuwerden. Es geht aber mit Sicherheit um mehr und vieles wird in den kommenden Wochen davon abhängen, ob die Liberaldemokraten und die kleineren Parteien – nicht zuletzt die Grünen – es vermögen, eine weiter reichende Debatte über die Zukunft des Landes anzustoßen, als den beiden großen Parteien lieb ist. Die kommende Wahl wird zu einer der wichtigsten Herausforderung der jüngeren Geschichte – eine Herausforderung nicht nur für die Parteien, sondern für die gesamte politische Kultur des Landes. Die kommenden Wochen bieten die Gelegenheit, mit einer gescheiterten Vergangenheit zu brechen.
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