Sie konnte nicht mehr schlafen. Als sie Mitte November in Serbien ankam, um einen richtigen Spielfilm zu drehen, sei sie dort nach zwölf Stunden am Set immer wieder nachts von Albträumen aus dem Schlaf gerissen worden, erzählt Stoya. Die Dreharbeiten lenkten sie ab – und sie hielten sie davon ab, online zu gehen. „Es war keine Zeit für irgendetwas anderes.“
Doch durch den Dreh kam auch vieles wieder hoch, denn sie spielte eine Frau, die von einem Bekannten vergewaltigt wurde – all die Erinnerungen an ihren Ex und ihre gemeinsame Arbeit waren wieder da, Dinge, über die sie zuvor nie öffentlich geredet hatte. Nachdem sie endlich eine Nacht durchgeschlafen hatte, dachte sie daran, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Und nachdem sie eine weitere Nacht darüber geschlafen hatte, fasste sie den Entschluss: „Ich konnte den Gedanken nicht mehr länger ertragen, dass einer anderen Frau ebenfalls etwas so Schreckliches widerfahren könnte, nur weil ich schwieg.“
Am 28. November schrieb Stoya auf Twitter: „Dieses Ding, mit dem man sich für eine Sekunde ins Internet einloggt, um zu sehen, dass Leute den Kerl, der dich vergewaltigt hat, zum Feministen verklären, dieses Ding nervt.“ Und dann: „James Deen hielt mich fest und hat mich gefickt, obwohl ich ‚Nein‘ gesagt habe, ‚hör auf‘, und mein Safeword benutzt habe. Ich kann nicht mehr länger so tun, als wäre nichts gewesen und lächeln, wenn irgendwo über ihn geredet wird.“ Dann loggte sie sich aus.
Von wegen Berufsrisiko
Während Stoya offline war und sich nicht mehr äußerte, fragten Fans und Journalisten sich, was es mit dieser Vergewaltigungsgeschichte in zwei Tweets auf sich haben mochte. Immerhin handelte es sich um zwei der prominentesten Pornodarsteller, die zudem einmal eine sehr öffentliche Beziehung miteinander geführt hatten. (James Deen dementierte Stoyas Geschichte auf Twitter. Der Bitte um einen Kommentar ist er bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes nicht nachgekommen.)
Schnell meldeten sich andere Pornodarstellerinnen zu Wort. Manche erhoben ähnliche Vorwürfe gegen Deen und betonten, dass auch sie ein Recht darauf hätten, dass ihre Grenzen respektiert würden – ganz egal, was in den Filmen alles zu sehen sei. Denn im öffentlichen Bewusstsein hält sich hartnäckig die Vorstellung, Sexarbeiterinnen könnten überhaupt nicht vergewaltigt werden. Hat Stoyas Intervention daran etwas geändert?
„Endlich hat mal jemand den Mund aufgemacht“, sagt ihre Kollegin Arabelle Raphael, die den Fall verfolgt hat. Er gehe ihr nahe, schließlich habe sie 2010 ihre allererste Pornoszene mit Deen gedreht. Ein paar Jahre später habe eine ihrer engsten Freundinnen ihr erzählt, sie sei von Deen vergewaltigt worden.
„Die Leute wussten Bescheid“, sagt Raphael. „Es gab viele, die es wussten – nicht alle, aber viele. Manche haben wirklich auch gute Erfahrungen mit ihm gemacht, aber das hat nichts zu bedeuten.“ Man habe sich in der Branche erzählt, was man von Deen gehört habe, sagt Raphael. „Ich erinnere mich daran, wie ich mich auf meinen ersten Gang Bang vorbereitet habe und mich mit den Kolleginnen unterhielt. Was musste ich wissen? Ich hatte das noch nie gemacht und war sehr aufgeregt. Konnten sie mir vielleicht ein paar Tipps geben? Da sagten zwei zu mir: ‚Setz James Deen auf die rote Liste der Darsteller, mit denen du keine Szenen drehen willst.‘“
Sie sei stolz auf Stoya, sagt Sydney Leathers. „Das war mutig von ihr.“ Leathers begann ihre Pornokarriere kurz nachdem sie als Sexting-Partnerin des US-Kongressabgeordneten Anthony Weiner geoutet wurde. Als sie angefangen habe, habe man sie ebenfalls vor Deen gewarnt. 2013 sprach Leathers bei einer Tagung mit der Pornodarstellerin und -produzentin Joanna Angel. „Ich erinnere mich an einen ganz bestimmten Satz von ihr: ‚Er versucht gerne, Frauen zu brechen.’ Ich fand das ziemlich beunruhigend und mir war klar, dass Joanna es ernst meinte. Deshalb stand er bei mir schon immer auf der roten Liste.“
Nachdem Stoya per Twitter bekannt gemacht hatte, was ihr widerfahren war, dauerte es nicht lange, bis weitere Frauen aus der Pornobranche sich meldeten. Sie alle sagten, Deen habe auch sie vergewaltigt. Deens Karriere steht deshalb nun vor dem Aus. Pornounternehmen haben die Zusammenarbeit mit ihm aufgekündigt.
„Das ist das erste Mal, dass so viele Frauen über einen Mann den Mund aufmachen“, sagt Raphael. „Denn wir wollen eigentlich nicht darüber reden. Es denken ohnehin alle, dass wir quasi permanent vergewaltigt werden.“
Deen hat in der Branche eine Zeit lang eine Nische besetzt. Er sieht nicht aus wie ein Pornodarsteller – jungenhaft und zugänglich, er könnte als Hipster durchgehen. Weibliche Kommentatorinnen stellten ihn als Darsteller hin, der sogar Feministinnen gefallen könnte. Obwohl er selbst immer darauf bestand, kein Feminist zu sein.
In der Branche habe es Gerüchte über Deen gegeben, sagt Stoya – private Warnungen hinter vorgehaltener Hand. Aber in der Öffentlichkeit? „Niemand hat etwas gesagt, und ich hatte nicht das Gefühl, ich könnte etwas sagen. Doch von dem, was ich höre – denn ich schaue zurzeit nicht auf Twitter –, läuft die öffentliche Debatte darüber in gewisser Weise überraschend gut. Es gibt natürlich die Leute, die sagen: ‚Nun ja, eine Sexarbeiterin kann man doch eigentlich nicht vergewaltigen.‘ Oder: ‚Sie verteidigt die Pornobranche noch immer, obwohl sie von einem Pornodarsteller vergewaltigt wurde‘ – deswegen hatte ich ja solche Angst, überhaupt etwas zu sagen.“
Das Vorurteil, dass niemand freiwillig als Pornodarstellerin arbeite und die Unterscheidung zwischen Porno und Vergewaltigung somit bedeutungslos sei, ist auch in unserer ultraliberalen Gesellschaft ziemlich langlebig. Wer über seine Vergewaltigung spricht, Pornodarstellerin oder nicht, riskiert, dass am Ende mehr über die sexuelle Geschichte des Opfers geredet wird als über die Vergewaltigung. Bei Pornodarstellerinnen kommt hinzu, dass das, was als ihre sexuelle Geschichte betrachtet wird – ihre Arbeit – bereits öffentlich ist.
Wie andere Pornodarstellerinnen ihrer Generation hat Stoya aber direkten Zugang zur Öffentlichkeit. Sie entschied sich für Twitter. Die geografische Entfernung, die der Dreh in Belgrad mit sich brachte, gab ihr eine gewisse Sicherheit, sagt sie. „Wenn ich es jetzt nicht sage, wann denn dann? Soll ich das Geheimnis den Rest meines Lebens mit mir herumtragen? Dazu bin ich nicht der Typ.“
Als es passierte, seien sie gerade in San Francisco gewesen. Deen und sie hätten nicht gearbeitet. Ich frage sie, mit welchen Worten sie es heute beschreiben würde. „Wenn man jemanden festhält und ihn fickt, während er ‚Nein‘ und ‚Stopp!‘ sagt, und er sein Safeword benutzt, dann ist das eine Vergewaltigung. Doch als es geschah, war ich wie benommen und fühlte gar nichts. Am nächsten Tag ging ich zur Arbeit und habe zwei Tage später auch wieder eine Szene mit ihm gedreht, vielleicht auch drei. Ich bin mir nicht sicher. Dann hatte ich das Gefühl, von jemandem verletzt worden zu sein, dem ich vertraut hatte.“
Ein symptomatischer Fall
Sie versuchte, mit ihm darüber zu reden, sprach von Gewalt in der Beziehung. Was hatte er sich dabei gedacht? Er habe ihr geantwortet, ihre Tränen würden ihn beleidigen. „Ich habe Monate gebraucht, letztlich über ein Jahr, bis ich schließlich in der Lage war, die Sache beim Namen zu nennen. Man nennt das Vergewaltigung.“
Nach Stoyas Tweets über Deen haben sich auf Twitter auch Pornokritikerinnen zu Wort gemeldet, um die Geschichte als Symbol für das zu deuten, was an Porno grundsätzlich nicht stimmt. Leathers war eine von mehreren Pornodarstellerinnen, die sich gegen diese von feministischen Pornogegnerinnen gefahrenen Angriffe zur Wehr setzten. Ihr Argument lautet, diese Kritikerinnen würden Stoya nicht so zuhören, wie sie das bei anderen Frauen tun. Aktivistinnen, die sich für die Belange von Sexarbeiterinnen einsetzen, halten den Fall dagegen auf andere Art für symptomatisch: Sexarbeiterinnen würden grundsätzlich nicht ernst genommen, wenn sie Vergewaltigungsvorwürfe erheben.
Viele Betroffene halten deshalb lieber gleich den Mund: „Die Branche ist so marginalisiert, dass die Leute Angst haben, über ihre Probleme zu sprechen, weil wir ohnehin schon in so vielerlei Hinsicht angegriffen werden“, sagt Leathers. Aber obwohl es auch in Stoyas Fall ein paar negative Reaktionen in der Branche gegeben habe, scheinen alle sie zu unterstützen. „Wir hoffen alle, dass wir auch so behandelt werden würden, wenn wir an Stoyas Stelle wären“, sagt Leathers.
Wenn Darstellerinnen zögern, über einen sexuellen Übergriff zu sprechen, hat das auch ökonomische Gründe, meint der Regisseur Tobi Hill-Meyer: „Ich würde sagen, ein wichtiger Grund dafür ist, dass Pornodarstellerinnen Vertragsarbeiterinnen sind.“ Wie andere abhängig Beschäftigte in vielen Bereichen leben sie von einem Auftrag zum nächsten. Bei Pornodarstellern hänge die Bezahlung davon ab, wie gut man es verstehe, seine Arbeit zu vermarkten“, sagt Hill-Meyer. „Man muss sich öffentlich verkaufen können, das macht die öffentliche Wahrnehmung so wichtig.“
Man erzählt den Frauen zwar, dass sie arbeiten könnten, mit wem sie möchten, aber die Wirklichkeit sieht oft anders aus. „Die Branche ist doch sehr klein“, sagt Leathers. Wenn man die Arbeit mit einem bestimmten Darsteller ablehne, selbst wenn dies aus Sicherheitsgründen geschehe, könne es sein, dass das auf einen selbst zurückfalle und die Kollegen dächten, man könne nicht mit anderen auskommen oder neige dazu, Dinge zu dramatisieren. „Du bist am Ende der Troublemaker, selbst wenn du nur versuchst, dich zu schützen.“
Zu dem prekären Status und dem Druck, immer neue Aufträge zu erhalten, kommt die Notwendigkeit, in der Öffentlichkeit immer ein positives Bild zu präsentieren – die Kehrseite der direkten Verbindung zur Öffentlichkeit, die Pornodarsteller heute durch soziale Medien haben. „Du kriegst nicht einmal einen Auftrag, wenn du nicht in den sozialen Medien präsent bist und deine eigene Marke pflegst“, sagt Hill-Meyer. Einige Darstellerinnen hätten Angst, sie könnten keine Aufträge mehr bekommen, wenn sie ihre Unterstützung für Stoya öffentlich zum Ausdruck brächten, sagt Raphael. Und sei es bloß, indem sie ihre Nachricht retweeteten.
„Es ist schwierig zu verstehen, wie schwer die gesellschaftliche Stigmatisierung wiegt, solange man es nicht selbst erlebt hat“, sagt Leathers. „Ich habe zum Beispiel Morddrohungen erhalten, nur weil ich Pornos mache.“ Das Stigma hängt auch mit dem zusammen, was manche Feministinnen Rape Culture nennen. „Und leider kommt es überall zu Vergewaltigungen, die Rape Culture existiert überall,“ sagt Raphael. „Man braucht sich nur anzusehen, wie auf Uni-Campussen damit umgegangen wird. Und wenn Polizisten Sexarbeiterinnen vergewaltigen, kommen sie ebenfalls damit davon.“
Am Tag nachdem sie ihre Geschichte auf Twitter öffentlich gemacht hatte, habe sie zahlreiche E-Mails von anderen Frauen erhalten, sagt Stoya. Nicht nur aus der Branche, sondern auch aus den Medien. Sie hätten sich bei ihr bedankt und ihr berichtet, dass auch sie von Bekannten vergewaltigt worden seien und geschwiegen hätten. „Das ist nicht nur ein Pornoproblem“, sagt Stoya. „Es passiert verdammt noch mal überall.“
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