Aggressivität in der türkischen Außenpolitik ist ein neues Phänomen. Sie machte sich zuerst 2009 bemerkbar, als Tayyip Erdoğan beim Weltwirtschaftsforum in Davos den damaligen israelischen Präsidenten Schimon Peres beleidigte, indem er ihn mit einer türkischen Duzform ansprach, die üblicherweise für Hunde verwendet wird, und ihm Gräueltaten im Gazastreifen vorwarf. Das kam nicht nur bei Erdoğans Anhang zu Hause gut an, sondern verschaffte ihm auch in der arabischen Welt viel Beifall. Damals noch Ministerpräsident, sonnte er sich in diesem Glanz und wollte schließlich im Arabischen Frühling 2011 groß auftrumpfen. Besonders der Wandel in Syrien war ihm ein Anliegen. Es erzürnte ihn, dass Präsident Baschar al-Assad alle Appelle zu Reformen an sich abprallen ließ. In Ankara stellte man sich vor, in Syrien eine „muslimische Demokratie“ nach türkischem Muster einzuführen.
Da er fest mit Assads Fall rechnete, tat Erdoğan nichts, um dem aufflammenden Bürgerkrieg im Nachbarland entgegenzuwirken, nahm aber zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Überzeugung auf, sie würden bald wieder zurückkehren. Das taten sie nicht. Stattdessen wurde die Lage in Syrien immer unübersichtlicher, zumal ein Gebiet an der türkischen Grenze unter kurdische Kontrolle fiel. So etwas gilt seit jeher als Gefahr für die territoriale Unversehrtheit der Türkei, deren Südosten ebenfalls weitgehend kurdisch ist. Dann griff auch noch Russland ein, um Assad zu stützen. Eine Reaktion Ankaras war der Abschuss eines russischen Kampfjets – ein Affront, wie er selbst im Kalten Krieg kaum denkbar war. Wohin das führt, weiß niemand, doch ist anzunehmen, dass sich die Urheber einer solchen Regionalpolitik schon bald nach alten Zeiten sehnen werden.
Vorsicht und Vernunft
1923, als die Türkei ihre heutige Gestalt erhielt, verblieben einige lose Enden. Eines davon war der Grenzverlauf zum Nordirak, sprich: Kurdistan. Die Briten legten die Demarkationslinie 1926 gemäß ihren Ölinteressen fest, obwohl die Türkei Kurdistan eigentlich als eigenen Besitz betrachtete. Dennoch ließ sie sich auf die Regelung ein und betrieb eine zurückhaltende Außenpolitik gemäß den Worten des Staatsgründers Kemal Atatürk: Frieden in der Heimat – Frieden in der Welt.
Intervenierte die Türkei – wie 1974 auf Nordzypern –, so tat sie es auf Einladung der dortigen türkischen Bevölkerungsgruppe. Anderweitig ließ sie stets größte Vorsicht walten, besonders gegenüber Russland. Trotz unzähliger Exilanten aus dem Kaukasus – in den 30er Jahren war die Hälfte der türkischen Stadtbevölkerung im Ausland geboren – war kaukasische Exilliteratur verboten. Der prominente baschkirische Historiker Zeki Velidi Togan, der in Istanbul lehrte, wurde 1945 sogar verhaftet, weil er gegen die Sowjetunion agitierte. Der Grund war simpel: Das zaristische Russland hatte als Großmacht ein gutes Dutzend Kriege gegen das Osmanische Reich gewonnen. Die UdSSR jedoch stellte sich als Nachfolgestaat schützend vor die Republik Atatürks und versorgte die türkischen Nationalisten mit Geld und Waffen.
Türkische Spur in Syrien
Luftzwischenfall
Ein türkisches Aufklärungsflugzeug dringt am 22. Juni 2012 in den syrischen Luftraum ein und wird von der dortigen Abwehr abgeschossen. Damaskus und Ankara beschuldigen sich gegenseitig, für den Zwischenfall verantwortlich zu sein.
Flugverbotszonen
Mit der Operation Active Fence stationieren mehrere NATO-Staaten, darunter Deutschland, ab November 2012 in der türkischen Grenzregion zu Syrien Luftabwehrsysteme, die Schutz vor Angriffen aus dem Nachbarland bieten sollen, aber ebenso für die Überwachung von Flugverbotszonen eingesetzt werden können.
Bombardement
Seit Anfang Juli 2015 greift die türkische Luftwaffe PKK-Stellungen im Nordirak an und schwächt dadurch auch die kurdische Militärmacht in Nordsyrien. Deren Formationen hatten 2014 die Stadt Kobane nur dank logistischer Hilfe durch die PKK verteidigen können. Lutz Herden
Diesen Kurs des Einvernehmens verließ Josef Stalin, als er nach dem Zweiten Weltkrieg eine Militärbasis auf den Dardanellen verlangte. Die USA und Großbritannien hielten zur Türkei, die nun ihre Neutralität aufgab und 1952 der NATO beitrat. Seine strategische Bedeutung verschaffte dem Land in der Folge einige Privilegien, darunter großzügige Hilfen vom Internationalen Währungsfonds, mehr Handel mit Europa und Zugang zum westdeutschen Arbeitsmarkt. Die West-Orientierung trug wesentlich dazu bei, dass die Türkei zur stärksten nahöstlichen Wirtschaftsmacht mutierte. Und da die USA auf demokratische Formen Wert legten, wurden die Türken 1950 zur ersten freien Parlamentswahl gerufen.
Die Republikaner Atatürks hatten den Islam nicht verfolgt, sondern lediglich von Verfolgungen abgehalten. Nach sowjetischem Vorbild wurden in den 30er Jahren „Volkshäuser“ gegründet, um der Landbevölkerung Lesen und Hygiene beizubringen. Bitterarmen Kleinbauern galt der Imam ebenso als natürliche Leitfigur wie der Priester den Kleinbauern in Irland oder Italien. 20 Jahre später machten türkische Regierungen die Volkshäuser dicht, stattdessen wurden Moscheen gebaut.
Es gab und gibt unter den Religiösen vernünftige Leute, die wissen, dass man dem Volk den Glauben nicht aufzwingen sollte. Der wirklich große Politiker der modernen Türkei war Turgut Özal (1927–1993) von der Mutterlandspartei ANAP, der in den 80er Jahren das mächtige Militär überlistete, das Land für mehr Import öffnete und das bis heute geltende Wachstumsmodell begründete. Özal hatte einen streng religiösen Hintergrund, aber auch große internationale Erfahrung. Er hatte für die Weltbank gearbeitet und verstand, dass es ungünstig ist, der Religion zu viel Macht einzuräumen. Zudem war seine Familie zum Teil kurdisch, also wusste Özal, ein „Kurdenproblem“ hatte man vor allem dann, wenn die Kurden als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden.
Risiko und Ruin
Außenpolitisch hielt sich Özal an die Tradition der Besonnenheit. Als er 1993 starb, trat niemand sein Erbe an. Anstelle einer moderat konservativen Kraft, wie er sie verkörpert hatte, wollte die religiös grundierte AKP mit ihrem Chef Erdoğan „fromme Generationen“ großziehen und später im Syrienkrieg den Alliierten von der Muslimbruderschaft helfen. Es liegt auf der Hand, dass Erdoğan auch den Islamischen Staat protegiert hat, weil der Sturz Assads für ihn zur absoluten Priorität geworden ist. Can Dündar, den Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, der Beweise für türkische Waffenlieferungen an die Terrormiliz vorlegte, ließ Erdoğan Ende November wegen Spionage verhaften. Den Kurden fällt es unterdessen immer schwerer, sich zusammenzureißen. Sie seien, wie es der kurdische Politiker Kâmran İnan einst formulierte, „ein verwundetes Volk“ und der Türkei weitgehend entfremdet, während im Rest der Welt die Sympathien für einen eigenen kurdischen Staat wachsen.
Bisher ist Erdoğans Neuausrichtung der Außenpolitik glimpflich verlaufen, doch längerfristig riskiert er damit den Ruin seines Landes. Wie konnte es so weit kommen? Die Erklärung liegt wohl in einer Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn. Auf internationaler Bühne strotzt die Türkei gerade vor Selbstbewusstsein und erhebt hörbar ihre Stimme. Dieser Präsident klingt wie eine Kreuzung aus Moralprediger und Schiedsrichter. Aber wen stört das? Immerhin fleht ihn die deutsche Kanzlerin um Hilfe in der Flüchtlingskrise an. Die Europäer sehen weg, wenn er Journalisten drangsaliert, und sind bei Ignoranz ihres Wertekanons gern bereit, die Visaregeln zu lockern. Mit den USA kommt man zurecht.
Tayyip Erdoğan sitzt in seinem Palast und möchte an die Größe des Osmanischen Reiches anknüpfen, zu dessen Blütezeit im 16. Jahrhundert selbst Russland nur als fernes Grollen im Norden spürbar war. Das ist heute anders – im Syrienkrieg zeichnet sich ein Agreement der Westmächte mit Moskau ab, Assad im Amt zu halten, um die Kräfte gegen den IS zu bündeln. Damit droht der Türkei die Isolation. Ist es unter diesen Umständen Erdoğans Kalkül, wenn er einen russischen Jet abschießen lässt, dass eine harte Reaktion Putins die USA dazu zwingt, eine Flugverbotszone durchzusetzen? Und dass er im Schutz dieser Zone dann unbehelligt gegen die Kurden vorgehen kann, die derzeit die größte Bedrohung für seine Machtposition sind?
Bislang ist er mit seiner riskanten Strategie erstaunlich erfolgreich gewesen. Nun aber könnte er den Bogen überspannt haben. Wenn es eine Lehre gibt, an die sich jeder türkische Staatschef halten sollte, dann die: Leg dich nicht mit Russland an.
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