„Er schmeichelt dem Opfer-Reflex“

Interview Der Schriftsteller Péter Esterházy über Ungarns Premier Viktor Orbán, die Bauchgefühle der Bürger und die Freiheit der Kunst
Ausgabe 27/2015

der Freitag: Herr Esterházy, Ungarn hat im Westen zurzeit eine sehr schlechte Presse. Gehen unsere Medien den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu hart an?

Péter Esterházy: Ich bin kein Freund des Orbán-Regimes, es ist schädlich für Ungarn. Unsere Demokratie ist nicht liberal, die Pressefreiheit eingeschränkt, die Gewaltenteilung ungenügend. Die öffentlichen Medien dienen der Regierung als Sprachrohr, sie hält den Staat „besetzt“. Aber weder leben wir in einer Diktatur noch in einem faschistischen Land.

Wie erklären Sie sich Orbáns seltsamen Werdegang, vom liberalen Gegner der Kommunisten vor 25 Jahren zum rechtspopulistischen Premier von heute?

Ende der 80er Jahre war Orbán ein sympathischer junger Wilder, ein dynamischer Typ, der große Hoffnungen weckte. Sein Wandel begann Ende 1993, mit dem Tod József Antalls, des ersten ungarischen Ministerpräsidenten nach dem Kommunismus. Orbán erkannte, dass in der politischen Landschaft Ungarns eine moderne rechte Partei fehlte. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn er, um diese Lücke zu füllen, eine konservative oder liberale Partei nach westlichem Muster gebildet hätte. Doch stattdessen hat er eine populistische Bewegung aufgebaut. Er schmeichelt unseren Instinkten, unserem alten Reflex, uns als Opfer zu sehen. Wir ergehen uns gerne in Selbstmitleid, und Orbán bestärkt uns darin. Seine Strategie ist immer die gleiche, ob er nun mit der Wiedereinführung der Todesstrafe liebäugelt oder seine Fragebogenaktion gegen Flüchtlinge startet. Anstatt Verantwortung zu übernehmen, zielt er auf das Bauchgefühl der Ungarn ab und schürt ihre Ängste. Orbán ist kein Staatsmann.

Wenn er Ihnen jetzt gegenübersäße, was würden Sie ihm sagen?

Gar nichts. Denn um miteinander zu reden, braucht man eine gemeinsame Basis, eine gemeinsame Sprache. Die haben wir nicht mehr. Wir wären wie zwei alte Fußballer am Morgen nach einem Besäufnis: Vor langer Zeit haben wir mal irgendetwas gemeinsam gehabt, aber das ist vorbei und vergessen – es bleibt nur der Kater.

Zur Person

Péter Esterházy ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Ungarns. Für sein Werk erhielt er viele Auszeichnungen, unter anderem 2004 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Esterházy stammt aus einer alten Aristokratenfamilie, studierte nach dem Abitur zunächst Mathematik und veröffentlichte mit 26 Jahren seine erste Novelle. Neben viel Literatur hat der 65-Jährige auch ein Buch über die deutsche Fußballseele geschrieben. Er lebt in Budapest

Foto: EPD/Imago

Welchen Aspekt des heutigen Ungarns verkörpert Orbán?

Das Bedürfnis der Ungarn nach einer Kompensation für ihr Gefühl, klein und allein zu sein. Orbán spielt geschickt auf der Klaviatur der ungarischen Unsicherheiten, so wie es schon viele seiner Vorgänger seit Jahrhunderten getan haben. Und dabei nimmt er die Pose eines rebellischen Jugendlichen ein.

Sehen die Ungarn Brüssel wirklich als ein zweites Moskau?

Die Ungarn stänkern am Morgen gegen Brüssel und prüfen am Nachmittag, ob die Zahlungen von der EU auf ihrem Konto angekommen sind. Natürlich gehören wir zu Europa. Allerdings fällt es einem kleinen Land wie unserem besonders schwer, auf Eigenständigkeit, die es nach Jahrzehnten der Unterdrückung zurückgewonnen hat, gleich wieder zu verzichten. Es ist eine Frage der Pädagogik. Anstatt der Bevölkerung zu erklären, wofür seine Regierung die EU-Gelder einsetzt, spuckt Orbán große Töne gegen Brüssel. Dabei haben manche Fragen ja durchaus ihre Berechtigung: Soll es der EU oder den Staaten selbst obliegen, Zuwanderungsquoten festzulegen? Haben Deutschland und Ungarn wirklich dieselben Interessen?

Wie erklärt sich Orbáns Annäherung an Wladimir Putin, obwohl doch dauernd betont wird, wie viel Unheil Russland über Ungarn gebracht hat, vom Einmarsch der russischen Armee nach der Revolution von 1848 bis zur Invasion von 1956?

Ende der 80er stand der junge Orbán an der Spitze des Widerstands gegen die Sowjets, und die gesamte ungarische Gesellschaft hat Russland den Einmarsch von 1956 nie verziehen. Was Orbán nun heute mit Putin will, ist ein Rätsel. Gewiss, wir sind abhängig vom russischen Gas und Öl, aber kann das erklären, dass Putin pompös in Budapest empfangen wird, während der ganze Rest Europas ihm die kalte Schulter zeigt? Orbán macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für die Effizienz autoritärer Regime. Er spielt da dieselbe Partitur wie der türkische Präsident Erdoğan, der ja auch nicht gerade ein lupenreiner Demokrat ist. Aber ob Orbán es mit Putin ernst meint? Das kann ich nicht beurteilen, ich habe ja nicht in sein Herz geblickt. Aber ich vermute, er will auch damit vor allem zeigen, dass Ungarn eigenständig handelt. Es ist immer die gleiche Leier mit ihm.

Wofür steht die rechtsextreme Partei Jobbik?

Für etwas sehr Trauriges und Erbärmliches. Orbáns Partei Fidesz hat in letzter Zeit viele Wähler verloren. Vielleicht eine Million. Aber anstatt sich der gründlich diskreditierten Linken zuzuwenden, driften diese Leute nach rechts außen ab. Jobbik zieht zum einen junge Wähler an, zum anderen die Verlierer des Wandels in den letzten 25 Jahren – all jene, die den Zug in Richtung Europa und Globalisierung verpasst haben.

Wie erklären Sie sich den Erfolg von Jobbik?

Damit, dass sie sich als Unschuld vom Lande aufspielt. Sie hatte noch nie die Verantwortung, also erscheint sie, als einzige Partei, ganz blütenweiß und unverdorben. Zudem hat Jobbik, wie andere rechtsextreme Kräfte in Europa auch, in letzter Zeit ihr Image aufpoliert. Ihre Anführer lassen sich jetzt mit Kätzchen im Arm fotografieren.

Könnte Jobbik eines Tages in Ungarn regieren?

Darüber möchte ich gar nicht nachdenken. Wird Marine Le Pen Frankreich regieren? Das wissen Sie ja auch nicht. Aber eine Jobbik-Regierung wäre eine Katastrophe, noch schlimmer als Madame Le Pen im Élysée-Palast.

Ist es einfach, in Viktor Orbáns Ungarn Schriftsteller zu sein? Gibt es Grenzen, die Sie nicht überschreiten dürfen?

Nein, ich kann schreiben und veröffentlichen, was ich will. Aber das ist unwichtig. Die wahre Frage lautet: Kann ein Provinzjournalist schreiben, was er will? Ich glaube nicht. Zudem stellt sich die Frage nach der Reichweite. Wir haben in Budapest eine hervorragende liberale Wochenzeitung, Élet és Irodalom, doch deren Auflage liegt bei 20.000 Exemplaren. Das ist zwar schon etwas, aber nicht wirklich viel in einem Land mit zehn Millionen Einwohnern. Und wer darf im öffentlichen Fernsehen auftreten? Mich zum Beispiel laden sie schon seit Jahren nicht mehr ein.

Aber kann man dann nicht auf privaten Fernsehsendern Kritik an Orbán üben?

O doch, sogar in nie dagewesener Schärfe. In Ungarn gibt es einen Oligarchen namens Lajos Simicska, dem der Fernsehsender Hír TV gehört. Simicska war ein Jugendfreund von Orbán, sie haben zusammen studiert, und zwischen 2002 und 2010, zu Orbáns Zeit in der Opposition, war Simicska sein wichtigster Geldgeber. Aber inzwischen haben sich die beiden heillos zerstritten, und nun lässt Simicska kein gutes Haar mehr an Orbán. Kürzlich erst hat er ihn in Beleidigungen förmlich ertränkt, die ungarische Sprache bietet da wunderbare Möglichkeiten. Doch so hübsch diese Episode ist, sie besagt nicht, dass es nun besser um die ungarische Demokratie stehen würde. Die Fehde zwischen Orbán und Simicska ist ein Kleinkrieg innerhalb der Partei Fidesz, ein Kampf ums große Geld, um Macht und Einfluss zwischen zwei Clans: den Politikern auf der einen und den Geschäftemachern auf der anderen Seite.

Ist in Ungarn heute die künstlerische Freiheit gewährleistet? Oder werden Künstler von der Regierung und der Justiz unter Druck gesetzt?

Nicht direkt. Aber die Regierung kontrolliert die Geldflüsse. So wird indirekter Druck ausgeübt, auf finanziellem Weg. Welches Theater, welcher Verlag erhält Fördergelder? Welche Kino- und Fernsehfilme werden produziert? Auf diese Weise greift das Orbán-Regime vehement in die Kultur ein, und das ist sehr gefährlich.

Ich habe den Eindruck, Ungarn hat sein grauenvolles 20. Jahrhundert noch längst nicht bewältigt: den Fall des Habsburgerreichs, die Räterepublik von Béla Kun, den Vertrag von Trianon, das Horthy-Regime, die nationalsozialistische Besatzung und dann bis 1989 die kommunistische Diktatur. Wie soll man mit so viel schmerzvoller Geschichte umgehen? Wird Ungarn irgendwann in der Lage sein, all das aufzuarbeiten?

Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht. Bei uns ist die Geschichte eine zerstörerische Kraft. Wir berappeln uns, wir bauen auf, wir möchten Zutrauen fassen, aber dann schlägt sie wieder zu, als hätte sie eine boshafte Freude daran, uns übel mitzuspielen. Darum haben die Ungarn sich angewöhnt zu denken: Es könnte immer noch schlimmer kommen. Unsere Geschichte der letzten hundert Jahre ist sehr zerstückelt, eine Abfolge von Kriegen und Besetzungen, von Regimen aller Art, Kaiserreich, Königreich, rechte Diktatur, linke Diktatur, (Pseudo-)Demokratie. 1945 fing für die Ungarn ein neues Leben an. Das hat der Stalinismus 1948 wieder zunichtegemacht. Dann kam 1956 der Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, gefolgt vom sowjetischen Einmarsch … Tatsächlich haben wir noch nie Zeit gehabt, um uns mit unserer Geschichte und unserer Verantwortung in Ruhe auseinanderzusetzen. Deshalb ja auch Imre Kertész’ ironischer Dank an den Stalinismus, dass er ihn davor bewahrt habe, jeden Tag an Auschwitz denken zu müssen.

Aber seit 1989?

Seit 1989 haben wir es deshalb nicht getan, weil in Ungarn die Keller voller Leichen stecken. Unsere Erinnerungen sind ein unappetitliches Knäuel, Rechte wie Linke versuchen, ihre kompromittierende Vergangenheit unter Verschluss zu halten. Daran scheitert die Bewältigung bisher. Für eine echte Aufarbeitung braucht man viel Zeit, Jahrzehnte – das wissen Sie ja in Deutschland besser als alle anderen.

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Olivier Guez | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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