Erdoğan beschuldigt den IS

Anschlag in Istanbul Der türkische Präsident hat sich zuletzt ganz auf seinen Feldzug gegen die Kurden konzentiert. Nun muss er sich heikle Fragen gefallen lassen
Polizeibeamter einen Tag nach dem Anschlag in Istanbul nahe der blauen Moschee, bei dem zehn Menschen starben
Polizeibeamter einen Tag nach dem Anschlag in Istanbul nahe der blauen Moschee, bei dem zehn Menschen starben

Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Der Terroranschlag diesen Dienstag in Istanbul zeigt einmal mehr, wie prekär die Lage der Türkei an vorderster Front des Konflikts zwischen dem Islamischen Staat (IS) und westlichen und arabischen Regierungen geworden ist. Noch mindestens zwei weitere Blutbäder – in der Hauptstadt Ankara und in Suruç an der syrischen Grenze – gingen im Juli bzw. Oktober ebenfalls auf das Konto der Selbstmord-Bomber von Daesh.

Doch während die Türkei immer tiefer ins Schussfeld des syrischen Bürgerkriegs und des staatenübergreifenden Kampfes gegen sunnitische Extremisten gerät, bleibt ihr cholerischer Präsident Recep Tayyip Erdoğan unbeirrbar auf einen ganz anderen Gegner fixiert – er attackiert die Kurden. Diese Schlacht, die er letzten Sommer in der Hitze des Wahlkampfs ohne Not anfing, ist seine erste Priorität, sein blinder Fleck, seine Obsession.

Auch während die Terroristen ihr Attentat auf Istanbuls berühmtes Touristenviertel Sultanahmet vorbereiteten, blickte Premierminister Ahmet Davutoğlu, ergebener Gefolgsmann Erdoğans, in die falsche Richtung. Auf einem Wochenendtreffen der Regierungspartei AKP verkündete er, für die tödlichen Einsätze der Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten sei kein Ende abzusehen: „Wir werden unseren Anti-Terror-Kampf fortführen, bis unsere Berge, Ebenen und Städte von diesen Mördern gereinigt sind.“ Mit „Mördern“ meinte Davutoğlu nicht die Dschihadisten von Daesh, sondern die Kämpfer der kurdischen Unabhängigkeitspartei PKK.

Das Ausmaß der Gewalt in den Kurdengebieten übersteigt bei weitem die Gräuel, die der IS derzeit in der Türkei anrichtet. Allein letztes Wochenende erschossen türkische Sicherheitskräfte 32 angebliche PKK-Kämpfer. Seit im Dezember eine neue Offensive gestartet und Ausgangssperren verhängt wurden, sind nach Armeeangaben 448 Milizionäre getötet wurden. Erdoğan brüstet sich mit 3.100 getöteten PKK-Anhängern im gesamten Jahr 2015.

Was Erdogan auslässt, darauf verweist ein Sprecher der pro-kurdischen Partei HDP: Den Gewaltakten der Armee sind in den letzten Wochen auch 161 Zivilisten zum Opfer gefallen. Tausende wurden vertrieben.

Unangenehme Fragen

Erdogans Feindseligkeit sitzt tief. Nach dem Selbstmordanschlag, der im Oktober in Ankara 103 Menschen in den Tod riss, die meisten von ihnen Kurden und Oppositionelle, behauptete Erdoğan zunächst, kurdische Kämpfer steckten gemeinsam mit Daesh hinter den Attentaten. Diese Unterstellungen brachten ihm große Empörung und reichlich Spott ein. Nach dem Anschlag in Istanbul hat er immerhin eindeutig den IS verantwortlich gemacht: „Ich verurteile den Terrorakt in Istanbul scharf, der als Angriff eines aus Syrien stammenden Selbstmord-Bombers eingeschätzt wird.“

Diesmal also werden die Kurden nicht beschuldigt. Warum? Die PKK selbst ist nicht für Anschläge auf zivile Ziele in türkischen Städten bekannt und dürfte solche Taten ohnehin als kontraproduktiv betrachten. Würde sie von Erdogan unter Verdacht gestellt, wäre das auch ein Eingeständnis,, dass die türkische Armee außerstand ist, ihren Anti-Terror-Krieg auf den Südosten zu begrenzen.

Ungeachtet dessen muss sich der türkische Staatchef die Frage gefallen lassen, ob seine Fixierung auf die Kurden nicht fehlgeleitet und ideologisch ist – und ob die terroristische Bedrohung aus Syrien und dem Irak nicht weitaus dringlicher seine Aufmerksamkeit erforderte.

Ein solches Umdenken würden die Verbündeten der Türkei sehr begrüßen. Seit langem steht fest, dass Erdoğans neo-islamistische Regierung in Syrien sunnitische Milizen unterstützt, die Präsident Assad stürzen wollen. Immer wieder wird berichtet – und von Erdoğan abgestritten –, dass türkische Sicherheitskräfte mit dem IS Verbindung halten und ihm beim illegalen Öl-Export aus Syrien behilflich sind.

Erdoğans Weigerung, irakischen und syrischen Kurden beim Kampf gegen Daesh zu helfen, besonders während der Belagerung Kobanes vor genau einem Jahr, hat seine westlichen Partner irritiert. Erst nach langem Widerstand erlaubte er 2015 der US-geführten Koalition, türkische Stützpunkte für ihre Luftangriffe gegen den IS zu nutzen.

Milliarden aus der EU

Die EU kritisiert Erdoğan zudem dafür, dass er, während er seine Vendetta gegen die Kurden betreibt, weder die Massenbewegung syrischer Flüchtlinge nach Norden noch die in Gegenrichtung durchreisenden IS-Rekruten aus Europa und Nordamerika zu hemmen vermag. Drei Milliarden Euro an Finanzhilfen ließ die EU dafür fließen, dass die Türkei syrische Flüchtlinge von Griechenland und dem Balkan fernhält. Der türkische Innenminister Efkan Ala verkündete am Wochenende neue Grenzschutzmaßnahmen gegen den IS. 2.896 Personen mit Verbindungen zu Daesh seien bereits verhaftet und ausgewiesen worden.

Solche Schritte werden nicht ganz verhindern können, dass IS-Terroristen in die Türkei und von dort weiter nach Europa gelangen, dass sich auch im Land selbst Rekruten für Daesh finden oder dass weitere Anschläge wie der in Istanbul verübt werden. Und ebenso wenig werden sie die pschologischen und ökonomischen Auswirkungen der Instabilität auf die türkische Tourismusindustrie lindern können. So wie im Vorjahr schon Tunesien und Ägypten, ist mit diesem Attentat nun auch die Türkei als Urlaubsziel angeschlagen. Indem sie Istanbul und speziell das Viertel Sultanahmet, wo die Blaue Moschee und die Hagia Sophia stehen, zum Ziel ihres so tödlichen wie symbolträchtigen Schlags machten, haben die Terroristen Erdoğans Staat mitten ins zerrissene Herz getroffen.

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Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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