Erdoğan riskiert viel

Nordsyrien Sein Angriff auf die Kurden konfrontiert den türkischen Präsidenten mit zahlreichen Unwägbarkeiten
Wohl kaum eine „Friedensoperation“
Wohl kaum eine „Friedensoperation“

Foto: Burak Kara/Getty Images

Für Recep Tayyip Erdoğan handelt es sich um einen Fall von „Sei vorsichtig, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen.“ Die meisten Berichte stellen die Sache so dar, als habe der türkische Präsident Donald Trump dazu überredet, ihm grünes Licht für die Invasion im Nordosten Syriens zu geben.

Jetzt aber, wo er hat, was er wollte, sieht sich Erdoğan vor einige schwierige Entscheidungen gestellt: Wie weit soll er gehen? Wer ist der Feind? Und wie lange kann eine solch große Operation durchgehalten werden? Für den türkischen Präsidenten, der für seine Risikofreudigkeit bekannt ist, könnte dies das bisher gewagteste seiner Vabanquespiele sein.

Da sie sich Sorgen machen, sie könnten den Mund zu voll genommen haben, sind die Vertreter der Türkei eifrig bemüht, die Invasion in Syrien, die am Mittwoch mit Luftschlägen begann, bzw. deren Ziel neu zu definieren. Was Erdoğan seit Monaten als essenziellen Schritt beschreibt, um die terroristische Bedrohung durch die Kurden zu beseitigen, wurde plötzlich zu einer „Friedensoperation“ umgedeutet, die angeblich in erster Linie auf den Islamischen Staat zielen solle.

Das sagt seine rechte Hand

İbrahim Kalın, Erdoğans rechte Hand, erklärte gegenüber CNN im Hinblick auf die syrisch-kurdische YPG: „Es handelt sich hier nicht um eine Aktion gegen die Kurden. Die Türkei hat kein Problem mit den Kurden. Wir bekämpfen eine terroristische Organisation, die auch Kurden getötet und unterdrückt hat.“ Seiner Meinung nach sollte die Welt der Türkei dankbar sein, dass sie den IS bekämpft.

Es ist klar, dass sich dieser abrupte Kurswechsel dem Aufschrei in Washington verdankt, den Trumps Entscheidung ausgelöst hat. Selbst für gewöhnlich willfährige Republikaner warfen dem Weißen Haus vor, jene kurdisch geführten Kräfte zu verraten, die zuvor den Kampf gegen den IS angeführt hatten. Es ist gut möglich, dass Trump Erdoğan grünes Licht gab, um die Aufmerksamkeit von der Prüfung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen ihn abzulenken. Wenn dem so gewesen ist, ging seine Finte nach hinten los.

Die Türkei hat auch bezüglich ihrer langfristigen territorialen Ambitionen in Syrien einen anderen Ton angeschlagen, ungeachtet Erdoğans erklärter Absicht, eine quasi permanente, 32 Kilometer tiefe und 483 Kilometer breite sogenannte Sicherheitszone einzurichten. „Die Türkei hat kein Interesse daran, irgendeinen Teil Syriens zu besetzen,“, behauptete Kalın und bezeichnete frühere grenzüberschreitende Operationen in Jarablus und Afrin als zeitlich befristete Landnahmen.

Lauter Unabwägbarkeiten

Fahrettin Altun, Erdoğans Kommunikationsdirektor, versicherte unterdessen, dass humanitäre Überlegungen an erster Stelle stünden. „Der Plan hilft der Türkei, Unschuldige zu beschützten“, schrieb er in der Washington Post. Bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge, die sich gegenwärtig in der Türkei befinden, würden sich „freiwillig“ in der Sicherheitszone ansiedeln, so Altun weiter – auch wenn die meisten von ihnen bislang keine Verbindung zu der Gegend hätten.

Auch Kalın behauptete, die massenhafte Rückführung würde freiwillig und nicht unter Druck erfolgen, auch wenn niemand die betroffenen Menschen gefragt zu haben scheint und Hilfsorganisationen sich äußerst skeptisch zeigen.

Erdoğan sieht sich mehreren Unwägbarkeiten gegenüber. Eine besteht in der Frage, ob die Türkei über die Kapazitäten, geschweige denn den Willen verfügt, in vorderster Front gegen den IS vorzugehen oder die Kontrolle über die Internierungs- und Flüchtlingslager zu übernehmen, die gegenwärtig noch von den Kurden geführt werden. Ankara wird schon seit langem vorgeworfen, den Kampf gegen den IS zu schwächen.

Was macht Russland?

Niemand kann wissen, was Trump als nächstes einfällt, auch Erdoğan nicht. Ungewiss ist auch, wie Russland sich verhalten wird, das seine Einwilligung gegeben haben soll, aber jüngst wegen der Operationen in Idlib mit der Türkei aneinander geraten ist. Gleiches gilt für Baschar al-Assads vom Iran unterstütztes Regime in Damaskus, das die Verwirrung nutzen könnte, um Territorium zurückzugewinnen und seine eigenen Truppen einmarschieren zu lassen.

Unklar ist auch, wie die türkische Öffentlichkeit, die in Bezug auf Erdoğan bereits eine gewisse Ernüchterung erlebt und mit sich vertiefenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, auf einen kostspieligen, zeitlich unbefristeten Konflikt reagieren wird, den viele für unnötig halten. Sollten die von den UN vorhergesagten verheerenden Folgen eintreten, dürfte Erdoğan klar sein, dass man im Ausland ihm die Verantwortung geben wird – und er möglicherweise mit Sanktionen seitens der USA und der EU zu rechnen hat.

All diese Gründe machen wahrscheinlich, dass der türkische Präsident zunächst mit großer Vorsicht vorgehen und eher Milizen der aus Rebellen rekrutierten sogenannten syrischen nationalen Armee einsetzen wird als türkische Soldaten, während die türkische Armee Unterstützung aus der Luft leistet. Vertreter der US-amerikanischen Regierung halten eine groß angelegte Invasion für unwahrscheinlich und gehen davon aus, dass ein erster Vormarsch sich darauf beschränken werde, Gefechtsstationen innerhalb Syriens zu errichten.

Vielleicht ist sich Erdoğan erst jetzt voll über die Gefahren im klaren – persönlich, politisch und militärisch –, die sein hochriskantes Wagnis in Syrien mit sich bringt, und er nutzt die Gelegenheit, bei seinem Treffen mit Trump im Weißen Haus am 13. November, für weitere Unterstützung seitens der USA zu werben, bevor er weitere Schritte ergreift. Was als nächstes geschieht, könnte sich aber auch seiner Kontrolle entziehen. Kurdische Führer beharren darauf, dass es von ihrer Seite keinen Rückzug geben wird. Wenn die Türken kommen, sagen sie, werden sie den Kampf aufnehmen.

Simon Tisdall ist schreibt beim Guardian über Außenpolitik

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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