Was würden Sie tun, um zu verhindern, dass über siebenhundert Ihrer Staatsbürger bald sterben könnten? Diese Frage müssen sich die türkische Regierung und Premierminister Recep Tayyip Erdogan angesichts eines großen, inzwischen 58 Tage andauernden Hungerstreiks kurdischer Gefängnisinsassen derzeit beantworten. Die Antwort scheint bislang allerdings zu lauten: „nichts“.
Im Westen scheint kaum jemand überhaupt von dem Problem zu wissen. Die internationalen Medien haben ihr Hauptaugenmerk auf geopolitische Angelegenheiten und die anhaltende Krise in Syrien gerichtet. Doch auch sie müssen sich einer Frage stellen: Kann die Türkei weiterhin als Modell für die Länder des Arabischen Frühlings hochgehalten werden, w
erden, während immer offenkundiger wird, dass die türkische Regierung den demokratischen Rechten und Forderungen der beinahe zwanzig Millionen starken kurdischen Minderheit gleichgültig gegenübersteht?Auf Kurdisch studieren Der Hungerstreik wurde am 12. September von 65 Häftlingen begonnen. Die offizielle Zahl der Teilnehmenden ist inzwischen auf 716 gestiegen, die pro-kurdische Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) hat angekündigt, dass auch gewählte Funktionäre aus ihren Rängen sich dem Protest anschließen könnten, wenn ihre Forderungen weiterhin ignoriert würden. Bei den Hungerstreikenden handelt es sich größtenteils um Kurden, die wegen Verbindungen zur Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) – dem städtischen Flügel der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), einer Guerillagruppe, die in der Türkei, den USA und der EU offiziell als Terrororganisation gilt – im Gefängnis sitzen. Sie haben drei Forderungen: Die Beendigung der Isolationshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan, der seit 1999 in Haft ist und seit inzwischen beinahe einem Jahr keinen Kontakt mehr zu seinem Anwalt hatte. Außerdem verlangen sie das Recht, sich vor Gericht auf Kurdisch zu verteidigen und auf Kurdisch studieren zu können. Es wird gefährlich Erdogan, der 1998 selbst vier Monate im Gefängnis verbüßen musste, weil er ein Gedicht zitiert hatte, hat diese Forderungen bislang ignoriert und stellt nicht gerade Mitgefühl für die Häftlinge zur Schau. Die haben inzwischen die bei einem Hungerstreik kritische Schwelle von vierzig Tagen überschritten, ihnen drohen in den kommenden Tagen bleibende Gesundheitsschäden, wenn nicht gar der Tod. Erdogan hat sie in den vergangenen Tagen in mehreren Stellungnahmen der „Erpressung“ und der Inszenierung einer „politischen Show“ bezichtigt. Am Dienstag warf der Ministerpräsident BDP und PKK einmal mehr vor, sie manipulierten die Streikenden. Die Ankündigung des Vizepremiers Bülent Arınç, die Regierung werde „dem Parlament eine Reform vorlegen, nach der es Angeklagten gestattet ist, bei Gericht andere Sprachen als die türkische zu verwenden“ hat er nicht kommentiert. Dialog gefordert Die Polizei geht aggressiv gegen pro-kurdische Demonstranten bei Solidaritätsmärschen für die Streikenden vor. Zuletzt schossen Polizisten mit Tränengas und verhafteten Demonstrationsteilnehmer. Erdogans Haltung ist umso alarmierender, wenn man bedenkt, dass das kollektive Bewusstsein der Türkei noch immer von den Hungerstreiks von 1996 und 2000 geprägt ist. Bei letzterem starben über hundert Menschen. Türkische Aktivisten, die die Tragödie von 2000 als Vermittler zwischen Regierung und Streikenden miterlebt haben, versuchen auch heute wieder die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Intellektuelle wie Judith Butler haben zu einem „ernsthaften Dialog mit den Gefangenen“ aufgerufen. Die Europäische Kommission und Amnesty International haben ebenfalls ihre Besorgnis geäußert. Kaum öffentliche Unterstützung Die türkische Öffentlichkeit hält sich dagegen mit Forderungen nach einer Beendigung des Streiks sehr zurück, geschweige denn, dass sie die Forderungen der Gefangenen unterstützen würde. Es wird nicht differenziert zwischen der PKK, die im Südosten der Türkei nach Autonomie strebt und deren 30 Jahre langer bewaffneter Kampf gegen die türkische Armee auf beiden Seiten mehr als 30.000 Opfer gefordert hat, und den Bürgerrechtsforderungen der Kurden. Die Eskalation des Konfliktes entlang der türkisch-syrischen Grenze verkompliziert die Situation weiter. Die PKK versucht, mehr politischen und militärischen Einfluss in den kurdischen Regionen Syriens zu gewinnen und kämpft dort für eine autonome kurdische Region. Die türkische Regierung befürchtet dagegen Auftrieb für separatistische Forderungen der PKK und scheint deshalb einen Schritt von ihrer „kurdischen Öffnung“ im Inneren zurückzuweichen. Reformen ausweiten Erdogan erhielt internationale Anerkennung dafür, dass er die demokratischen Forderungen der Menschen im Nahen Osten unterstützte, als diese sich gegen ihre Regime erhoben. Er sollte aber nicht die Chance vergeben, eine wirklich demokratische Türkei zu regieren. Er sollte die begrenzten Reformen seiner Regierung ausweiten, zu denen unter anderem ein kurdischer Fernsehsender und Kurdisch als Wahlfach in Schulen gehörte, die gesellschaftlichen und politischen Rechte der Kurden erweitern und Verhandlungen mit den gewählten kurdischen Vertretern aufnehmen, um so den militärischen Konflikt zu beenden. Die jüngsten Erklärungen des Vizepremierministers und das Treffen zwischen Justizminister und Präsident Abdullah Gül, der in der in der Kurdenfrage eine fortschrittlichere Haltung einzunehmen scheint, sind Anzeichen dafür, dass eine größere Krise schon bald verhindert werden könnte. Es gibt sogar Berichte darüber, dass der Streik schon dadurch beendet werden könnte, dass das Justizministerium Öcalans Anwälten erlaubt, ihn in den nächsten Tagen sehen zu dürfen. In jedem Fall sollte Erdogan schnell handeln, wenn er nicht in die Lage kommen möchte, sagen zu müssen: „Ich habe nichts getan, um das Leben von 716 meiner Bürger zu retten.“