Ein Donnerstagabend in Buhriz. Im üppigen Garten eines pensionierten Sicherheitsoffiziers sitzen ein paar Männer um einen Plastiktisch herum und diskutieren. „In diesem Park gab es drei Zitronenbäume, bevor er eingezogen ist“, erzählt einer der Gäste, ein Mann mit sich lichtendem Haar und verschmitztem Lächeln. „Er hat sie gefällt und Rosen gepflanzt. Sehen Sie nur: so viele Rosen.“
Die Stimmung ist entspannt, und der Ex-Sicherheitsoffizier, einst ein gefürchteter Mann, lächelt zufrieden. Er verbringt viel Zeit damit, Stauden und Rosen zu pflegen. In einiger Entfernung kreist ein Helikopter am Himmel. Ab und zu ist durch das Plaudern der Männer und die Schreie der draußen Fußball spielenden Kinder das Geräusch ferner Explosionen zu hören. „Worauf schießen die denn? Wir wollen in Ruhe gelassen werden“, grollt der Gärtner. „Das ist nur ein Trick“, sagt sein Neffe, der Automechaniker ist, und dessen Vater 2008 starb, als der Bürgerkrieg in seinen letzten Zügen lag. „Sie schießen ein paar Salven ab und behaupten dann, sie hätten Terroristen zur Strecke gebracht.“
Der Hubschrauber dreht noch eine Runde und verschwindet hinter den Baumwipfeln, nicht ohne noch eine Raketensalve abzufeuern. „Die Leute hatten gerade begonnen, den Hain wieder aufzuforsten. Wie viele Bäume jetzt wohl zerstört werden?“, fragt der pensionierte Offizier. Gute Frage. Bäume wie Menschen dieser nördlich von Bagdad gelegenen Stadt mit ihren 40.000 Einwohnern haben viele Gesichter des Elends kennengelernt. Hinter ihnen liegen über zehn Jahre bitterer Erfahrungen. Das Buhriz von heute zu verstehen, heißt den Irak von heute zu verstehen – eine Nation, die sich einmal mehr selbst zerreißt.
Die Einwohner dieser sunnitischen Stadt, die von schiitischen Dörfern umgeben ist, haben schon gegen alles und jeden gekämpft, auch gegen sich selbst: Nach 2003 gegen die Amerikaner; während des Konfessionskriegs gegen die Schiiten; dann gegen al-Qaida, später gegen die schiitische Regierung von Premier al-Maliki. Wut und Hass sind niemals ganz verflogen.
Die Männer ziehen sich aus dem Garten ins Innere des Hauses zurück. Einstweilen können sie sich weiter entspannen.
Freitag
Der Polizist ist jünger, als er glauben machen will, und ein rauer Mann, kompakt und stämmig. Um seinen Kopf hat er ein schlichtes Tuch geschlungen, wie er es schon trug, als er im Palmenhain seines Vaters arbeitete. Er gehört nicht zur neuen Generation irakischer Sicherheitskräfte, die selbstbewusst vor sich her tragen, was sie von den Amerikanern geerbt haben: Schutzbrillen, Knieschoner, Rucksäcke. Altmodisch sind auch die Verhörmethoden dieses Polizisten. Er zieht die Faust der beeindruckenden Bandbreite an Foltermethoden vor, die sich im Repertoire der irakischen Polizei finden. Was dieser Polizist durch Bestechungen zusätzlich verdient, steckt er in seine Leidenschaft für Tauben.
Die Menschen in Buhriz fürchten und brauchen ihn gleichermaßen. Er ist ein kunstfertiger Navigator des neuen Irak, ein Sunnit, der die dem Staat zugrunde liegenden schiitischen Machtstrukturen überwindet. „Ich fürchte die Konfrontation nicht. Die Menschen lieben mich“, sagt der Polizist. „Aber wenn die Killer meiner Familie drohen, wird es hart, denn die Familie ist mein größter Schwachpunkt. Wenn sie mir von Angesicht zu Angesicht begegnen – dann ist es okay.“
Hat ein solcher Polizist den gefährlichsten Job in Buhriz, dann sind die Palmenhaine der gefährlichste Ort. Zwischen der Stadt und dem Fluss Diyala liegen lange Streifen gerade wiedergewonnenen Landes. In guten Zeiten ist das grüne Buschland zwischen den Palmen gut geeignet für Trinkgelage. In schlechten Zeiten – von denen es viele gab – ist es das perfekte Versteck für Aufständische, Deserteure, al-Qaida-Kämpfer und Kriminelle. Während des Bürgerkriegs entledigte man sich hier entführter Männer – sie wurden zu Hunderten am Flussufer aufgestellt und erschossen.
An diesem Freitag durchkämmen Polizisten mit Soldaten einer Spezialeinheit des Innenministers den Hain nach Aufständischen. Keine unproblematische Konstellation – lokale sunnitische Polizei ist voll und ganz auf den Beistand schiitischer Regierungssoldaten angewiesen, gegen die sie in der Vergangenheit womöglich gekämpft hat. Schnell gerät der nur 15 Mann starke Trupp in einen Hinterhalt. Unser Polizist erzählt: „Wir wollten uns zurückziehen, aber die Sondereinheit SWAT ließ uns nicht gehen. Ich telefonierte mit meinem Offizier und schrie ihn an, in was er mich da reingezogen hat. Ich trug meine Splitterschutzweste und ein MG. Als ich ein paar hundert Schuss abgegeben hatte, blockierte das Ding auf einmal bei jedem zweiten Schuss.“ Vier der SWAT-Leute wurden getötet.
Der tödliche Hinterhalt war nicht der erste in Buhriz. Und er wird nicht der letzte sein. Kurz vor Ausbruch der Schießerei sinnierten der Automechaniker und der kahl werdende Mann noch über gute alte Tage. Sie überquerten einen der Kanäle, die Buhriz durchziehen. „Einmal haben wir hier den Amerikanern aufgelauert“, erzählt der Mann mit dem schütteren Haar. „Wir tranken den ganzen Tag. Wenn wir hörten, dass die Amerikaner kamen, ließen wir von den Flaschen ab und kämpften. Danach wandten wir uns wieder dem Trinken zu. In unseren Augen war der Kampf gegen die Amerikaner‚ ein ,Dschihad‘ – egal, welchen Glaubens man war. Das Leben war einfach und das Schießen auf die US-Boys eine Freude. Meine Mutter gab mir und meinen Brüdern die Gewehre. Ich weiß nicht, wo sie das alles wieder versteckt hat, wenn wir fertig waren.“
Heute ist es nicht mehr so einfach. Die beiden Männer machen an einer Kreuzung halt und fragen nach, was in der nächsten Straße auf sie wartet. Sie haben Angst, zufällig von der Armee verhaftet zu werden, nachdem in der Nacht zuvor junge Sunniten festgenommen wurden. Je nach Vermögen werden deren Familien zwischen 10.000 und 20.000 Dollar Lösegeld zahlen. „Sie wollen die Sunniten an den Bettelstab bringen“, murmelt der Automechaniker.
Samstag
Die Regierung hat damit gedroht, den Palmenhain mit Bulldozern roden zu lassen. Geschossen wird nicht mehr, die SWAT- und Polizeieinheiten haben sich nach den Todesopfern vom Freitag zurückgezogen. Im Rathaus von Baquba, der wenige Kilometer entfernten Hauptstadt der Provinz Diyala, bestellt der für die Operation zuständige General die Stammesältesten ein. Sie sollen die Aufständischen ausliefern, die sich im Hain versteckt halten. Man werde keine weiteren Männer für Buhriz opfern, heißt es, das nächste Mal werde man die Rebellen aus der Luft bombardieren lassen.
Nach dem Gefecht im Palmenhain bekommt der Polizist einen halben Tag frei, am Nachmittag kehrt er jedoch an seinen Checkpoint zurück, den er gerade betritt, als er Schüsse hört. „Wenn ich ehrlich bin: Ich war schockiert“, wird er Stunden später erzählen. „So etwas habe ich noch nicht erlebt. Auf einmal schienen wir umzingelt. Ich zog das Maschinengewehr heran und feuerte einfach los, ohne irgendetwas zu sehen. Ich dachte, ich würde sterben. Ich sprang aus dem Raum und versteckte mich hinter einer Schutzwand.“
Ein weiterer Polizist eröffnet aus einem Betonturm das Feuer und kann die Angreifer festnageln. Einem dritten Polizisten, der von der anderen Straßenseite eingreift, wird ins Bein geschossen. Er schreit um Hilfe. Dann wird eine Panzerfaust gegen den Turm abgefeuert und der dort postierte Polizist getötet. Das gleiche Schicksal trifft den Verletzten, er wird von den Rebellen umzingelt und auf dem Trottoir erschossen. Gott sei ihm gnädig.
Der Automechaniker und andere Bewohner der Stadt haben sich währenddessen in einer Moschee verbarrikadiert. Am Abend, gegen 20 Uhr, übernehmen die Angreifer auch das Gotteshaus. Sie erklären die Stadt für befreit und rufen die Ladenbesitzer auf, zurückzukommen und ihre Geschäfte zu schließen. Nur wenige tun es.
Abu Haider, ein Schiit, der in einem Außenbezirk von Buhriz lebt, flieht mit seiner Frau und den vier Kindern, als er erfährt, dass die Stadt von Sunniten eingenommen worden ist. „Ich bin Schiit, mein Sohn heißt Haider. Ich werde getötet.“ Er hat Buhriz schon einmal verlassen, als vor einem Jahr das Gleiche geschah. Die Geschichte wiederholt sich.
Sonntag
Der Kommandooffizier von der Gartenparty hat die ganze Nacht lang Angriffe abgewehrt. Als ihm die Munition auszugehen und sein Checkpoint zu fallen droht, tauchen auf einmal von schiitischen Milizen unterstützte SWAT-Einheiten auf. „Wir sind gekommen, um dich zu retten“, sagt der Schiit zu dem Sunniten.
Am Nachmittag ziehen sich die Angreifer so schnell wieder zurück, wie sie gekommen sind. SWAT-Einheiten rücken vor. Unser Polizist wird ihnen folgen. „Ich war im Stützpunkt eingeschlossen“, erzählt er. Jetzt müsse man nur noch die Leichen bergen. „Diese Stiefel hier sind neu.“ Er hebt den rechten Fuß. „Aber ich will trotzdem andere – wegen des Blutgeruchs.“
Der pensionierte Sicherheitsoffizier, der Automechaniker und sein Freund mit dem schütteren Haar – sie sind geflohen, als sie von dem Angriff hörten, so wie viele Bewohner. Einige hatten noch nicht einmal genug Zeit, sich Schuhe anzuziehen, und flohen barfuß. Stundenlang versteckten sie sich in den Feldern. Ihre Frauen ließen sie allein.
Ghaith Abdul-Ahad ist Irak-Berichterstatter des Guardian
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