An einem kühlen Morgen im Frühsommer gehe ich mit Russell Norman durch Soho. Seine Aufmerksamkeitsspanne – er gibt selbst zu, dass sie kurz ist – macht es schwer, mit ihm Schritt zu halten. Gerade eben hat man sich intensiv mit ihm unterhalten, wendet sich ihm zu, um ihn anzusehen – und er ist verschwunden. Man findet ihn wieder in einer Kunstbuchhandlung oder vertieft in eine Unterhaltung mit einem Typen mit komischen Schuhen und Retro-Sonnenbrille.
Wir beginnen unseren Spaziergang im Polpo, dem ersten Restaurant, das Norman eröffnet hat. Es ist sehr amüsant, ihm zuzusehen, wie er das Eintreffen seiner ersten Stammgäste beobachtet. „Wer ist das?“, höre ich ihn murmeln. „Wie heißt der noch gleich?“ Er erhebt sich von seinem Barhocker, lächelt den Gast an, der ebenfalls lächelt und sich offensichtlich freut, dass er erkannt wurde. „Ich komm’ drauf, ich komm’ drauf“, nuschelt Norman vor sich hin. Der Mann kommt näher. Er streckt seine Hand aus. Norman tut es ihm gleich. „Richard“, sagt er schließlich in normaler Lautstärke. „Schön, dich zu sehen!“
Norman mischt mit seinen Restaurantgründungen gerade die Londoner Gastro-Szene auf. Wenn man ihn einen Tag begleitet, bekommt man einen guten Eindruck davon, was es braucht, um in diesem schwierigen, schnelllebigen Geschäft erfolgreich zu sein: Norman kultiviert eine ausgewogene Mischung aus Großstadt-Bohèmian, kulinarischem Überzeugungstäter und Geschäftsmann. Im September 2009 eröffnete er das Polpo, ein Jahr nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Es ist eine auf London abgestimmte Neuerfindung der bacaros genannten venezianischen Weinbars. Andere Restaurants folgten: Polpetto, da Polpo, dann das Spuntino, das im Stil einer New Yorker Geheimkneipe aus der Prohibitionszeit gehalten ist, und das Mishkin’s, ein Deli im jüdischen Stil. Anfang Juli hat er sein sechstes Restaurant eröffnet. Nicht schlecht für zweieinhalb Jahre Arbeit. „Ja“, sagt er. „Schon verrückt. Aber wir hätten leicht doppelt so viele Läden aufmachen können, wenn wir gewollt hätten.“
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Im Polpo in Soho werden klassisch venezianische Gerichte neu zusammengesetzt (Foto: Jenny Zarins / Aus dem Buch "Polpo: a Venetian Cookbook (of Sorts)" by Russel Norman, Bloomsbury)
Wie schafft er es, all diese Läden am Laufen zu halten? Er ist äußerst präsent. So präsent, dass man sich manchmal fragt, ob er sich von einem Ort zum anderen beamen kann. Aber es gibt ja Webcams. Norman reicht mir sein IPhone. Auf dem Display sind vier Einstellungen von der Küche und dem Vorratsraum des Spuntino zu sehen. Bespitzelt er seine Angestellten? „Das würde ich so nicht sagen“, sagt er mit einem Grinsen. Wie oft schaut er ihnen mithilfe der Kamera über die Schulter? „Nicht allzu oft. Heute ist es das erste Mal.“ Wir starren auf eine Treppe. Kein Mensch weit und breit. Vielleicht drängen sich alle in den Ecken, die die Kameras nicht zeigen.
Unser Spaziergang führt uns zu allen Restaurants von Norman. Im Polpo lobt er die Kellnerin, weil sie gründlich einen Spiegel putzt. Im Spuntino fragt uns die Chefköchin – vier von Normans Küchenchefs sind Frauen –, ob wir einen neuen Salat mit Spargel und Haselnüssen probieren wollen, der mit einer ägyptischen Gewürzmischung abgerundet wird. Wir sind begeistert, der Salat kommt auf die Karte. Im da Polpo feiert man gerade die beste Woche seit der Eröffnung. Schließlich landen wir im Mishkin’s, wo wir zu Mittag essen.
„Ich möchte, dass Sie die Hühnersuppe probieren“, sagt er. „Jemand hat sich in einem Brief beschwert, sie schmecke zu fade.“ Wie hat er reagiert? „Ich hab ihm sein Geld zurückgegeben.“ Hatte der Kunde Recht? „Der Kunde hat immer Recht. Was aber die Suppe angeht, liegt er daneben. Das ist eine Hühnersuppe wie bei Muttern. Die muss ein bisschen …. mild schmecken.“
Er schiebt eine dampfende Schale in meine Richtung. Ich nehme einen Löffel.
„Und?“
„Ich glaube, es fehlt ein wenig Salz.“
Norman sagt nichts. Er schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Nur Banausen! Er nimmt seine Schale und löffelt sie mit betonter Begeisterung aus.
Klarheit, nicht Gefälligkeit
Die Geschichte mit der Hühnersuppe erzählt viel über ihn. Zum einen erzählt sie von seiner Großspurigkeit, zum anderen aber von der Stärke seiner Überzeugungen: Er weiß, dass ein Restaurant, um wirklich erfolgreich zu sein und von einer bestimmten Sorte cooler, junger Berufstätiger angenommen zu werden, mit sturer Leidenschaft geführt werden muss. Klarheit, nicht Gefälligkeit lautet seine Maxime. Was uns zu der Sache bringt, die selbst viele derjenigen wahnsinnig macht, die seine Restaurants lieben: Man kann dort nicht reservieren. Nur das Mishkin’s nimmt für die Abende Tischreservierungen an.
Norman erklärt diese Firmenpolitik – die inzwischen viele Nachahmer unter neuen, hippen Restaurants findet, so: „Als wir das Polpo eröffneten, hatten wir eine Reihe guter Besprechungen. Das führte dazu, dass das Telefon pausenlos klingelte. Wir waren Monate im Voraus ausgebucht. Wenn die Leute dann aber kamen, waren sie enttäuscht. Sie sahen die unverputzten Wände und frei hängende Glühlampen, die Tischdecke aus rauem Metzgerpapier und das Besteck vom Flohmarkt. Sie fragten sich: Was soll das denn? Sie kommen, um mal richtig schick essen zu gehen und landen dann in dieser Hinterhof-Weinbar. Diese Leute waren nicht das richtige Publikum für den Laden“, erinnert sich Norman. „Währenddessen kamen jeden Abend hundert richtig coole Leute vorbei und fragten nach einem Tisch für zwei Personen. Da dachte ich mir: Mist, ich schicke hier gerade Stammkunden weg. Die leben oder arbeiten hier, kommen gerade vom Sport und wollen in dem Restaurant essen, das ich für sie eröffnet habe. Und sie kommen einfach nicht rein.“
Die Kritik an seiner Entscheidung kümmert ihn nicht. „Ich verstehe nicht, warum die Leute so einen Wind um die Sache machen. Wer reservieren will, soll sich ein Restaurant suchen, das Reservierungen entgegennimmt. Es gibt im West End 4.000 Restaurants, in denen man einen Tisch bestellen kann und vielleicht zwei Dutzend, bei denen das nicht geht.“ Dann fügt er hinzu: „Ich warte auch nicht gern auf einen Tisch. Wenn ich ausgehe, gehe ich halt in ein Restaurant, in dem ich reservieren kann.“ Entweder das, oder die Leute sollten sich für das Early-Bird-Spezial entscheiden. Er selbst isst gern schon um halb sechs zu Abend. „Vielleicht ist das eine Altersfrage. In New York macht man das auch so.“
Norman ist jetzt 46. Er wuchs im Westlondoner Stadtteil Whitton auf. Sein Vater war Werkzeugmacher, Norman einer von sechs Jungen. Nach der Schule ging er an die Universität von Sunderland in Nordengland und studierte Englisch. Er wollte möglichst weit weg von Zuhause. „Ich hielt es für eine gute Idee, ein wenig Abstand zu gewinnen.“ Sunderland gefiel ihm. „Ich habe da nicht viel gearbeitet. Ich hab’ gemacht, was Studenten so machen. Ich interessierte mich für Musik, es gab damals großartige Bands dort oben: Prefab Sprout, Martin Stephenson and the Daintees.“
Komplexe Beziehungen
Nach seinem Abschluss ging er zurück nach London, wo er Lehrer wurde. Drei Jahre lang unterrichte er Englisch und Schauspiel an einer Mädchenschule in Stanmore. „Ich habe es geliebt zu unterrichten. Ich glaube, ich war ein guter Lehrer. Während der ganzen Zeit habe ich aber an den Wochenenden auch in einem Restaurant in Covent Garden gearbeitet. Ich war samstags der Oberkellner. Es war ein Theater-Restaurant, alles drehte sich um die komplexen Beziehungen der Gäste. Man musste herausfinden, wo man sie hinsetzte – den Theaterkritiker der Daily Mail durfte man etwa nicht neben den des Evening Standard setzen.“ Schließlich entschloss er sich, Vollzeit dort zu arbeiten. „Die Bezahlung war einfach besser als in der Schule.“
Später arbeitete er als Geschäftsführer verschiedener Restaurants. Irgendwann reichte ihm das nicht mehr. Er stellte einen Business-Plan auf, suchte sich einen Partner und fand ihn in seinem besten Freund. „Er brachte das Geld mit. Es war nicht viel, aber genug.“ Um zu sparen, entwarf Norman die Inneneinrichtung selbst – seitdem hat er das bei jedem seiner Restaurants gemacht. „Ich muss so eine Million Pfund gespart haben.“ Er ist gut darin, er hat ein Auge für Details. Er stöbert in Trödelläden und kauft alte Tische bei Ebay. Er weiß genau, wie er an U-Bahn-Fliesen kommt. Im Spuntino zeigt er mir etwas, das wie ein altes Oberlicht aussieht. In Wirklichkeit ist es aber ein cleveres Beleuchtungssystem. Die Angestellten dimmen es, wenn der Abend hereinbricht, so dass es natürlich wirkt.
Norman mag eigenwillige Gebäude mit Geschichte. „Ich war als Student in Venedig und kam als hoffnungslos romantischer Engländer zurück, der die Architektur und die Vergänglichkeit liebte: Byron, Mahler und Thomas Mann.“ Er machte sich bei seinem zweiten Besuch Gedanken über die venezianische Küche, die seine Restaurants inspirierte. „Mir wurde klar, dass Venedig jenseits der Welt der Touristen eine lebendige Stadt mit Alltagsleben war. Und mir fiel auf, dass die Einheimischen nicht wirklich im Restaurant essen, sondern die meiste Zeit in Weinbars stehen und den neuesten Tratsch austauschen. Ich fragte mich, ob das in London funktionieren würde.“
In seinen Restaurants sind die Gerichte, die dafür gedacht sind, dass mehrere sie sich teilen, relativ günstig: „Wir haben traditionelle Rezepte genommen und sie verfeinert, indem wir zum Beispiel einige ungewohntere Zutaten herausgenommen haben.“ Kommen auch Venezianer zu ihm? „Jede Menge. Sie teilen sich in zwei Gruppen. Die einen sagen: ,Das ist nicht authentisch! Bei uns würde es nie Tintenfisch mit Zitronenschalen und Petersilie oder Schwein mit Radicchio und Haselnüssen geben.‘ Einer fragte: ,Warum serviert ihr Kapern? Die kommen aus Sizilien.‘ Aber die weniger Traditionellen lieben es.“
Er beharrt darauf, dass jedes seiner Restaurants eine eigene Identität hat. Seit Kurzem versucht er, ihnen mehr Freiräume zu lassen, auch wenn es ihm schwer fällt. „Ich bin natürlich trotzdem da, stehe draußen, höre den Leuten zu. Sie haben oft einen falschen Eindruck. ‚Das gehört einem Amerikaner‘, sagen sie. Es freut mich, dass die Restaurants die Leute verwirren.“ Manche Kritiker fürchten, dass aus Polpo schnell eine Kette werden könnte. „Wir haben keine Vorstandsetage. Wir haben ein heruntergekommenes Büro, in dem der Fußboden so schräg ist, dass der Wasserautomat schief steht. Wir sind kein Großunternehmen. Wir sind nur zwei Leute.“ Was ist dann sein Ziel? „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich möchte kein Geld verdienen. Bislang tue ich das noch nicht. Das macht aber nichts, denn ich schaffe eine kleine Familie von Restaurants, die mich interessieren. Es gab schon Übernahmeanfragen. Aber das reizt uns nicht.“
Jedenfalls noch nicht. Ich tippe, dass er und sein Kompanion eines Tages verkaufen und viel Geld verdienen werden. Und dann? Er wird wohl wieder von vorn anfangen. Er kann nicht anders, er hat den Restaurant-Virus. „Ich war früher Tag und Nacht nur unterwegs. Es gibt ja den Ausdruck: Restaurant-Witwe. Der trifft es ziemlich genau. Von meiner Frau und meinen Kindern habe ich nicht viel gesehen. Also zwinge ich mich nun, das zu beschränken.“ Ein bisschen zumindest.
Rachel Cooke schreibt für den Observer über Kultur- und Gesellschaftsthemen.
Abschied vom Reservierungshype
Wer gut essen will, braucht in vielen Restaurants in London nicht mehr Monate im Voraus reservieren. Immer mehr Läden verfolgen eine No-Booking-Politik. Seit etwa einem Jahr gibt es diesen Trend, der ursprünglich aus New York stammt. Hintergrund ist: Der Erfolg von Online-Reservierungsplattformen wie OpenTable.com oder Toptable.com, die auch Apps für jedes Smartphone anbieten, machte es zunehmend unmöglich, ohne Reservierung gut essen zu gehen. Die Apps erlauben es sogar, einen Tisch in Echtzeit zu reservieren, auch noch, wenn man im Taxi sitzt und in wenigen Minuten beim Lokal eintrifft. Eigentlich also eine sehr kundenfreundliche Geschichte. So manchen Wirten ist dabei aber unwohl. Sie möchten auch dem Mann um die Ecke einen Platz anbieten können, und nicht nur die junge Digitalen als Gäste begrüßen. Die sind viel mobiler und ziehen schnell weiter, wenn auf Facebook eine neue Adresse gehypt wird. Außerdem verlangen die Reservierungsdienste Gebühren.
In London freuen sich viele über die neue Niedrigschwelligkeit. „Eine Rückkehr zu mehr Demokratie in der Gastronomie“, loben Food-Blogger den Trend, während professionelle Restaurantkritiker schimpfen. Nicht nur sie hassen es, vor neuen, angesagten Lokalen zu warten oder unverrichteter Dinge wieder abzuziehen, auch die Bussi-Bussi-Gesellschaft mag das gar nicht.
In deutschen Großstädten kann man den Trend noch nicht beobachten. Reservierungsplattformen spielen hier auch keine Rolle. Wenn Wirte Schlangen vor der Tür haben, lassen die meisten Reservierungen zu. In Berlin lässt sich aber ein anderer Trend beobachten: die No-Card-Politik. Nicht nur wegen der Gebühren der Kreditkarteninstitute. Wer mit Karte zahlt, gibt meist auch weniger Trinkgeld. JK
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