Türkei Niemand hatte mit dem Minenunglück gerechnet. Während man sich in der Türkei nun um die Opfer sorgt, gehören solche Unfälle für Premierminister Erdoğan zum Geschäft
Kohlenstaub und Rauch hängen in der Luft. Und obwohl die Nacht bereits angebrochen ist, ist die ganze türkische Kleinstadt Soma noch wach und wartet auf Neuigkeiten.
In der Mine, in der über 270 Menschen ihr Leben bei einem Arbeitsunfall verloren haben, bei dem es sich um den schwersten in der bisherigen türkischen Geschichte handelt, versuchen Rettungskräfte derweil weiter, diejenigen zu bergen, die noch immer unter Tage gefangen sind.
Am Eingang der Kohlenmine, in der sich 24 Stunden zuvor eine riesige Explosion zugetragen hat, unterhalten sich vier Minenarbeiter, von denen keiner namentlich genannt werden will: "Wir warten und warten immer noch“, sagt einer. "Wir haben keine Hoffnung mehr, dass noch jemand lebend aus der Mine rauskommen wird. Wir haben Fre
end aus der Mine rauskommen wird. Wir haben Freunde dort unten – viele Freunde.“ Ein Polizist, der den Rettungskorridor bewacht, nickt: „Seit ich heute hier die Arbeit angetreten habe, hat es keine Überlebenden mehr gegeben.“ Offiziellen Zahlen zufolge sind noch immer mindestens 120 Männer unter der Erde gefangen. "Der Druck ist immens erhöht worden“, erzählt einer der Arbeiter. „Alles dreht sich nur um die Fördermenge. Wenn die einzige Sorge ist, wie schnell das Band läuft, wie viel Kohle man fördern und wie viel Profit man machen kann, werden die Menschen, die die Arbeit verrichten, unwichtig. Und unwichtig wird dann auch, was mit ihnen geschieht.“ Murat Ari, ein Sanitäter von der Feuerwehr Izmir, trägt an seiner Uniform einen Anstecker mit der Aufschrift „Kein Unfall, sondern Mord.“ Er wolle damit seine Solidarität mit den Arbeitern und ihren Familien bekunden, sagt er. „Wir fühlen ihre Trauer mit. Der Anblick der vielen verzweifelten Menschen, die vor dem Krankenhaus warteten, ist mir wirklich nahe gegangen.“ Die Rettungsarbeiten, berichtet er weiter, gestalteten sich äußert schwierig. „Das Feuer brennt immer noch. Sobald es wieder unter Kontrolle ist, werden wir weitermachen. Die Bedingungen für die Bergungsarbeiten sind sehr schlecht.“ Mindestens 500 Rettungsleute arbeiten in der Kohlmine von Soma. Aus Ankara sind zwei Rettungshunde eingetroffen. Auch aus anderen Städten und Minen sind viele Minenarbeiter nach Soma gekommen, um sich an den Bergungsbemühungen zu beteiligen. Einer, ein Goldminenarbeiter, der aus betriebspolitischen Gründen anonym bleiben möchte, berichtet, der Arbeitsschutz sei ein großes Problem in der Türkei: „Es gibt jede Menge Defizite – im Gesetz ebenso wie bei den Firmen selbst. Und die Arbeit in den Kohleminen ist wohl die schwerste und gefährlichste im hiesigen Bergbau.“ Das größte Problem sei der Produktionsdruck: „Es geht nur darum, wie viel man an einem Tag rausholen kann. Die Arbeitssicherheit steht da hinten an." Auf die Äußerung des türkischen Premiers Recep Tayyeb Erdoğan, der auf einer Pressekonferenz gesagt hatte, Unfälle wie dieser gehörten im Bergbau dazu, reagiert der Mann wütend: „Das ist das Schlimmste, was ein Premierminister nach einem solch furchtbaren Unfall sagen könnte. Was soll das heißen? Wir wissen doch noch nicht mal genau, was die Ursache war, wo die Fehler lagen. In jedem anderen Land wäre der Premier nach so Etwas zurückgetreten.“ In den heruntergekommenen Umkleiden der Firma ruhen sich vier Kumpel aus, die den ganzen Tag die Rettungskräfte unterstützt haben. Abgenutzte Schilder warnen vor Arbeitsunfällen und erinnern die Minenarbeiter an ihre Staubmasken. Körbe mit Wechselwäsche und Handtüchern hängen von der Decke, weil der Platz für Spinde fehlt. "Jeder kennt seinen Korb“, sagt einer der Arbeiter. Er möchte ebenfalls nicht, dass sein Name genannt wird. Er fürchtet Konsequenzen. Die Familien einiger getöteter Minenarbeiter haben ihre Spinde aufgebrochen und ausgeräumt. „Es ist so seltsam hier zu sein und zu wissen, dass so viele unserer Freunde und Kollegen weg sind“, sagt der Arbeiter. „Noch vor 25 Stunden haben wir in diesem Raum miteinander geplaudert.“ Entgegen Berichten über die miserablen Arbeitsschutzbedingungen in der Mine berichten alle vier, es seien immer Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. Die Sicherheit sei ein großes Thema: „Wir sind alle schockiert – wir hätten nicht erwartet, dass so Etwas passieren würde“, sagt ein Arbeiter, der über das Rentenalter hinaus in der Mine arbeitet. Ein Kollege fügt hinzu: „Wir waren immer nervös, wenn es in den Schaft hinunterging – wie könnte man das nicht sein? Aber nun haben wir Angst.“ Auf einem nahegelegenen Friedhof werden in akkuraten Reihen Gräber ausgehoben. Dabei sind längst nicht alle Leichen geborgen. Während einige Männer bis zur Brust in der dunklen Erde stehen und graben, beten andere. In einem hastig eingerichteten Koordinationszentrum bei der Mine suchen Angehörige derweil auf Computerbildschirmen die Fotos der Toten ab und fürchten, ihre Männer, Brüder und Söhne zu identifizieren zu müssen. Sie wissen bereits, dass sie vom Schlimmsten ausgehen müssen: Energieminister Taner Yildiz hatte gewarnt, dass Problem sei „ernster als wir angenommen haben“. Die Hoffnung schwinde immer weiter. Das Desaster, so Yildiz, entwickle sich zum Unfall „mit der größten Opferzahl, den die Türkei bisher erlebt hat.“ Die Rettungsmannschaften trotzen Flammen und Gasen, um Männer zu erreichen, die tief unter Tage und weit weg vom Eingang der Mine festsitzen. In den frühen Stunden des Mittwoch wurden noch ein paar herausgeholt – mit von Kohlenstaub und Rauch geschwärzten Gesichtern, in Decken eingehüllt und auf Tragen, aber lebend. Nach Einbruch des Abends spuckte die Mine nur noch Tote aus. Beinahe 800 Mann befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Grube. Da gerade ein Schichtwechsel stattfand, waren es mehr als gewöhnlich. Die meisten der Gestorbenen sind durch eine Kohlenmonoxidvergiftung ums Leben gekommen - trotz frenetischer Bemühungen, Sauerstoff in die Mine zu pumpen. Angesichts hunderter verzweifelter Angehöriger, die auf den Mineneingang zuströmten, haben die Sicherheitskräfte Barrikaden errichtet und Absperrketten gebildet, um den Rettungsarbeitern die Verrichtung ihrer bitteren Aufgabe zu ermöglichen. Diejenigen, die dem Eingang am nächsten stehen, recken die Hälse um einen Blick auf die zu erhaschen, die herausgetragen werden: Einige Rettungsleute schlagen die Decken zurück, die die Gesichter der Opfer bedecken. Die Leichen sind so schwarz wie die Kohle, mit der sie gearbeitet haben. Ein Mann sagt der Nachrichtenagentur AP, er habe ein zehnköpfiges Team geführt, das einen knappen Kilometer in die Tunnel vorgedrungen sei. Es sei ihnen gelungen, drei Leichen zu bergen. Dann mussten sie vor dem Rauch der durch die Explosion entzündeten Kohle fliehen. Ein Mann steigt weinend die Treppe vor dem Eingang der Mine herab. Hinter ihm drängen sich zwei Gruppen von Männern mit Tragen durch die Menge. Ein Rettungsarbeiter, der verletzt wurde, aber überlebt hat, wird unter Jubel der Umstehenden auf einer Trage wegtransportiert. Beim Eingang sind Zelte aufgestellt worden, vielleicht als provisorische Leichenhallen. Ein betagter Mann bricht in Wehklagen aus, als er einen der Toten erkennt und die Polizei ihn hindert, zu der Leiche in den Rettungswagen zu steigen. Viele Angehörigen sitzen stumm vor Schock auf Bänken. Andere suchen die aufgehängten Listen ab, auf denen die Namen der Verwundeten und der Krankenhäuser stehen, in die sie gebracht worden sind. Bahar Galici, eine junge Frau, starrt auf eines der Papiere und wendet sich dann ab. „Immer noch nichts“, seufzt sie.
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