David McWilliams: Man könnte durchaus sagen, dass im Verlauf dieser nie dagewesenen Krise der Kapitalismus auf Eis gelegt wurde. Und danach kehren wir nicht etwa zum Business-as-usual zurück. Der Staat ist wieder da, und die Wähler werden diese Episode nicht vergessen. Wohin wir uns bewegen, weiß ich nicht – aber sicher nicht einfach zurück.
Yanis Varoufakis: Dieser Satz gefällt mir: Der Kapitalismus ist auf Eis gelegt worden. Das letzte Mal wurde der Kapitalismus im Westen im zweiten Weltkrieg ausgesetzt. Die Kriegsökonomie war eine Kommandowirtschaft, die die Preise festsetzte. Die Kriegsökonomie stellte die Überschreitung der Grenzen des kapitalistischen Standardmodells dar.
Was wir jetzt erleben, ist aber nicht so sehr die Aussetzung von Kapitalismus. Die Regeln des Kapitalismus mögen ausgesetzt sein – die ganze unantastbare Politik, die säuberliche Trennung zwischen Steuer- und Geldpolitik ist verschwunden ebenso wie die Einschätzung, dass Staatsschulden schlecht sind.
Aber die Institutionen, die notwendig wären, um eine Art „Kriegswirtschaft ohne Krieg“ zu schaffen – um den Kapitalismus auszusetzen und zu transzendieren –, wurden nicht aufgebaut. Es besteht ein tiefgreifender Unterschied zwischen „Es geht alles den Bach herunter, daher erwarten wir nicht, dass ihr euch an die Regeln haltet“, und zu sagen: „Die Regeln selbst haben sich verändert, wir müssen neue aufstellen, um den wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern.“ All die Diskussion über quantitative Lockerung seitens der Europäischen Zentralbank zeigt, dass wir sehr weit von einer Kriegswirtschaftsdenkweise entfernt bleiben.
„Hey, es gibt eine Alternative.“
DM: Das ist ein altbekannter Kategorienfehler in Europa. Wenn man seine Wirtschaftspolitik auf die Bereitschaft von Leuten setzt, die zu traumatisiert und zu krank sind, um Geld zu leihen – und das ist ja die Kernlogik von quantitativer Lockerung – dann hat man ein schwerwiegendes Problem. Ein häufig verwendetes Bild für quantitative Lockerung ist der Wasserschlauch: ein riesiger Schlauch, aus dem Geld sprudelt, um das Feuer der Krise zu löschen. Aber der Schlauch der Geldpolitik ist durch ein kleines Ventil namens Banken begrenzt, ein kleines Ventil namens Kreditkommittee und ein kleines Ventil namens „die Bereitschaft der Wirtschaft, Kredite aufzunehmen“. Und letzten Endes tröpfelt es nur noch aus dem Schlauch – und selbst von diesem Tröpfeln profitieren die Reichen noch mehr als die Armen.
Bisher blieb trotz der Aussetzung der Regeln die Infrastruktur unverändert. Aber Menschen in ganz Europa sagen jetzt: „Hey, es gibt eine Alternative.“ In dieser zweiten Phase muss es darum gehen, dass wir Fortschritte darin machen, den Kapitalismus und die Finanzwirtschaft neu zu denken. Zudem gilt es zu entwickeln, wie Ökonomien funktionieren und für wen – und das möglichst in Richtung eines neuen, Bretton-Woods-ähnlichen Abkommens für die gesamte Weltwirtschaft.
Hier stehen wir also, im ersten Jahr des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Blickt man mit den Kenntnissen der Geschichte und Wirtschaft auf dieses nächste Jahrzehnt – wie werden die globale und die europäische Wirtschaft aussehen?
Zu den Personen
David McWilliams ist ein irischer Ökonom, Schriftsteller und Journalist. Er lehrt am Trinity College der Dublin Business School. McWilliams arbeitete davor als Ökonom bei der Central Bank of Ireland, der UBS Bank und der Banque Nationale de Paris. Seit 1999 ist er als Rundfunksprecher, Schriftsteller, Wirtschaftskommentator und Dokumentarfilmer tätig. Er hat fünf Bücher geschrieben
Yanis Varoufakis ist ein griechischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker. Er ist aktiver Blogger und Autor mehrerer Sachbücher. Bei der Parlamentswahl im Januar 2015 wurde er über die Liste von SYRIZA erstmals ins griechische Parlament gewählt und war vom 27. Januar bis zum 6. Juli 2015 Finanzminister im Kabinett von Alexis Tsipras. Zusammen mit weiteren Mitstreitern gründete er am 8. Februar 2016 die paneuropäische Bewegung DiEM25
YV: Wir befinden uns auf einem Sattelpunkt und könnten in beide Richtungen kippen. Noch ist völlig unklar, in welche wir uns bewegen. Beginnen wir mit dem positiven Szenario. Es geht von Ihrer These von den Aussichten für ein neues Bretton Woods auf – mit seiner spezifischen Ausprägung in der Europäischen Union.
Wie könnte eine Konsolidierung des Kontinents aussehen? Es wird keine Föderation sein, weil das zwar nötiger denn je wäre, aber auch nie so wenig wahrscheinlich war, weil die Zentrifugalkräfte von Corona-, Migrations- und Eurokrise uns voneinander weg ziehen. Alternativ ließen sich die existierenden EU-Institutionen so einsetzen, dass sie so tun, als sei Europa ein Bündnis. Das könnten wir schon morgen tun, wenn wir uns dafür entscheiden: indem wir alle, die gegen die Armut kämpfen, mit sofortigen Finanzhilfen unterstützen, um in einen grünen Wandel zu investieren.
Hier zeigt sich einen Hoffnungsschimmer, weil zwischen 2020 und 2010 ein grundlegender Unterschied besteht. Als Irland und Griechenland damals Bankrott machten, gab es enorme Unterschiede zwischen den Erfahrungen unserer Länder und denen anderer, wie Deutschland oder den Niederlanden. Heute dagegen ist Deutschlands Industriemotor stark angeschlagen – und das war er schon lange vor Corona. Zwei Hauptindustrien – Automobil- und Werkzeugmaschinenbau – hatten schon zuvor ernsthafte Probleme. Die Tatsache, dass Deutschland in der gleichen Klemme steckt wie wir alle, birgt den Hoffnungsschimmer, dass es sagen könnte: Was sollen wir tun? Es ist nicht mehr: „Euer Problem, hier ist die Troika.“
Wir neigen dazu, Chancen zu verpassen
DM: Und wir werden euch auch noch die Rechnung schicken! Das ist also das positive Szenario. Die Unterbrechung von „Business as usual“ eröffnet Möglichkeiten für neue Politik und neue Möglichkeiten für Europa und darüber hinaus. Und was ist die andere Option?
YV: Wir Menschen – und wir Europäer insbesondere – neigen dazu, fantastische Gelegenheiten vorbeigehen zu lassen und stattdessen am Ende mit dystopischen Folgen dazustehen. Wahrscheinlich werden wir daher erneut auf den Widerstand der gleichen europäischen Ordoliberalen stoßen, die Bestrebungen hin zu einem echten demokratischen Föderalismus weiter Steine in den Weg legt.
DM: Offenkundig werden solche Blockaden die südlichen Mitglieder der Europäischen Union härter treffen. Welche Auswirkung hat dieses spezielle Trauma etwa auf Italien – einem Gründungsmitglied der Europäischen Union und zentralem Teil von Europas emotionalem Hinterland?
YV: Jedes Mal, wenn es in Europa zu einer Krise kommt, leiden die italienischen Wachstumszahlen. Jedes Mal, wenn es ein Problem gibt, breitet sich in Italien die Stagnation aus – während Salvini schon auf seine Chance wartet. Wenn es Frankfurt, Berlin und Brüssel wieder nicht gelingt, sich in Richtung des positiven Szenarios zu bewegen, wird sich Italien – und nicht nur Italien, sondern alle am stärksten betroffenen Regionen Europas – wieder in Richtung neofaschistische Rechte bewegen. Dann ist alles möglich.
Das ist der Endpunkt des negativen Szenarios: ein gigantischer Dominoeffekt, der zur Desintegration der Europäischen Union führt. Nicht, dass die EU aufhören wird zu existieren. Sie wird nur irrelevant werden, etwa wie die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.
Ich habe Angst, dass die Zeiten der Offenheit vorbei sind
DM: Oh, ich erinnere mich sehr gut an die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ...
YV: Es gibt sie noch! Sie hat auch noch ein Büro in Moskau. Das negative Szenario ist also, dass die EU wie die GUS wird. Und das wäre Musik in den Ohren der Trumps, Bolsonaros und Modis dieser Welt. Wir würden uns in Richtung einer Hobbesianischen Weltwirtschaft entwickeln, für die Mehrheit der Menschen geprägt von Fiesheit, Brutalität und Armut.
DM: Als ich in Irland geboren wurde, war das Land sehr arm. Und dann wurde es ziemlich reich – getragen durch das europäische Projekt, die Position Europas in der globalen Lieferkette und eine Steuerpolitik, die sehr viel Kapital anzog. Ich habe das Gefühl, dass dieses Modell verschwunden ist und diese Art der Globalisierung mit ihm. Ich fürchte, dass die Zeiten, in denen man reisen, sich engagieren, sich bewegen konnte, also diese Zeiten der Offenheit, möglicherweise vorbei sind.
Die Leute werden sagen: „Dieses Virus kam aus der kosmopolitischen Welt, aus der Welt internationaler Bewegung.“ Ob das stimmt oder nicht – wir könnten beginnen, Leuten die Schuld zu geben. Die Pest etwa löste in Europa grausamen Antisemitismus aus. Die Leute fragten: „Wen kann ich dafür verantwortlich machen?“ Und so gaben sie die Schuld der einen Gruppe, die bereits im Ghetto war.
Davor fürchte ich mich am meisten im ersten Jahr des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Was wir schon einmal gesehen haben, könnte sich wiederholen. Mir fällt dazu das bekannte Gedicht des irischen Dichters William Butler Yeats ein: „Kreisend und kreisend im klaffenden Schlund / hört der Falke seinen Falkner nicht / Alles fällt, entgleitet, keine Mitte hält. / Anarchie stürzt auf die Erde los.“ Wenn wir uns nicht schnell und in eine neue Richtung bewegen, dann fürchte ich, dass die Welt, die meine Kinder erben, sehr fies sein wird. Es handelt sich also um einen Weckruf.
Wir brauchen eine gemeinsame Vision
YV: Der lauteste Ruf seit einer Generation. Ich teile alle diese Sorgen um die Zukunft, auch wenn ich die Analyse, auf der sie basiert, nicht unterschreiben kann. Die beschriebene Offenheit und Freiheit war immer von deutlichen Restriktionen begleitet: das Nordamerikanische Handelsabkommen Nafta und die US-Grenze zu Mexiko oder die Freizügigkeit innerhalb Europas und die EU-Agentur zum Schutz der Außengrenzen Frontex am Mittelmeer. Das ist kein Widerspruch, sondern die Logik eines Systems, das die Bewegung von Kapital über die Freiheit von Menschen stellt.
Wir müssen jetzt zusammenhalten und uns geschlossen hinter ein neues Bretton Woods stellen, um die Investitionen durchzusetzen, die die Menschheit und der Planet so dringend brauchen. Gelingt das nicht, fürchte ich, dass die grausame Logik des Systems sich nur noch verstärkt. Auf der Welle der Liquidität schwimmend, die durch Politik wie quantitative Lockerung entsteht, wird der Finanzsektor seinen Einfluss auf die Weltwirtschaft noch verstärken. Banker sind sehr gut darin, durch Schwankungen noch reicher zu werden. Daher ist es jetzt Zeit – für uns hier in Europa und auf der ganzen Welt –, eine gemeinsame Vision von einem globalen neuen Deal zu fordern. Denn ohne ihn werden die Mauern zwischen uns nur höher und dicker werden, durchlässig nur für das Geld, das durch sie hindurch fließt.
Info
Dies ist eine bearbeitete Fassung eines Gesprächs zwischen den beiden Ökonomen Yanis Varoufakis und David McWilliams, das diesen Monat in „A Vision for Europe 2020: Nothing But an Alternative“ bei Eris erscheint
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