Das verändert alles. Die vierte landesweite Abstimmung innerhalb von vier Jahren hat die Blockade des Parlaments gebrochen – mit verheerenden Folgen. Das Ergebnis der Labour Party in ihren traditionellen Hochburgen – ein einziger Kollaps. All die demographischen, geografischen und sozialen Bindungen, die dieses Bündnis zusammenhielten, haben sich aufgelöst. Ob sie je wieder eine Ganzes bilden werden, muss sich erst noch zeigen. Großbritannien hat die seit Jahrzehnten rechteste Regierung gewählt und einem unübertreffbar prinzipienlosen Spitzenkandidaten eine so große Mehrheit gegeben, dass es ein Jahrzehnt dauern könnte, ihn wieder loszuwerden. Die vergangene Nacht war schlimm. Das Schlimmste aber kommt erst noch.
Poor Performer
Die Linke muss nun den Raum finden, um zu trauern und gleichzeitig nachzudenken. Es geht nicht um uns. Es geht um eine Gesellschaft voller Hoffnung, wie wir sie schaffen wollen, um die Menschen, mit denen zusammen wir sie schaffen wollen, und um die Dystopie, die die Tories gerade Realität werden lassen. Wir werden so lange nicht in der Lage sein, wieder zu gewinnen, bis wir herausgefunden haben, warum wir verloren haben. Die derzeit geläufigen, einfachsten Antworten darauf, machen allesamt keinen Sinn: Alles Jeremy Corbyn, dem Brexit, den Medien, dem Labour-Wahlprogramm oder taktischem Unvermögen zuzuschreiben, heißt doch nur zu leugnen, dass die Gemengelage komplexer ist. Natürlich spielte der Brexit eine schwerwiegende Rolle. Labour hatte drei Jahre Zeit, um ein kohärentes Angebot zu unterbreiten, um dem Tory-Getöse entgegenzutreten – und scheiterte. Da die Partei die größten Verluste in Regionen erlitt, die 2016 mehrheitlich für den EU-Ausstieg gestimmt hatten, ist es ohne jeden Sinn, jetzt zu argumentieren, Labour hätte sich völlig eindeutig für den Verbleib in der EU und ein zweites Referendum aussprechen sollen. Genau das haben ja die Liberaldemokraten getan, es hat ihnen nichts geholfen.
Labour wusste, dass der Brexit dominieren würde, und versuchte, die Debatte hin zu Fragen der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Ökolgie zu drehen. Auch das ging nicht auf. Das Problem war nicht das Labour-Wahlprogramm, das Manifest. Die Pläne zu Verstaatlichung, öffentlichen Investitionen und Vermögensumverteilung waren populär, realisierbar und hätten Großbritannien zugleich nicht zu einem radikal anderen Ort gemacht als viele andere Orte in Europa. Aber wenn man etwas so Ehrgeiziges versprechen will, muss man die Menschen zunächst politisch darauf vorbereiten und sie davon überzeugen, dass man tatsächlich in der Lage ist, all das umzusetzen. Nichts davon ist der Partei gelungen, sie versprach jeden Tag noch mehr Dinge, demonstrierte dabei einen Mangel an Kommunikationsdisziplin, der sich leicht als in eine Metapher für einen absehbaren Mangel an Haushaltsdisziplin gegen Labour wenden ließ.
Corbyn war zutiefst unbeliebt. An den Haustüren konnten die meisten nicht wirklich erklären, warum sie ihn nicht mögen. Einige fanden ihn entweder zu linksdrehend, antisemitisch oder hielten ihn für einen Freund von Terroristen. Offensichtlich haben etliche Medien, die bei dieser Wahl abermals ein miserables Bild abgaben, viel damit zu tun. Wie soll man jemanden mögen, wenn man nie etwas Gutes über ihn hört? Die rechtsdominierte gedruckte Presse rahmte zu oft die Narrative für Fernsehen und Radio vor, es entstand so ein sich immer weiterdrehende Schleife.
Corbyns Rücktritt
Aber diese Medien haben nicht alles frei erfunden. Corbyn war ein poor performer. Immer wieder hatte er die Chance, Boris Johnson wegen dessen Lügen und Doppelzüngigkeit zu stellen. Aber er weigerte sich, dies entschlossen genug zu tun. Er würde sagen, das sei nicht sein Stil. Aber sein eigener Stil funktionierte nicht. Seine Weigerung, sich bei der jüdischen Gemeinde für Antisemitismus zu entschuldigen, als er von Andrew Neil interviewt wurde, verblüffte – nicht zuletzt, weil er sich schon mehrmals entschuldigt hatte – und dies danach dann wieder tat, bei Phillip Schofield. Und diese Medien gehen nicht erst seit heute auf einen Labour-Chef los. Sie griffen auch Gordon Brown, Edward Miliband und Neil Kinnock an – wenn auch nie so heftig – und die Frau oder der Mann, die oder der in Zukunft die Partei führen wird, muss sich ebenso darauf gefasst machen.
Diejenigen, die denken, dass der Linksruck von Labour nur eine Corbyn-Sache ist, haben diesen Linksruck nie verstanden. Jeremy Corbyns Aufstieg ging in einer Zeit von Krieg und Austerität vor sich, einer Zeit, in der sich allenthalben in der westlichen Welt sozialdemokratische Parteien zerlegten und mit den Armen ruderten. Nicht Corbyns Wahl zum Parteichef hat die Krise der Labour-Partei ausgelöst, sie war vielmehr das Ergebnis dieser Krise, die sich durch dieses Wahlergebnis jetzt noch weiter verschärft. Corbyns starkes Abschneiden bei den Unterhauswahlen 2017 ist der Grund dafür, dass wir auf dem Brexit-Abstiegspfad nicht schon weiter vorangeschritten sind, dafür dass die Tories versprochen haben, die Staatsausgaben zu erhöhen und ihre Sparpolitik zu beenden.
Kontextualisiert man dieses Ergebnis, so rücken Fakten in den Blick, die in all der Verzweiflung Trost spenden können: Labour unter Corbyn gewann einen höheren Stimmenanteil als Ed Miliband und Gordon Brown. Er verlor weniger Sitze als Brown 2010 und gewann mehr als die Tories 2005, bevor sie 2010 an die Regierung zurückkehrten, in einer Koalition mit den Liberaldemokraten.
Aber es hilft alles nichts: Wir haben verloren, und zwar schwerwiegend. Selbstkritik ist nicht einfach, wenn man am Boden ist, aus der Defensive heraus.
Corbyn hat Recht, seinen Rücktritt anzukündigen. Der sollte alsbald erfolgen: Corbyn kann kein Gespräch führen, in dem es nicht automatisch stets schnell vor allem um ihn geht. Bliebe er auch nur für eine kurze Übergangszeit, hielte das die Labour Party nur von dringend anstehenden Aufgaben ab.
Die Linke sollte aus dem Posten des Parteichefs keinen Fetisch machen. Es ist wichtig, wer die Labour-Partei führt, aber es ist nicht alles, was zählt. In den vergangenen vier Jahren ging fast die gesamte Energie der Partei- und Bewegungslinken für den Verteidigungsmodus drauf. Jetzt, angesichts von Boris Johnsons Mehrheit, werden nicht wenige der anstehenden Kämpfe außerhalb des Parlaments stattfinden.
Für die Parteirechten bzw. die Zentristen ist Corbyns Abgang ein Problem. Sie haben diesen Moment schon vorhergesagt, bevor er überhaupt zum Parteichef gewählt worden war. Wenn das dann erstmal immer wieder nicht eintraf, und er mit noch größerer Mehrheit von der Partei wiedergewählte wurde oder ihm das Land mehr Stimmen und mehr Parlamentssitze gab, dann warteten sie eben auf die nächste Runde. Selbst die Zeiger einer kaputten Uhr stehen ja zweimal am Tag an der richtigen Stelle. Das Problem ist: jetzt müssen sie der Partei einen Plan und einen Kandidaten anbieten – einer Partei, die stark an Mitgliedern gewonnen, selbst wenn sie vorübergehend an Wählervertrauen verloren hat.
Ein Problem für die Zentristen
Die Zentristen werden sich der Tatsache stellen müssen, dass die Wähler der Labour Party nicht den Rücken gekehrt haben, um in irgendeine Mitte zu wandern. Sie gingen entweder nach ganz rechts, in England und Wales, oder zur sozialdemokratischen nationalistischen Alternative, in Schottland. Sie gingen nicht zu den Liberaldemokraten oder zur Partei Change UK, gegründet als Zusammenschluss ehemaliger Labour- und Tory-Abgeordneten auf klarem Remain-Kurs. Chuka Umunna, Dominic Grieve, David Gauke, Anna Soubry, Jo Swinson und Luciana Berger – sie verloren alle.
Was auch immer als nächstes kommt, es wird keine Rückkehr sein dazu, dass sich Labour-Politiker im Parlament enthalten, wenn es um Sozialgesetzgebung geht, oder dass sie eine Umwelt-feindlichen Politik aktiv unterstützen. Die Leute werden wollen, dass Labour sich als effektive Oppositionskraft aufstellt.
Die Zentristen müssen eines einkalkulieren: Tausende von Menschen, die in den vergangenen Wochen durch das ganze Land getourt sind, um bei Kälte und Regen Wahlkampf zu machen, werden weder ihre Ideale noch ihre Partei jetzt aufgeben.
Und diejenigen, die sich so sehr für diesen Wandel der Labour-Partei engagiert haben, werden sich dem stellen müssen, dass ihre Überzeugung allein nicht ausreichte, um andere von ihren Idealen zu überzeugen.
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