Es kommt noch schlimmer

Syrien In Damaskus schreitet das vom Bürgerkrieg bewirkte ökonomische Siechtum voran. Dennoch wollen die meisten Bürger bleiben und nicht zu Flüchtlingen werden
Ausgabe 19/2013

Ibrahim Damers Eiscafé erfreut Damaskus seit Jahrzehnten mit exquisitem Schokoladen-, Mango- und Zitroneneis oder mit französischen Pâtisserien, die mit grünen Pistazien aus Aleppo garniert sind. Im Moment jedoch sind die Geschäfte ins Stocken geraten. Es gibt noch Publikum am frühen Nachmittag, später verirren sich kaum noch Gäste in Damers Etablissement. Am frühen Abend ist alles vorbei.

„Früher hatten wir oft bis ein Uhr nachts oder noch länger geöffnet“, erinnert sich Faez Mutaim düster. Seiner Familie gehört das Edelrestaurant in der Maysalunstraße im Herzen der Hauptstadt. „Inzwischen machen wir gegen neun Uhr Schluss und lassen spätestens gegen zehn die Rollläden herunter. Die Leute sind knapp bei Kasse, und sie gehen nicht mehr gern aus. Jederzeit kann etwas passieren. Außerdem ist unser Lokal wegen der vielen Straßensperren nur schwer zu erreichen.“

Die Damaszener leben in der Angst vor Autobomben, über der Stadt sind manchmal Artilleriesalven zu hören oder Düsenjäger, unterwegs zu Luftangriffen gegen Stellungen der Rebellen. Damaskus war einst berühmt für seine Klubs, Restaurants und sonstigen Touristenattraktionen. Dieses Nachtleben ist verschollen. Aus, vorbei, nie wieder? Hoteliers und Barbesitzer versuchen, eine Staatskrise zu überstehen, die nicht nur die Wirtschaft hart trifft, sondern viele Syrer das Leben kostet oder zu Flüchtigen degradiert.

Auch das Khawali, eines der besten Restaurants der Stadt, hat dicht gemacht. Das Naranj, wohin Präsident Bashar al-Assad einst seinen Gast Wladimir Putin ausführte, hat seine Öffnungszeiten verkürzt. Das missmutige Personal kann nur noch eine Handvoll Gerichte anbieten. Das Viertel Jebel Qassioun ringsherum, aus dessen Herbergen man einst einen atemberaubenden Blick über die Altstadt genießen konnte, wurde zur militärischen Sperrzone. „Es ist hart, aber man muss Wege finden, um zu überleben“, sagt die 36-jährige Mina aus diesem Quartier. „Jetzt essen wir um 18 Uhr bei Freunden und gehen früh nach Hause. Alles andere wäre zu unsicher.“

In der Abenddämmerung liegen die Damaszener Straßen fast menschenleer. Vereinzelt beeilen sich Autofahrer, vor Anbruch der Nacht durch die Checkpoints zu kommen. Kinos und Theater müssen ihre Dienste schuldig bleiben. Nur Hochzeiten werden nach wie vor üppig zelebriert. In den großen Hotels übertönt dann Tanzmusik die Kriegsgeräusche. Kürzlich fehlte bei einer dieser trotzigen Feiern allerdings das Dekor. Der Lieferwagen eines Floristen durfte die Explosionsschutzbarrieren vor dem Gebäude nicht passieren.

Obwohl geraunt wird, dass eine Schlacht um Damaskus unumgänglich sei und bald kommen werde, hat das Zentrum bislang keine Kämpfe des Ausmaßes erlebt, wie sie in Aleppo, Hama und Homs toben. Doch kein Zweifel, das Kriegsgeschehen ist in eine alarmierende Nähe gerückt. Mit krassen Folgen. Die Fabriken im Umland sind geschlossen, wurden beschädigt oder geplündert. Geschäfte und Werkstätten haben ebenfalls ihre Tore verriegelt. Für Tausende ist es mit den Jobs vorbei: „Ich kenne viele junge Leute, die von der Pension ihres Vaters leben“, erzählt die Studentin Zaina. „Und jeder weiß doch, dass es noch schlimmer wird ...“

„Niemand entschädigt mich“

Ibrahim Damers Café bezog die Milch für das Eis früher aus Duma oder Daraya an der Peripherie von Damaskus. Inzwischen haben viele Bauern wegen der sich häufenden Gefechte in ihrer Umgebung die Höfe aufgegeben. Zucker und Butter sind dadurch teurer geworden. Der Preis für Tomaten hat sich verdoppelt, der für Hirse und Reis verdreifacht. Nicht anders sieht es bei Kochgas und Heizöl aus. Am härtesten trifft diese Verteuerung die Staatsbediensteten, deren Löhne eingefroren wurden. Und das ohne Ausnahme. Malud Khaled, ein Industrieller und Assad-Anhänger, besitzt eine Fabrik im Viertel al-Sbeineh, das mehrfach von Mörsergranaten getroffen wurde. „Der Schaden beläuft sich auf gut zwei Millionen Dollar“, sagt er. „Wer wird mich entschädigen? Niemand entschädigt mich!“ Mohammed Samis Betrieb in Qaddan blieb bisher zwar verschont, ist aber nicht mehr zugänglich, da die Anlagen im Niemandsland zwischen den Stellungen der Armee und denen der Rebellen liegen.

Die ökonomischen Indikatoren bleiben katastrophal – von den aufschießenden Preisen über die gestörte Versorgung bis zur Arbeitslosigkeit und Inflation. Die syrische Lira hat seit Ausbruch des Bürgerkrieges vor gut zwei Jahren die Hälfte ihres Wertes verloren. Auch das Öl ist knapp, sodass an den Tankstellen schlecht gelaunte Autofahrer Schlange stehen. Dollar- oder Euro-Depots sind längst ins Ausland transferiert. Investitionen bleiben aus, ebenso die Touristen. Der Airport von Damaskus wird inzwischen von den meisten Airlines nicht mehr angeflogen. Wer jetzt noch in das Land einreisen will, nimmt am besten die Fernverkehrsstraße aus Beirut – der einzige, noch einigermaßen sichere Weg nach Damaskus. Ein Indiz dafür, wie die Ereignisse einem Siedepunkt entgegentreiben? Fernlastzüge entscheiden sich längst für die Tour über den Libanon. Die Golfroute über Daraa und Jordanien gilt als zu gefährlich.

Seit Monaten nun schon haben die von den USA und der EU verhängten Sanktionen das Land vom internationalen Finanzverkehr abgeschnitten, sodass gut betuchte Bürger ihre American-Express-Karte wegwerfen können. Schätzungen über die Höhe der Verluste – nur für die syrische Wirtschaft – pendeln zwischen 50 und 80 Milliarden Dollar.

Das Dahinsiechen des Tourismus ist in Damaskus nur allzu offensichtlich. Angestellte sitzen bedrückt in leeren Reisebüros. Von ein paar Journalisten abgesehen, sind auf dem Gelände der bezaubernden Umayyaden-Moschee keine Ausländer zu sehen. Der Einkaufsstraße Via Recta oder den Suks der Altstadt fehlen die Käufer. Alles – von kitschigen Souvenirs und aromatischen Gewürzen bis zu den prächtigen, mit Holz- und Perlmuttintarsien verzierten Möbeln – bleibt liegen.

„Wir leben von unseren Ersparnissen, alles ist teurer geworden“, sagt der Ladenbesitzer Hassan Abu Assali. „Rohmaterialien für die Ateliers der Kunsthandwerker lassen sich immer weniger beschaffen. Ein Fünftel der Geschäfte hier auf dem Suk hat bereits aufgeben müssen. Sollte sich in den nächsten Monaten nichts ändern, wird der Bürgerkrieg bis Ende des Jahres alle zu Bankrottbrüdern machen. Auch wenn ein Wunder geschieht, und die Kunden kehren zurück – die Preise werden nie wieder auf den vorherigen Stand sinken.“ Am Stand nebenan hat Osama al-Shahaf, der voller Stolz seine traditionellen Schwerter aus gehärtetem Damaszener Stahl präsentiert, Ähnliches zu berichten, drückt sich aber vorsichtiger aus: „Ich sage nicht, dass die Umstände vor der Krise ideal waren“, sagt er. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen schlecht und schlechter. Und jetzt ist es schlechter.“

Die Armen leiden am meisten, wie Umm Mohammad aus Dair az-Zur im Norden Syriens. Immer wieder aufflammende Gefechte zwangen sie, die provisorische Wohnung im südlichen Damaszener Vorort Al-Tadamon, wo sie zunächst untergekommen war, wieder zu verlassen. So blieb sie zusammen mit 3,8 Millionen ihrer Landsleute eine „Binnenvertriebene“, wie diese Kategorie von Flüchtlingen nach UN-Terminologie genannt wird. Ein Refugium bot das nahe gelegene Dscharamana. Die ursprünglich nur aus Christen und Drusen bestehende Bevölkerung des Ortes wächst und wächst, da sich immer mehr Sunniten dorthin flüchten.

Schwieriger sei es geworden, sagt Umm Mohammed. „Mein Mann arbeitet von morgens bis abends auf dem Markt und verdient nur 1.400 Lire (etwa 15 Euro) am Tag. Allein die Miete beträgt 7.000 Lire pro Woche. Und dann noch die Preise. Entsetzlich, für alles gehen sie nach oben. Damaskus schien uns sicherer als Dair az-Zur. Außerdem gab es mehr Jobs – bis jetzt jedenfalls. Ganz Syrien ist zum Schlachtfeld geworden.“

„Wir enden als Bettler“

Auch die Bettler auf den Straßen deuten an, wie sehr das Land am Abgrund hin und her balanciert. Die Polizei lässt sie gewähren als Gegenleistung für Informationen über verdächtige Aktivitäten. „Bitte helfen Sie mir,“ fleht ein schmuddeliges kleines Mädchen mit Pferdeschwanz. „Wir sind Einwanderer und leben im Park.“ Ein anderes Kind, ein dürrer Junge von sieben oder acht Jahren, ruft: „Sir, Sir, ich will kein Geld, aber ich kann arbeiten.“ Wie sich herausstellt, ist Naji im palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk geboren, das er verlassen musste, als das Haus der Eltern bei Kämpfen zwischen Armee und Rebellen in Brand geriet. Am liebsten will er mit seiner Familie nach Beirut auswandern. Aber wie? Der syrischen und libanesischen Bürokratie zu trotzen, ist teuer. Zu teuer im Augenblick.

Viele Damaszener fragen sich: Gehen oder bleiben? „Die Entscheidung ist nicht einfach“, sagt Talaal, der in einer Apotheke arbeitet. Den Pharmazeuten gehe es noch relativ gut, meint er. „Dennoch, es ist in den zurückliegenden Wochen so vieles so viel schlimmer geworden.“ Der Ingenieur Samir will vielleicht in die Türkei ausweichen „Ein paar meiner Freunde gingen nach Beirut und dachten, sie wären in zwei oder drei Monaten zurück. Das war letztes Jahr. Die meisten von ihnen haben inzwischen begonnen, ihr Leben neu auszurichten. Sie wissen, dass sie lange weg sein werden – egal, ob das Regime sich hält oder fällt.“

Während die letzten Kunden von Damers Café mit ihren Eiscremeschachteln im Dämmerlicht verschwinden, macht sich Faez Mutaim an seiner Kasse laut Gedanken über die Wahl, der er sich ausgesetzt fühlt: Spannungen und Gefahr daheim oder die unzumutbaren Bedingungen der Flüchtlingslager in Jordanien oder die hohen Preise für ein Exil im Libanon. Schließlich kommt er zu dem Schluss: „Wir enden als Bettler, wenn wir das Land verlassen. Da ist es besser zu bleiben, wo man ist.“

Ian Black ist einer der Nahost-Korrespondenten des Guardian

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Ian Black | The Guardian

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