Es muss weiter geschrieben werden!

Guardian-Vorfall Was passiert, wenn Geheimdienste außer Kontrolle geraten, ist nun für jedermann ersichtlich. Gerade jetzt dürfen sich Presse und Journalisten nicht einschüchtern lassen
Es muss weiter geschrieben werden!

Foto: Andrew Cowie / AFP / Getty

„Ihr habt euren Spaß gehabt. Jetzt wollen wir das Zeug zurück.“ Mit diesen Worten leitet die britische Regierung einen der bizarrsten Akte staatlicher Zensur des Internetzeitalters ein. In einem Keller des Guardian-Gebäudes begutachteten Beamte des Geheimdienstes GCHQ - zufrieden wie einst die Bücherverbrenner der Spanischen Inquisition - einen Haufen zerstörter Festplatten. Angeblich auf Geheiß von ganz oben. Die Tatsache, dass Kopien der Festplatten um den ganzen Globus herum deponiert worden waren, interessierte sie nicht. Sie wollten ihr symbolisches Autodafé. Für den Fall, dass der Guardian dieses Ritual verweigern würde, hatten sie angekündigt, sich eine Zerstörungsanordnung von einem gefügigen britischen Gericht zu beschaffen.

Zwei große Kräfte stehen sich derzeit in erbitterter, offener Konfrontation gegenüber. Das von Edward Snowden über den Guardian und die Washington Post enthüllte Material gehört einer ganz anderen Kategorie an als WikiLeaks oder andere jüngere Whistleblowing-Fälle. Es lässt nicht nur darauf schließen, dass der moderne Staat zu seinen eigenen Zwecken elektronische Kommunikationsdaten aus der ganzen Welt sammelt, speichert und verwertet. Es ist noch viel ernster: Es offenbart, dass diese Macht diejenigen, die sie innehaben, korrumpiert und außerhalb der effektiven demokratischen Kontrolle gestellt hat. Nicht das Ausmaß der Überwachung durch die NSA hat zu Snowdens Abtrünnigkeit geführt. Sondern, dass er hörte, wie sein Boss den US-Kongress stundenlang darüber belog.

Vergangene Woche fanden vom US-Kongress eingesetzte Ermittler heraus, dass das amerikanische Gericht für die Überwachung der Auslandsgeheimdienste, das eigens dafür geschaffen wurde, die NSA zu überwachen, selbst „tausende Male“ von dem Dienst übergangen worden ist. Es war Opfer einer „Kultur der Falschinformationen“ - Anordnungen zur Zerstörung abgefangener Daten, E-Mails und Dateien wurden einfach nicht beachtet. Eine „Intelligence Community“, die weder intelligent noch eine Community ist, gebietet über ein globales Imperium, dass die größten Unternehmen der Welt vor seinen Karren spannen, Listen mit Zielen für Drohnenangriffe erstellen, US-amerikanische Muslime zur Spionage erpressen und Flugpassagiere aus ihren Maschinen holen kann.

Doch wie alle Imperien hat auch dies seine eigenen Antikörper hervorgebracht. Die amerikanische (oder anglo-amerikanische?) Überwachungsindustrie ist durch die Ausnutzung von Terrorkampf-Gesetzen so groß geworden, dass sie ebenso wenig intern zu handhaben, wie extern zu kontrollieren ist. Sie kann ihre eigene Sicherheit nicht gewährleisten. Berichten zufolge hatten um die zwei Millionen Menschen Zugang zum WikiLeaks-Material, das Bradley Manning von Baghdad aus verbreitete. Snowden selbst war bloß Unterauftragnehmer der NSA. Dennoch hatte er vollen Zugang zu deren Daten. Die Tausenden, Millionen, Milliarden Nachrichten, die täglich von US-Datenspeicherzentren verschlungen werden, übertreffen die Träume des Supercomputers HAL 9000 aus dem Film 2001 – Odysee im Weltraum. Doch selbst der war, so zeigte sich, anfällig für menschliche Moral. Manning und Snowden können nicht die einzigen sein, denen der Gedanke kam, über den Datenmissbrauch auszupacken. Hunderte weitere müssten eigentlich auf ihren Augenblick warten. Leute wie sie wird es immer geben.

Im Falle einiger die nationale Sicherheit betreffender Angelegenheiten gibt es gewiss Argumente für eine Zensur vor Veröffentlichung. Die Enthüllung eines Staatsgeheimnisses kann durch ein Dementi nicht im Nachhinein zurückgenommen werden. Doch die parlamentarischen und juristischen Institutionen, die in diesen Angelegenheiten entscheiden, werden ihrem Zweck nicht mehr gerecht. Von den Diensten, die sie angeblich überwachen, werden sie mit Lügen und Missachtung bedacht. In Amerika schützt die Verfassung die Presse vor Vorzensur. Diejenigen, die die Geheimnisse enthüllen, bleiben der Gnade der Gerichte und dem Urteil der öffentlichen Debatte überlassen – daher die putineske Behandlung von Manning und Snowden. Doch zumindest hat der Kongress den Nationalen Geheimdienstdirektor James Clapper unter erheblichen Druck gesetzt. Selbst Präsident Barak Obama hat die Debatte begrüßt und eingeräumt, der Patriot Act müsse möglicherweise überprüft werden.

In Großbritannien sind solche Reaktionen ausgeblieben. Der GCHQ konnte sich gegenüber seinen amerikanischen Kollegen mit der „im Vergleich zu den USA milden Aufsicht“ brüsten. Die parlamentarische und rechtliche Kontrolle ist eine Scharade, fällt allzu leicht auf die Geheimhaltungs-Lobby rein. Die Presse, die normalerweise Politiker nicht mit Samthandschuhen anfassen, scheint sich durch informelle Mitteilungen über die „Sensibilität für die Verteidigung“ einschüchtern zu lassen. Das DA-Notice-System war einst Fällen vorbehalten, in denen die Polizei in einer aktuellen Operation leben bedroht sah. Im Falle Snowden ist die DA-Notice verwendet worden, um Zeitungsmacher vor der Veröffentlichung von Material zu warnen, das für Politiker und Geheimdienste peinlich werden könnte – mit der fadenscheinigen Begründung, dies könne „Terroristen ermuntern".

Der Großteil der britischen Presse (jedoch nicht die BBC, das sei zu ihrer Ehre gesagt) hat sich eindeutig hemmen lassen, bemerkt unter anderem Jeff Jarvis. In Großbritannien ist ein Regime der Vorzensur erlassen worden, dessen Zweck schlicht zu sein scheint, dass die britischen Sicherheitsdienste sich gegenüber ihren amerikanischen Freunden als Muskelmänner präsentieren können – gleiches gilt für die „abschreckende“ Zerstörung der Festplatten beim Guardian und die Schikane gegen David Miranda am Flughafen Heathrow. Die Amerikaner zeigen sich jedoch irritiert. In Deutschland sieht man durch das Verhalten des britischen Geheimdienstes eine "rote Linie" überschritten.

Denjenigen, die die Erstrangigkeit der „Mainstreamedien“ im digitalen Zeitalter anzweifeln, sei zu bedenken gegeben, dass es zwei traditionelle Zeitungen in London und Washington waren, die die Snowden-Enthüllungen recherchiert, koordiniert und bearbeitet haben. Sie haben sogar Material zurückbehalten, von dem sich herausgestellt hat, dass NSA und GCHQ seinen Schutz nicht gewährleisten konnten. Kein Blog, keine Twitter- oder Facebook-Kampagne hat die Ressourcen oder die Schlagkraft, sich der Staatsmacht gegenüberzustellen.

Es ist ausgeschlossen, dass die Kopien der Snowden-Enthüllungen, die in dieser Woche am Flughafen Heathrow konfisziert wurden, irgendwie dem Terrorismus Beihilfe leisten oder „die Sicherheit des britischen Staates bedrohen“ könnten – letzteres hatte Mark Pritchard behauptet, ein britischer Abgeordneter, der dem parlamentarischen Ausschuss für die nationale Sicherheitsstrategie angehört. Wenn diejenigen, die mit der Aufsicht der Geheimdienste beauftragt sind, bloß deren Jargon gegen die Pressefreiheit nachäffen, sollten wir wissen, dass dieses System seinem Auftrag nicht gerecht wird.

Der Krieg zwischen der Staatsmacht und denjenigen, die diese zur Rechenschaft ziehen, bedarf der ständigen Neubelebung. Snowden hat gezeigt, dass Whistleblower und Hacktivisten ab und zu mal ein Gefecht gewinnen können. Dennoch bleibt besorgniserregend, dass viele, sonst links orientierte Briten zu zögern scheinen, den Missbrauch ernst zu nehmen, der sich im Wesen und Wachstum des Überwachungsstaates offenbart. Wir können sehen, wohin das führt.

Ich scheue mich, Parallelen zur Geschichte zu ziehen. Dennoch frage ich mich, wie diejenigen an der Spitze des Überwachungsstaates – und diejenigen, die ihr Tun herunterspielen – sich unter den totalitären Regimes des 20. Jahrhundert verhalten hätten. Es sind dieser Tage so viele Phrasen zu hören, die schon einmal erzählt wurden. Die Unschuldigen haben nichts zu befürchten. Unsere Kritiker stärken bloß den Feind. Zu sicher geht nicht. Loyalität ist alles. Wie sagte doch ein Regierungsmitarbeiter, der dem Guardian mit der rechtliche Keule drohte: „Ihr habt eure Debatte gehabt. Es muss nichts mehr geschrieben werden.“

Doch, verdammt noch mal, es muss.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Simon Jenkins | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden