An einem verschneiten Januarabend im Jahr 1969 bekam der Sänger Willy Mitchell in Maniwaki, Quebec, eine Kugel in den Rücken. Mitchell, ein 15-jähriger Schüler aus einer algonquinisch-mohawkischen Familie, lebte im kanadischen Reservat Kitigan Zibi und hatte kurz zuvor eine Rockband namens Northern Light gegründet. „Wir waren laut“, sagt er: „Wären wir zusammengeblieben, wären wir Nirvana womöglich zuvorgekommen.“
In jener Nacht plakatierte er gerade für ihr erstes Konzert, als er ein paar Bekannte traf, die Weihnachtsschmuck vom Baum eines Nachbarn gestohlen hatten. Sie drückten ihm die Lichterkette in die Hand, und im nächsten Moment hielt neben ihm ein Polizeiwagen. Ein bewaffneter Beamter sprang heraus, der Schuss erwischte Mitchell, während er Deckung suchte. „Das war kein Banküberfall, es ging um Kinder, die Glühbirnen klauten“, sagt er, und die alte Wut steigt wieder in ihm auf. „Ich rannte weg, und er schoss mir in den Rücken.“
Im Krankenhaus schrieb er einen Song über das Erlebnis, Big Police Man. Später erhielt er 3.000 Dollar Schmerzensgeld, von denen nach Abzug von Prozess- und Fahrtkosten noch 500 Dollar übrig blieben. Dafür kaufte er sich eine weiße Fender Telecaster Thinline, wie sie auch Johnny Cashs Gitarrist benutzte. Willy Mitchell spielt sie noch heute.
Auf dem soeben erschienenen Sampler Native North America 1, mit Songs indigener Musiker aus Kanada und den nördlichen USA, gehört er zu den Künstlern. Die besondere Kraft des Albums rührt aus dem Zusammenspiel vertrauter Einflüsse (Beatles, Stones, Bob Dylan und vor allem Neil Young) mit Sprachen und lyrischen Traditionen der Inuit, der Métis und der First Nations. Mit Ausnahme der Sängerin Buffy Sainte-Marie, die aus dem Volk der Cree stammt und in den 60ern zum Folkstar wurde, geriet dieser Strang der nordamerikanischen Musikgeschichte weitgehend in Vergessenheit. Ihn zugänglich zu machen, war eine Herkulesaufgabe für den in Vancouver ansässigen DJ und Musikforscher Kevin Howes. Vor 15 Jahren begann er damit, Plattenläden, Privatsammlungen, gammelige Lagerhallen und die hintersten Ecken von Radioarchiven auf der Suche nach Künstlern zu durchforsten, die „durchs Raster gefallen“ waren.
„Den Indianer austreiben“
„Ich war erschüttert, dass es überhaupt keine Informationen gab“, sagt Howes. „Wenn ich eine Platte fand und den Interpreten dann im Netz suchte – nichts. Um etwas über die Geschichte hinter diesen Songs herauszufinden, musste ich bis an die Quellen zurückgehen.“ Viele der Platten, die er entdeckte, waren nie in den Verkauf gekommen, sondern nur in Kleinauflage für lokale Radiosender oder als Soundtrack für Fernsehreportagen gepresst worden. Die kanadische Musikindustrie war damals noch ganz am Anfang, weshalb auch Neil Young und Joni Mitchell nach Süden gezogen waren. Und indigenen Künstlern machten es Rassismus und geografische Isolation noch schwerer, Gehör zu finden. Nur langsam konnten sich die indigenen Kulturen in Kanada aus einem langen Winter der Unterdrückung befreien, ähnlich wie in den USA, wo sich ein neues Selbstbewusstsein in Protestsongs wie Johnny Cashs The Ballad of Ira Hayes, Büchern wie Dee Browns Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses und im Aktivismus des American Indian Movement ausdrückte. „Die Urbevölkerung war marginalisiert“, fasst Howes zusammen: „Pow-Wows, Schwitzhütten und viele andere Traditionen waren von den Kolonisatoren verboten worden, erst allmählich setzte eine Rückbesinnung ein.“
Besonderen Anteil an der kulturellen Unterdrückung hatte das Schulsystem. Ende des 19. Jahrhunderts war in Kanada ein Netzwerk kirchlicher Internate, genannt Residential Schools, aufgebaut worden, mit dem erklärten Ziel, „den Kindern den Indianer auszutreiben“ und sie zu englisch- oder französischsprachigen Christen umzuerziehen. Als jüngstes von 21 Geschwistern verbrachte der Sänger Willie Thrasher seine ersten fünf Lebensjahre in der Gemeinschaft der Inuit nördlich des Polarkreises, ging mit auf die Karibuhatz und auf Waljagd im Kajak. An seinem ersten Tag in der Residential School bekam er so grob die Haare geschoren, dass ihm hinterher die Ohrläppchen bluteten. Schüler, die beim Gebrauch ihrer Muttersprache oder bei nichtchristlichen Ritualen erwischt wurden, bezogen Prügel. „Der Willie Thrasher, den ich bis dahin gekannt hatte, wurde abgeschafft“, erzählt er ruhig. „Mein ganzes Leben änderte sich.“
Zuflucht fand er hinter dem Schlagzeug im Musiksaal der Schule, und später gründete er eine Band namens The Cordells: „Wir waren die beste Rock-’n’-Roll-Band in den Nordwestgebieten.“ Doch erst als ihn nach einem Auftritt ein alter und gelehrter weißer Mann, der seinen Namen nicht nannte, darauf ansprach, begann er seinem verdrängten Erbe nachzugehen und Songs wie Old Man Carver und Inuit Chant zu schreiben: „Ich begann zu begreifen, wer ich wirklich bin, wer meine Eltern wirklich waren und wie reich unsere Kultur einmal gewesen war. Die Missionare hatten mir das alles aus dem Kopf gelöscht, aber dieser alte Mann gab es mir zurück.“
Der wohl einflussreichste indigene Künstler jener Zeit war Willie Dunn, ein Métis, der sich als Dichter, Musiker, Filmemacher und Aktivist gleichermaßen produktiv betätigte. Musikarchäologe Howes erinnert sich, wie er als Schüler Dunns preisgekrönten Kurzfilm The Ballad of Crowfoot sah: „Unglaublich, was man da über die Geschichte des Landes lernt, in dem man aufgewachsen ist. Diese Künstler waren kluge Gesellschaftsanalytiker, sie wussten genau, wovon sie redeten. Und mich hat ihre Musik zutiefst bewegt.“
Einige der Songs auf Native North America, wie Willie Thrashers We Got to Take You Higher, feiern mitreißend die indigene Kultur, andere sind Liebeslieber und wieder andere, wie Willy Mitchells Call of the Moose oder Lloyd Cheechoos Winds of Change, kraftvolle Protestsongs.
Zu beklagen gab es eine Menge. Der Dichter und Wissenschaftler Duke Redbird, der 1975 zusammen mit dem Sänger Shingoose das betörende Silver River aufnahm, weist darauf hin, dass die kanadische Mainstreamkultur die indigenen Völker gleichermaßen romantisierte wie entrechtete: „Eine seltsame Schieflage war das. Die herrschende Kultur wollte sich das einverleiben, wofür wir standen, aber mit uns selbst wollte sie nichts zu tun haben. Mir war es wichtig, die Sicht der First Nations zu zeigen, denn wir hatten sehr schwere Zeiten hinter uns. Die westlich-europäische Kultur hatte mir eine Kindheit voller Gewalt beschert, und das wollte ich zur Sprache bringen.“
Redbird, der heute Schulen dabei hilft, ihre Lehrpläne zu „entkolonialisieren“, war in den 60ern Teil der Coffeehouse-Folk-Szene und wohnte in Toronto eine Zeit lang im selben Haus wie die Singer-Songwriter-Legende Joni Mitchell, mit der er noch immer befreundet ist.
Unfreiwillig Underground
Wie die meisten indigenen Musiker war Redbird unfreiwillig Underground. Vom Radio weitgehend ignoriert, trafen sie sich regelmäßig auf Folkbühnen und Festivals oder in indigenen Kulturzentren. Immerhin finanzierte Kanadas staatliche Rundfunkanstalt Willie Thrasher 1981 die Aufnahme seines Debütalbums Spirit Child. „Eine sehr aufregende Zeit“, erinnert er sich. „Als ich die Platte in den Händen hielt, war ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Doch dann verschwand er langsam wieder, wie ein Sonnenuntergang. Die Konkurrenz war zu groß. Es war ein dickes Brett, das wir bohren mussten. Eine kleine Delle haben wir geschafft.“
Seither hat sich für die Natives einiges zum Guten gewandelt. „Die Nichtindigenen sind heute besser über unsere Kultur informiert“, sagt Willy Mitchell. Dass Federschmuck im Moment ein beliebtes Modeaccessoire ist, sieht er gelassen: „Manche haben keine Ahnung, was sie da tragen, aber manche zeigen auch Geschmack. Und wenigstens verzichten sie auf Kriegsbemalung.“
Die letzte kanadische Residential School wurde 1996 geschlossen. 2008 verlas Premierminister Stephen Harper eine offizielle Entschuldigung und rief eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ins Leben, die Todes- und Vermisstenfälle, sexuellen Missbrauch, Zwangsarbeit und Zwangssterilisationen in den Internaten der Urbevölkerung aufarbeiten soll. Für Willie Thrasher war das ein Lichtblick: „Endlich hat jemand um Verzeihung gebeten für das, was wir durchmachen mussten.“
Das Album Native North America ist ein echter Glücksfall für die Musiker. Mit ihrer Wiederentdeckung hätten sie nicht gerechnet. „Dabei zu sein, fühlt sich an wie ein Hauptgewinn“, sagt Willy Mitchell. Die Plattenfirma Light in the Attic plant bereits einen zweiten Teil, mit indigener Folk- und Rockmusik südlich des 49. Breitengrads, und außerdem eine Willie-Dunn-Kompilation. „Wir waren ein bunter Haufen von Musikern, die durchs Land zogen und für die Sache der Indigenen warben“, sagt Duke Redbird. „Die Saat von damals scheint jetzt reif zu sein.“
Native North America 1 Diverse Light in the Attic 2014
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