Ihren politisch bislang bedeutsamsten Augenblick erlebten die mittlerweile seit zwei Wochen dauernden Proteste in Brasilien vergangenen Samstag während der Eröffnungszeremonie des Confederations Cups, als sich die Menge in Brasilias brandneuem Stadion erhob, der Nationalmannschaft den Rücken kehrte und Präsidentin Dilma Rousseff laut ausbuhte.
Das ist zwar nicht mit dem zu vergleichen, was dem rumänischen Staatschef Nicolae Ceaușescu während seiner letzten Rede am 21. Dezember 1989 widerfuhr. Auch das Wort vom „brasilianischen Frühling“ ist übertrieben. Aber was sich da abgespielt hat, offenbart eine Unzufriedenheit mit der Regierung, die bislang nur latent vorhanden war. Hunderttausende beteiligen sich an den Demonstrationen gegen steigende Lebenshaltungskosten, Vetternwirtschaft und die Kosten der Ausrichtung von Großveranstaltungen wie der Fußball-WM und den Olympischen Spielen.
Exempel Türkei
Andererseits sind politische Proteste in diesem Land nichts Neues. Ebenso wenig die extreme Gewalt, mit der die Polizei ihnen oftmals begegnet. Der jetzige Aufruhr ist aber weitaus mächtiger als gewöhnlich. Er bringt eine weit verbreitete und noch immer nicht vollständig artikulierte Stimmung zum Ausdruck.
Es begann damit, dass in São Paulo der Preis für eine Busfahrkarte um 20 Centavos (ungefähr sieben Cent) erhöht wurde. Die Leute machten ihrem Ärger Luft. Bei manchen Protesten kam es zu Steinwürfen und vereinzelten Sachbeschädigungen. Die Polizei reagierte mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschossen. Journalisten und Passanten wurden ebenso verletzt wie die Demonstranten selbst. Die Bilder verbreiteten sich schnell auf YouTube und Facebook, wobei viele eine Verbindung zu den Ereignissen in der Türkei herstellten.
Der Vergleich trägt wahrscheinlich am weitesten, denn wie die Türkei hat auch Brasilien eine Regierung, die in erster Linie von den armen Massen des Landes getragen wird. Und ebenso wie in der Türkei hat diese Regierung bei der Verbesserung einiger grundlegender sozialer Probleme wichtige Fortschritte erzielt. Allerdings kamen die Reformen in den vergangenen Jahren zum Erliegen. Die politische Klasse gilt zunehmend als arrogant und abgehoben. Und wie in der Türkei wird das Unbehagen darüber hauptsächlich von jungen Aktivisten aus der Mittelschicht getragen, deren Ansichten sich der traditionellen Rechts-Links-Dichotomie entziehen. Wenn ihr Unmut auf eine einzige Forderung gebracht werden soll, dann ist es die nach ihrem Bürgerrecht.
Dazu gehört es, die Regierung zur Rechenschaft ziehen und zwischen verschiedenen Parteien wählen zu können. Leider dominieren in der brasilianischen Politik zunehmend Patronage, Klientelismus und teure Marketingkampagnen. Schwierigen Debatten hingegen geht man lieber aus dem Weg.
Die politische Ambivalenz der Proteste erschwert es, ihren Einfluss abzuschätzen. Die Regierung hat wiederholt das Recht der Demonstranten auf friedlichen Protest bekräftigt und damit indirekt die Gouverneure der Bundesstaaten kritisiert, die das harte Vorgehen der Polizei autorisiert haben. Diese parierten den Vorwurf mit dem Argument, die steigende Inflation, die den Protest stimuliere, sei das Ergebnis der falschen Wirtschaftspolitik der Zentralregierung.
2014 wird gewählt. Der wichtigste Gegner von Präsidentin Rousseff kommt wahrscheinlich von der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) aus dem Mittel-Rechts-Lager
Wirklich revolutionär
Brasilien entkam zwar der Weltfinanzkrise, doch das Wachstum hat sich verlangsamt. Das erschwert die Entscheidungen erheblich, vor denen das Land nun steht. Die Steuern sind relativ hoch – die sozialen Dienstleistungen und die Infrastruktur aber in einem katastrophal schlechten Zustand. So lautet eine Frage der Demonstranten, warum sie so viel für so wenig bezahlen sollen.
Es ist verlockend, alles auf die Korruption in der Regierung zu schieben – ein weiterer Slogan der Demonstranten. Es geht aber auch um die Frage, welche Prioritäten man setzt. Präsidentin Rousseff hat wie ihr Vorgänger „Lula“ gezielt in soziale Programme wie Bolsa Familia investiert, mit denen Millionen von Brasilianern aus der Armut gerissen werden konnten. Sie haben es aber versäumt, bei anderen kostenträchtigen, teils überflüssigen Staatsausgaben zu sparen. Die Opposition legt ebenfalls wenig Enthusiasmus an den Tag, derartige Reformen voranzutreiben.
Doch ohne Reformen gehen die Proteste weiter und neue Verwerfungen zwischen der Regierung und den Regierten erscheinen unausweichlich. Als die Polizei die Proteste in São Paulo gewaltsam auflöste, wurden die Leute auch dafür verhaftet, dass sie Essig bei sich trugen – ein durch und durch legales Verhalten. Es bekommt nur dadurch etwas Subversives, weil Essig die Auswirkungen von Tränengas mildert. Und eben damit war die Polizei sehr freigebig. Wenn die Behörden der Meinung sein sollten, dass es sich hierbei um die legitime Ausübung von Staatsgewalt handelt, dann ist das Bürgerrecht wirklich ein revolutionäres Verlangen.
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