Bei vielen jungen Menschen sind sozialistische Ideen wieder angesagt. Dabei spielen auch die sozialen Medien eine Rolle
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Die Jugend ist hungrig, also: Let’s eat the rich! Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau soll schon im 18. Jahrhundert geschrieben haben: „Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben, werden sie die Reichen essen.“ Warum aber geht der Satz gerade jetzt im englischen Twitter viral? Auch Tiktok ist hier voll von Videos, auf denen Teenager ihre Gabeln bedrohlich gegenüber all jenen erheben, die Autos mit Startknopf fahren oder Kühlschränke mit Eiswürfelspender besitzen.
Sollten die Milliardäre dieser Welt also nur noch mit einem offenen Auge schlafen? Nicht wirklich. Denn Millennials und die auf sie folgende Generation Z befürworten keine Gewalt. Trotzdem geht es um mehr als nur ein Meme.
Laut einer im Juli veröffentlichten St
6;ffentlichten Studie der rechten Denkfabrik Institute for Economic Affairs (IEA) ist unter den jungen Menschen in Großbritannien ein Linksruck zu verzeichnen. Fast 80 Prozent machen den Kapitalismus für die Wohnungsnot verantwortlich, 75 Prozent halten die Klimakrise für „vor allem ein Problem des Kapitalismus“ und 72 Prozent sind für weitreichende Verstaatlichungen. 67 Prozent der Befragten würden gern in einem sozialistischen Wirtschaftssystem leben.Generation WuchermieteDie Umfrage sei ein „Weckruf“ für Unterstützer der Marktwirtschaft, warnt das IEA. „Die Ablehnung des Kapitalismus ist vielleicht nur ein abstrakter Wunsch. Aber das galt auch für den Brexit.“ Dasselbe Phänomen zeigt sich auch auf der anderen Seite des Atlantiks: Laut einer Studie der Harvard-Universität aus dem Jahr 2016 lehnten mehr als 50 Prozent der jungen Leute in den USA den Kapitalismus ab.Wie erklärt sich das? Jack Foster mag als Beispiel herhalten. Foster ist 33, er arbeitet in Salford, im Nordwesten Englands, für eine Bank. Sein Studium hat er abgebrochen und in einem Callcenter gearbeitet, ein „schrecklicher Job“, sagt er. Seine politische Einstellung speist sich – wie bei vielen seiner Generation – vor allem aus der Erfahrung der Finanzkrise 2007 und deren Folgen. „Ich lebte in einer Mietwohnung und dachte: Wie soll ich mir je ein eigenes Haus leisten können?“, sagt er. „Meine Mutter war Putzfrau, mein Vater hatte eine Behinderung. Alle Leute, die ich kannte und die sich ein Haus leisten konnten, wurden von ihren Eltern unterstützt. Es ging nicht darum, einen Job zu haben und Geld anzusparen; man musste Geld erben.“Viele junge Leute verstehen eine Wirtschaftspolitik, die sie bestraft, gekoppelt mit einem „Kulturkrieg“, der viele ihrer Werte verunglimpft, als Kriegserklärung der Torys gegen ihre Generation. Für Kristian Niemietz vom IEA ist das auch darauf zurückzuführen, dass sich der Appeal des Sozialismus gewandelt habe. Wie die Linken erklärt auch er dessen wachsende Attraktivität durch die gigantische Wohnungskrise. „Wenn Leute abgezockt werden und glauben, dass der Markt gegen sie arbeitet, dann verallgemeinern sie: ‚So ist der Kapitalismus‘, und sympathisieren mit sozialistischen Ideen.“In den 1980ern beschrieb Margaret Thatchers ideologischer Mentor Keith Joseph die Förderung von Wohneigentum als Wiederaufnahme „des Vormarschs des Bürgertums, der im viktorianischen Zeitalter so erfolgreich war“. Die Hoffnung vieler Thatcheristen war es, dass die Umwandlung von Sozialwohnungen in Eigentumswohnungen Labour-wählende Mieter in Tory-unterstützende Hausbesitzer verwandeln würde. Doch danach sieht es in Großbritannien derzeit gar nicht aus. Innerhalb von zwei Jahrzehnten hat sich die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mit mittlerem Einkommen halbiert, eine Wohnung zu besitzen. Rund die Hälfte der unter 35-jährigen in England lebt zur Miete auf einem freien Markt, der von Wuchermieten und Unsicherheit geprägt ist. Die Miete kostet in England annähernd die Hälfte des Nettoeinkommens der Mieter, in London sogar krasse 74,8 Prozent.Die Sache ist: Für junge Leute in Großbritannien gibt es keinen vernünftigen Grund, dieses Wirtschaftssystem zu verteidigen. Laut einer Umfrage der Kinder-Hilfsorganisation Barnardo’s im Jahr 2019 gehen zwei Drittel der unter 25-Jährigen davon aus, dass es ihrer Generation schlechter gehen wird als ihren Eltern. Dieser Pessimismus ist neu. Für David Horner, 30, der in London für eine NGO arbeitet, begann die Desillusionierung schon im Studium. Jetzt bekommt er bald ein Kind und sorgt sich darum, in welcher Welt es aufwachsen wird. Wenn er auf seine Arbeit mit Jugendlichen aus armen Verhältnissen blickt und auf die Erfahrungen von Freunden, die in krisengeschüttelten Gesundheits- und Bildungseinrichtungen arbeiten, liegt das Problem für ihn auf der Hand. „Dabei erzählt man uns, das gegenwärtige sei das beste volkswirtschaftliche System, das es gibt“, klagt er. „Mit zunehmendem Alter beschleicht mich das ungute Gefühl, dass ich nicht mehr alles einfach hinnehmen will, aber zugleich sind die Mächtigen so stark, die Konzerne und die Leute, die vom Kapitalismus profitieren.“Einer ganzen Generation wurde gesagt, es sei wichtig, zu studieren, um ein Gehalt zu verdienen, von dem man leben kann. Doch der Einkommensunterschied zwischen Studierten und Nicht-Studierten wird immer kleiner. Und obwohl Englands Hochschulabsolventen im Jahr 2020 Schulden in Höhe von je fast 47.000 Euro angehäuft hatten, arbeitet mehr als ein Drittel von ihnen in Jobs, die gar keinen Abschluss erfordern. In den Jahren nach der Finanzkrise und der Austeritätspolitik waren es die Löhne der jungen Arbeitnehmerinnen, die am stärksten zurückgingen: die krasseste Senkung des Lebensstandards seit dem viktorianischen Zeitalter. Formale Bildung plus wirtschaftliche Unsicherheit, das ist eine riskante Mischung.„Vor Kurzem las ich einen Post auf Instagram mit der Frage, ob man lieber hundert Jahre in die Vergangenheit oder hundert Jahre in die Zukunft reisen wollte. Und alle Kommentare fragten: Wird es in hundert Jahren überhaupt noch Menschen geben?“, sagt der 22-jährige Uni-Absolvent Haroon Faqir. Während die Mainstream-Medien wenig Sympathien für die Unsicherheiten und Wünsche jüngerer Briten aufbringen, findet sich politische Bildung im Internet. Die Journalistin Chanté Joseph ist 25, was sie in der Grenzregion zwischen Millennial und Generation Z ansiedelt. „Tumblr hat mich radikalisiert“, erzählt sie. „Ich las dort über Rassismus, Identität und Klasse und dachte: Das ist alles verrückt. Es hat mir die Augen geöffnet.“Viele in ihrer Generation seien dann zu Twitter und Tiktok abgewandert, „wo junge Leute eine Menge politische Inhalte teilen, die persönlich und nachvollziehbar sind. Das ist der Grund, warum viele jüngere Leute sich radikaler fühlen – es scheint normaler zu sein, wenn diese Ideen auf eine Art und Weise erklärt werden, bei der man denkt: Wie kann man da anderer Meinung sein?“Viele junge Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, in prekären, flexiblen Anstellungen ohne Sicherheit. Andere sind „scheinselbstständig“, sie haben zwar einen Vertrag, aber Rechte wie Mindestlohn oder bezahlter Urlaub werden ihnen vorenthalten. Das Versprechen war, dass der freie Markt ihnen Freiheit bringt; tatsächlich geliefert wurde Unsicherheit.Durch die Opfer, die viele junge Leute während der Pandemie gebracht haben, wurde das Gefühl von Ungerechtigkeit noch verstärkt. Hannah Baird ist 22, sie studiert. Sie ist in Rotherham aufgewachsen und haderte schon immer mit dem Status quo. Die Angst vor der Klimakrise beförderte ihre Unzufriedenheit. „Während der Pandemie bekam man den Eindruck, dass junge Leute sehr stark für ansteigende Fallzahlen verantwortlich gemacht werden“, erzählt sie. „Dabei zahle ich weiter die gleichen Studiengebühren, kriege dafür aber seit eineinhalb Jahren nur Online-Lehre. Das fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Bei Lockerungsplänen scheinen die Unis auch immer als Letzte erwähnt zu werden. Generell kriegt man den Eindruck, die Regierung kümmert unsere Generation wenig. Als ob man uns vergessen hätte.“Nach rechts offenAll das heißt nicht, dass in der jungen Generation alle zu überzeugten revolutionären Sozialistinnen werden. Aber von den Millennials, die Karl Marx kennen, sieht ihn die Hälfte positiv, im Vergleich zu 40 Prozent der Generation X und nur 20 Prozent der Babyboomer. Die meisten jungen Leute lesen keine radikale Literatur. Aber politisierte Millennials hinterlassen einen ideologischen Fußabdruck in ihren Freundeskreisen. Was die Parteien der politischen Linken allerdings nicht dazu verleiten sollte, die jungen Menschen als bereits überzeugt und wahlentschlossen anzusehen. Wie der Wirtschaftswissenschaftler James Meadway kürzlich in seinem Artikel Die Generation Links ist vielleicht gar nicht so links warnte, könnten sich auch rechtspopulistische Antworten auf die Desillusionierung der Jugend durchsetzen. In Frankreich etwa sind viele junge Menschen nach rechts gerückt. Zudem gibt es das Phänomen, dass sich bei vielen Jugendlichen mit linken Haltungen parallel auch einige traditionell rechte Einstellungen finden.Die Reichen – die in der Pandemie noch reicher geworden sind – wird niemand essen. Aber junge Menschen sehen auch keinen vernünftigen Grund, ein System zu unterstützen, dass nur Unsicherheit und Krise zu bieten scheint.Placeholder authorbio-1