Euphorie wie nie

Seismografin Seit über zwei Jahrzehnten verändert Robyn die Popmusik. Auch ohne den bekanntesten Hit der 1990er
Ausgabe 43/2018

Es ist nicht ohne Ironie, dass ein ganzer Industriezweig sich darauf verlegt hat, den nächsten Superstar nach ihrem Vorbild zu erschaffen. Junge Künstlerinnen aus Skandinavien werden reihenweise als „die neue Robyn“ gehandelt. Dabei wurde sie selbst zu der, die sie ist, indem sie sich gegen die mangelnde Vorstellungskraft der Musikindustrie stemmte.

Mitte der 2000er gab es diesen Punkt, als man plötzlich begann, „mindestens einen Track im Stil von Robyn auf jeder Pop-Platte zu hören“, so beschreibt es ihr Freund und musikalischer Partner Joseph Mount von der britischen Band Metronomy. Robyns Einfluss ist sowohl in den Rückstößen von Rihannas We Found Love und Ariana Grandes Love Me Harder zu hören als auch in den Vorschlaghammer-Synthesizern von Taylor Swifts Welcome to New York.

Nach acht Jahren erscheint dieser Tage Robyns sechstes Album, Honey. Es ist womöglich nicht das, worauf ihre Fans gewartet haben. Es gab Phasen während der Entstehung, in denen sie mit ordentlichen Popsongs fremdelte. Oder, wie sie selbst es formuliert, als wir uns Anfang August auf Ibizia treffen, wo sie ihre erste Single in der Villa vorstellt, in der Wham! einst das Video zu Club Tropicana drehte: „Mich interessierten Lieder, die keinen Anfang und kein Ende hatten. Melodie ließ mich kalt.“

Dann kam Britney

Robin Miriam Carlssons Karriere begann als Teenie-Popstar. Mit 16 Jahren sagte sie einem schwedischen Magazin: „Ich werde kein Produkt sein.“ Sie war drei Jahre zuvor entdeckt worden, als die schwedische Gruppe Legacy of Sound an ihrer Schule auftrat. Carlsson beeindruckte sie mit einem Lied, das sie über die Scheidung ihrer Eltern geschrieben hatte. So kam es zu einem Treffen mit einer Tochtergesellschaft von BMG, die sie sofort unter Vertrag nahm. Es war 1993: Für Robyn begann das, was man damals „artist development“ nannte, ein schwammiger Begriff für die Phase, in der ein Label den Sound, das Aussehen und die Persönlichkeit eines Pop-Acts prägt, bevor er aus Sicht des Labels bereit für die Welt ist. „Es ist vermutlich das Schlimmste, was man einer Künstlerin als Teenager antun kann“, sagt Robyn.

Dankbar ist sie allenfalls dafür, dass ihr Label sie mit talentierten schwedischen Produzenten wie Christian Falk in Kontakt brachte, sowie mit Max Martin und Denniz Pop, dem Duo, das Mitte der 1990er von Stockholm aus die Zukunft des Pop mit Hits für die Backstreet Boys und N’Sync prägte. Für Robyn kombinierten sie ihre Liebe zu amerikanischem R & B mit dem Hang der Schweden zu starken Dur-Akkorden, so entstanden die Hits Do You Know (What It Takes) und Show Me Love.

Robyn Is Here, ihr Debütalbum, war sowohl kommerziell als auch bei Kritikern ein Erfolg. Ähnlich wie Taylor Swift ein Jahrzehnt später mit Country-Musik entdeckte Robyn das Potenzial, eine stumpfe Bubblegum-Ära mit den Erfahrungen ihrer Generation zu impfen: Im Mai 1997 lobte Billboard die Ausnahmequalitäten von Robyns „hübscher Pop-Kost“, die ihre Alterskohorte „mit den schmerzhaften Seiten des Erwachsenwerdens konfrontiere, anstatt sie diese vergessen zu lassen“.

Ihr vielleicht größter Einfluss ist aber, dass sie Britney Spears’ Karriere mit auslöste. Nach dem Platin-Erfolg ihres Debüts in Schweden versuchte das Label Jive, Robyn in den USA unter Vertrag zu nehmen, doch sie lehnte ab. Die Label-Chefs schworen, ihr zu zeigen, wie Stars gemacht werden. Die Alternative, die sie fanden, war eine 15-jährige Amerikanerin namens Britney Spears. Spears war ein Fan von Show Me Love, das Robyn mit Max Martin geschrieben hatte. Er produzierte dann ihre erste Single, … Baby One More Time.

Seit Jahren kursiert das Gerücht, Robyn sei das Lied vor Spears angeboten worden. Robyn dementiert das. Es hätte auch niemals ein Robyn-Song sein können: Es ist zu unterwürfig. Robyns eigene Texte waren von TLC inspiriert und predigten Selbstachtung und einen offensiven Umgang mit Sexualität. Ihr Label hielt indes, was es versprochen hatte: Mit Spears unter Vertrag bewies es, wie man blonde Teenager in Pop-Ikonen verwandelt. Britneys Geschichte handelt aber auch davon, wie man immense Gewinne macht um den Preis immenser persönlicher Kosten. Robyn hingegen hatte zwei US-Hits und verschwand.

Im Jahr 2003, als es so aussah, als sei sie nur eine Fußnote der Popgeschichte, reiste Robyn nach Frankreich, um mit dem avantgardistischen schwedischen Elektronikduo The Knife zu arbeiten. Die Geschwister Karin und Olof Dreijer waren in ihrem Alter und behandelten sie auf Augenhöhe. Sie erklärten Robyn, wie sie ihr eigenes Label leiteten. Für Robyn als Club-Kid, das mit der Indie-Kultur nicht vertraut war, kam das einer Offenbarung gleich. Zusammen produzierten sie den Song Who’s That Girl, einen harten Elektro-Pop-Konter gegen die Idee des „guten Mädchens“.

Robyn gründete daraufhin ihr eigenes Label Konichiwa. Von ihren neuen Mitstreitern verlangte sie echte Partnerschaft, sie suchte niemanden, der „ihr Hits in den Hals stopft“, wie Klas Åhlund sagt, ein schwedischer Punk und relativ unerfahrener Produzent, den Robyn durch ihren Manager traf. Sie machten es zu ihrer Mission, den Stil von Simon & Garfunkel mit Clubmusik zu paaren. „Was um drei Uhr früh in einem dunklen Raum passiert, war damals extrem weit vom Mainstream entfernt“, sagt Åhlund.

Ihr erster Song hieß Be Mine. Åhlund spielte ihr ein Demo vor, das Robyn gefiel, weil es sie an When You Were Mine von Prince erinnerte. Sie ergänzten es um Sprechgesang, „für den wir versuchten, möglichst viele herzzerreißende Dinge zu finden, die man der neuen Freundin oder dem Freund eines Ex-Partners sagen würde“, so Åhlund. Der Song landete auf Platz drei der schwedischen Charts und zementierte ihren Stil: emotional hyperspezifisch, strukturell minimalistisch und reduziert um alles, was unwichtig erschien, bis der Song „kurz davor, war in sich zusammenzufallen wie ein Jenga-Turm“.

Nie zurück zur Grundtonart

Einen Monat nach der Single erschien 2005 Robyns selbstbetiteltes Album in Schweden. Das einflussreiche amerikanische Online-Magazin Pitchfork wählte es unter die besten des Jahres. Das Indie-Magazin stellte Synthpop damit auf eine Stufe mit ernsthaften, künstlerischen Acts wie Arcade Fire und Sufjan Stevens. „Die alte Priorisierung der Rockkritiker fühlte sich langsam engstirnig an“, sagt Pitchfork-Gründer Ryan Schreiber.

Über die Single With Every Heartbeat sagt Musikwissenschaftler Joe Bennett, ihre Genialität liege darin, dass sie entgegen der Erwartung nie zur Grundtonart zurückkehre und sich so einer Lösung verweigere. Mount ist überzeugt: Robyn trug maßgeblich dazu bei, dass „klanglich interessante“ Musik wieder populär wurde. Er vergleicht den Effekt mit Björks Einfluss auf Kylie Minogue und Madonna in den 90ern.

Nach drei Jahren auf Tour fühlte Robyn sich 2008 ausgebrannt. Sie beschloss, ihr fünftes Album in Happen aufzuteilen. Im Juni 2010 veröffentlichte sie eine EP, Body Talk Pt. 1. Drei Monate später kam Pt. 2, dann im November die dritte Tranche. Ihre Herangehensweise passte in eine Zeit, als der technologische Wandel dazu führte, dass die Leute zunehmend einzelne Songs ganzen Alben vorzogen.

Dann zerbrach ihre langjährige Beziehung mit dem Filmemacher Max Vitali, und ihr Freund Christian Falk starb. Sie begann, alles in Frage zu stellen. Eines Abends hörte sie DJ Kozes Minimal-Techno-Track XTC in einem Club in Los Angeles. Robyn war nüchtern, als sie hörte, wie diese acht Minuten serotoningetränkter Glückseligkeit von einer Stimme übertönt wurden, die fragte: „Is a drug like the lie / And meditation the truth / Or am I missing something / That could really help me?“ Sie sagt, es habe sie berührt, wie eine Predigt. Der Drang, Musik zu machen und Sounds zu entdecken, die diese tripähnliche Euphorie erzeugen, kehrte zurück. Da sie fand, ihr Sound sei noch immer nicht ganz der ihre, brachte sie sich selbst bei, wie man Musik produziert. Zu Beginn kämpfte sie mit Zweifeln: „Wie sehr kann ich die Autorin meiner eigenen Stimme sein?“ Aber mit dem Wissen kam die Macht. „Ich musste meine Art, Songs zu schreiben, nicht mehr der Musik eines anderen anpassen.“

Ihr neues Album Honey nennt Robyn „ein Tagebuch der Trauer“. Die Lieder stehen in der Reihenfolge, in der sie geschrieben wurden, es ist eine Reise von der Verzweiflung zu Ekstase und Versöhnung. Der letzte Track, Ever Again, zerlegt Robyns eigene Dancefloor-Blaupause: „Never gonna be broken hearted, ever again!“ Es ist, als würde Billy Bragg erklären, er werde nie wieder über den Sozialismus singen.

Robyns Sonderstellung verweist auf zwei Paradoxe des Pop. Souveränes Auftreten lässt sich gerade bei weiblichen Stars gut vermarkten. Aber nur wenige arbeiten in Eigenregie. Und dann baut sehr viel in diesem Geschäft darauf, eine Art von Selbstbewusstsein zu verkaufen, das eigentlich erst mit dem Alter wirklich kommt. Doch nur wenige Künstler dürfen zu ihren eigenen Bedingungen reifen. Langlebigkeit – das gilt besonders für Frauen – hängt oft von der Bereitschaft ab, dauerhaft Markenpflege zu betreiben, so wie Britney Spears, die seit Jahren nonstop in Las Vegas auftritt – oder in den Hintergrund zu treten, um für jüngere Künstlerinnen zu schreiben. Robyn, die kommenden Juni 40 wird, könnte hingegen beweisen, dass dies das perfekte Alter für Popstars ist, um sich endlich alle Freiheiten zu nehmen.

Laura Snapes ist stellvertretende Musikchefin des Guardian. Dort erschien eine Langfassung

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Laura Snapes | The Guardian

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