Europa steht an einem Scheidepunkt

Migration Die EU-Grenze wird mit immer härteren Mitteln verteidigt – auch mit illegalen. Wir müssen uns entscheiden, wie eine gemeinsame Flüchtlingspolitik aussehen soll, bevor wir unsere eigenen Werte endgültig verraten
Ein Foto des polnischen Innenministeriums, welches die Menschen wohl abschrecken soll
Ein Foto des polnischen Innenministeriums, welches die Menschen wohl abschrecken soll

Foto: Irek Dorozanski/Polish Ministry of National Defence/Getty Images

Es ist schon schlimm genug, wenn Staaten ihre eigenen Regeln brechen und Menschen misshandeln. Wenn sie aber beginnen, Gesetze zu ändern, müssen wir uns wirklich Sorgen machen. Die jüngsten Entwicklungen in drei Gegenden Europas legen nahe, dass Regierungen zur Absicherung ihrer Grenzen eine weitere Sufe der Gewalt erklimmen. Diese Entwicklungen sind an sich schon gefährlich. Doch sie setzen darüber darüber hinaus auch beunruhigende Präzedenzfälle: dafür, wie Länder in reichen Teilen der Welt mit zukünftigen Fluchtbewegungen umgehen werden – egal ob sich Menschen wegen Krieg und Verfolgung oder in Folge der Klimakrise auf den Weg machen.

In Großbritannien versucht das Innenministerium still und leise, sein drakonisches Gesetz zu Staatsangehörigkeit und Grenzen, das sogenannte „Nationality and Borders Bill“, zu ändern, das sich derzeit in den Ausschüssen befindet. Eine neue Bestimmung soll der Grenzpolizei Immunität vor Strafverfolgung gewähren, wenn sie Menschen auf See nicht rettet. Innenministerin Priti Patel hält das für eine grundsätzlich sinnvolle Maßnahme, die sie folgendermaßen begründet: Wenn Boote auf dem Kanal abgefangen und zurückgeschickt werden, werde das die Menschen davon abhalten, die gefährliche Überfahrt überhaupt anzutreten. Tatsächlich unterläuft ein solches Gesetz jedoch ein Grundprinzip des internationalen Seerechts, die Pflicht nämlich, Menschen in Not zu retten.

Mindestens acht Tote im Grenzgebiet

In Polen hat die Regierung gerade ein Notstandsgesetz verabschiedet, das es den Behörden erlaubt, Flüchtlinge zurückzuweisen, die „illegal“ ins Land kommen. Es ist die jüngste Entwicklung in einem diplomatischen Patt mit Belarus, das gerade an der polnischen Grenze eskaliert. Als Reaktion auf Anfang des Jahres verhängte Sanktionen soll Belarus offenbar Menschen aus dem Irak, Iran und Teilen Afrikas ermutigt haben, auf diesem Weg zu versuchen, in die EU zu gelangen. Polens harte Reaktion daruf führt nun dazu, dass zahllose Menschen im Niemandsland zwischen Belarus und Polen in der Falle sitzen. Hilfsorganisationen warnen vor einer drohenden humanitären Krise durch den einsetzenden Winter; mindestens acht Menschen sind dort dieses Jahr bereits gestorben, die meisten von ihnen wegen Unterkühlung.

In Südosteuropa hat unterdessen ein internationales Team von Investigativ-Journalist:innen aufgedeckt, dass Kroatien und Griechenland eine „Schattenarmee“ – Sturmhauben tragende Einheiten in Zivil – einsetzen, die mit den regulären Sicherheitskräften der Länder in Kontakt steht, um Menschen vor dem Überschreiten ihrer Grenzen abzuhalten. In Kroatien wurden diese Einheiten dabei gefilmt, wie sie an der Grenze zu Bosnien mit Knüppeln auf Menschen einschlagen.

In Griechenland werden die Truppen beschuldigt, Boote in der Ägäis abzufangen und die Passagiere auf Rettungsbooten in türkische Gewässer zu treiben. (Kroatien hat zugesagt, Berichten über Missstände nachzugehen, während Griechenland die vorgeworfene Praxis bestreitet). Fast genauso schockierend wie die Vorwürfe selbst, ist die Tatsache, dass EU-Vertreter weitgehend mit einem Schulterzucken auf die Enthüllungen reagierten. Dabei wird die Grenzverteidigung in beiden Ländern mit Finanzhilfen der EU unterstützt. Zwölf Mitgliedsländer fordern sogar, die EU müsse ihre Vorschriften ändern, damit sie an ihren Außengrenzen „weitere Präventivmaßnahmen“ finanzieren kann, darunter Mauern und Zäune.

Zusammen weisen diese Entwicklungen darauf hin, dass „Pushbacks” – das Zurückdrängen von Migrant:innen über die Grenze eines Landes, auch wenn sie das gefährdet oder ihr Recht auf Asyl nicht berücksichtigt – dabei sind, zu einer etablierten Praxis zu werden. Was früher weitgehend im Verborgenen stattfand, wird heute immer offener gemacht. Einige Regierungen suchen sogar nach Wegen, das Vorgehen zu legalisieren. Der britische Plan wird allerdings von der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR scharf kritisiert, deren Vertreter sagte, es würden dadurch „unvermeidlich“ Leben gefährdet.

Dabei betrifft das Problem nicht nur die Gegenwart. Es ist eine Generalprobe dafür, wie unsere Regierungen mit den Auswirkungen der Klimakrise in den kommenden Jahren umgehen. Ein neuer Bericht der Weltbank geht davon aus, dass bis 2050 216 Millionen Menschen aufgrund von Wasserknappheit, Ernteausfällen und steigendem Meeresspiegel aus ihren Ländern fliehen werden. Auch wenn diese Vorhersagen meist vage sind und zu Übertreibungen neigen, werden in Zukunft mehr Menschen auf der Flucht sein. Und sie werden kaum zurückkehren, solange zuhause die wirtschaftlichen Aussichten schlecht sind oder Konflikte drohen. Im April sagte US-Vizepräsidentin Kamala Harris, Dürre und massive Sturmschäden seien Ursachen für die zunehmende Migration aus Zentralamerika.

Unglücklicher Weise betrachten viele Politiker:innen Vertreibung als eine kulturelle Bedrohung. Der britische Premier Boris Johnsons stellte vor dem Start des Klimagipfels Cop26 in Glasgow die falsche Behauptung auf, „unkontrollierte Einwanderung“ sei für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich gewesen und der Welt stehe heute ein ähnliches Schicksal bevor. In dieser Darstellung wird eine Umweltkatastrophe, die uns alle betrifft, in die Frage umgewandelt, wie die Reichen und Mächtigen ihre Privilegien erhalten können.

Reichere Teile der Welt haben bereits begonnen, ihre Grenzen militärisch aufzurüsten. Ein Prozess, der sich angesichts der Flüchtlingsbewegungen im vergangenen Jahrzehnt beschleunigt hat. Unterstützt werden sie dabei von einer wachsenden Grenzschutzindustrie. Ein kürzlich erschienener Bericht des Transnational Institute warnt vor „dem grenzindustriellen Komplex“, einer Multimilliarden-Dollar-Industrie. Sie reicht von der Sicherheitsinfrastruktur über Biometrie zu künstlicher Intelligenz. Es wird erwartet, dass der globale Markt allein für Zäune, Mauern und Überwachung bis 2050 auf 65 bis 68 Milliarden US-Dollar (56 bis 58,7 Milliarden Euro) wachsen wird.

Das aber ist eine falsche Form der Sicherheit. Restriktiver und gewaltsamer Grenzschutz macht Gesellschaften autoritärer. Die Gewalt hält die Menschen nicht davon ab, sich auf den Weg zu machen. Stattdessen werden sie gezwungen, gefährlichere Fluchtwege zu nehmen. Darüber hinaus machen sich diese Länder erpressbar und werden leicht zu einer Zielscheibe skrupelloser Nachbarländer. Das Ergebnis ist letztlich eine gefühllose Missachtung von Leben.

Wir brauchen einen Plan, der anders ansetzt. Er muss den betroffenen Menschen bei der Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen helfen und die globale Ungleichheit verringern. Es braucht eine Migrationspolitik, die die Realität der Lage der Menschen berücksichtigt. Im vergangenen Jahr urteilte das UN-Komitee für Menschenrechte, dass Regierungen keine Menschen in Regionen zurückschicken dürfen, in denen ihre Sicherheit direkt von Klimanotstand bedroht wird. Bisher gibt es keinen rechtlichen Rahmen zum Schutz von Menschen, die sich aus Umweltgründen auf der Flucht befinden. Eine umfangreiche neue US-Studie, die von der Regierung Biden in Auftrag gegeben wurde, empfiehlt Gesetze zum Schutz von Klimamigrant:innen. Wie ein solche Gesetze aussehen könnte, sagt sie nicht.

Länder müssen sich in den kommenden Jahren entscheiden, wie sie mit Fluchtbewegungen umgehen. Entweder sie erarbeiten ein System, welches das Leben und die Würde der Menschen schützt. Oder sie verteidigen ihre Grenzen stärker und nehmen die menschlichen Kosten hierfür in Kauf. Wenn wir Letzteres vermeiden wollen, ist jetzt der Zeitpunkt, die gewalttätige Logik des Pushbacks infrage zu stellen, bevor sie in unseren Gesetzen festgeschrieben wird.

Daniel Trilling ist Autor von Lights in the Distance: Exile and Refuge at the Borders of Europe und Bloody Nasty People: the Rise of Britain’s Far Right

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Daniel Trilling | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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