Mehr als ein Jahrhundert lang war Dabiq nichts weiter als ein unscheinbares Dorf im Norden Syriens – ein Fleck auf einer weiten Ebene zwischen der Grenze zur Türkei und dem Irak. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Ort einmal das Schicksal von Nationen prägen würde. Einem verwitterten Schild am Dorfeingang zufolge lebten hier einst 4.000 Menschen, von denen die meisten aber wegen fehlender Arbeit fortgegangen waren. Ab 2011 dann auch, um sich dem Aufstand gegen Baschar al-Assad anzuschließen. Während der ersten drei Kriegsjahre lockte die Ankunft eines fremden Autos aber höchstens ein paar gelangweilte Kinder auf die leeren Straßen. Ansonsten bewegte sich in Dabiq nichts.
Die wenigen Männer, die geblieben waren, fanden gelegentlich Arbeit auf einer Baustelle: etwa ein einfaches Haus für einen, der ins Dorf zurückkehrte, nachdem er zehn Jahre lang im Libanon gearbeitet hatte. Oder einen Zaun für den Schrein, der die einzige Sehenswürdigkeit des Orts darstellte – das Grab von Suleiman ibn Abd al-Malik. Der Umayyaden-Kalif wurde hier 717 begraben. Der syrische Bürgerkrieg aber, so schien es, fand anderswo statt.
Bis der „Islamische Staat“ (IS) Anfang 2014 nach Dabiq kam. Die Dorfältesten hatten das seit Beginn des Krieges befürchtet. Und die Dschihadisten seit langem geplant. Für ihre Anführer war der Krieg damit in eine neue Phase eingetreten, die den Kampf um die Macht in Syrien in etwas weitaus Bedeutenderes verwandeln sollte. Für sie ist der Konflikt, der das Land zerreißt, nicht einfach ein Kampf zwischen einem skrupellosen Staat und einer aufbegehrenden Bevölkerung – wie das die säkulare Opposition sieht. Die Dschihadisten sehen sich als Avantgarde eines Krieges, von dem sie glauben, er sei seit der Entstehungszeit des Islams vorherbestimmt.
Eine uralte Prophezeiung
Einer der ersten überlieferten Aussprüche des Propheten Mohammed erwähnt Dabiq als den Ort des religiösen Endkampfes zwischen Christen und Muslimen. Nach einer anderen Prophezeiung soll die finale Konfrontation erst nach einer Phase der Waffenruhe zwischen Muslimen und Christen eintreten, während der Muslime – und nur die puritanischen Sunniten gelten beim IS als solche – einem unbestimmten Gegner gegenüberstehen, den die Dschihadisten als „Perser“ identifizieren.
Die Stunde wird nicht anbrechen, bis die Römer (Christen) in Dabiq eintreffen. Dann wird eine Armee der Besten, die zu dieser Zeit auf Erden leben, von Medina aus zu ihnen aufbrechen und gegen sie in den Kampf ziehen. Ein Drittel der Kämpfer wird fliehen; Allah wird ihnen nie vergeben. Ein Drittel wird als Märtyrer sterben und ein Drittel wird den Sieg davontragen; sie werden fortan frei von Sorgen leben. Dann werden sie Konstantinopel erobern.
Fast 1.500 Jahre später sind Scharen von jungen Kämpfern gekommen, die an diese Prophezeiungen glauben und den Aufstieg des IS als Wendepunkt in einem jahrhundertealten Kampf betrachten. Für sie stehen die „Perser“ nicht nur für den Iran, sondern auch für das alawitische Assad-Regime und die Schiiten-Milizen, die aus der ganzen Region zu dessen Verteidigung ins Land gekommen sind.
Die ersten Dschihadisten kommen im Sommer 2012 nach Syrien. Der Krieg ist da schon über ein Jahr alt und beginnt allmählich, sich zugunsten der Opposition zu drehen. Im Laufe der folgenden sechs Monate strömen Ausländer aus allen Teilen der Welt ins Land. Den vereinzelten Oppositionsgruppen, die ihre anfänglichen Ziele auf dem Schlachtfeld nicht verwirklichen konnten und über keinen überzeugenden Plan verfügen, was für eine Gesellschaft einmal aus den Ruinen Syriens entstehen soll, zwingen diese Neuankömmlinge ihren Willen auf. An einem Tag im Mai 2014 trifft eine Lkw-Kolonne in Dabiq ein und die Dschihadisten quartieren sich in der Moschee ein, ohne auch nur ein Wort zu den Bewohnern des Ortes zu sagen. In den drei folgenden Monaten errichtet der IS mitten im Dorf einen Kommandoposten und schickt Hunderte von Kämpfern nach Dabiq, die sich dort mit ihren Familien ansiedeln sollen.
Heute ist Dabiq neben dem strategischen Knotenpunkt Rakka im Osten Syriens und dem irakischen Mossul das dritte Zentrum des IS. Es ist der Ort, der es der Organisation erlaubt, ihren Amoklauf theologisch zu begründen. Aus Sicht des IS verleiht der Fakt, dass in islamischen Lehren auf die Stadt verwiesen wird, seinem Raub- und Mordzug ein unanfechtbares Mandat – ein mächtiges Instrument, wenn man versucht, eine neue Weltordnung zu etablieren. Und die Erzählung verfängt. Auf die etwa 20.000 Ausländer, die sich bis heute dem sogenannten Islamischen Kalifat angeschlossen haben, übt der Symbolismus von Dabiq eine so gewaltige Anziehungskraft aus, dass die Gruppe sogar ihr Online-Magazin nach der Stadt benannt hat.
Viele der neuen Einwohner Dabiqs hatten wesentlichen Anteil daran, dass der IS zu der schlagkräftigen und beängstigenden ideologischen Kraft werden konnte, die die Gruppe heute darstellt. „Sie sind in unsere Häuser eingezogen“, berichtet ein Kämpfer der Islamischen Front – einer konservativen Gruppierung aus den Reihen der bewaffneten syrischen Opposition, die den IS ablehnt und bekämpft. Wie alle anderen Bewohner Dabiqs hat auch er Angst vor den Dschihadisten und ist nur unter dem Schutz eines Pseudonyms bereit zu sprechen. „Sie haben meinen Vater bedroht, mein Haus besetzt, unsere Tiere getötet und unseren Krieg gestohlen. Wir bekämpfen sie ebenso erbittert wie das Regime.“
Mitte 2015 ist Dabiq ikonografisch komplett auf Linie gebracht. Über allen Moscheen und öffentlichen Gebäuden wehen schwarze Fahnen. Auf vielen schwarz gestrichenen Häuserwänden prangt die Visitenkarte der Dschihadisten – das in weißer Farbe geschriebene islamische Glaubensbekenntnis. Kämpfer kommen und gehen in Scharen. Seit der Übernahme durch den IS hat sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt. Die Einheimischen sind fast alle geflohen und haben ihre Felder den Marodeuren überlassen, die die meisten Insignien des modernen Lebens ablehnen. Das Grab von Suleiman ibn Abd al-Malik wurde ebenso zerstört wie alle anderen Gräber, die den ISlern nicht einfach und bescheiden genug ausfielen. Abgesehen von Lkws, Generatoren und modernen Waffen gleicht das Leben hier nun wieder jenem im siebten Jahrhundert.
Für den Aufstieg des IS gibt es nicht den einen Grund, der alles erklärt. Dieser Text versucht, einige Wendepunkte zu zeigen, die entscheidend für den Erfolg der Gotteskrieger waren. Dazu werden die Geschichten einer Handvoll Männer erzählt, mit denen ich im Laufe der vergangenen vier Jahre im Irak und in Syrien immer wieder ausführlich gesprochen habe. Ihre Beweggründe, sich dem IS anzuschließen, sind ähnlich, doch in manchen Punkten widersprechen sie sich auch. Sie alle sind befeuert vom Gefühl, einer göttlichen Mission zu folgen, aber es gibt auch Motive, die nichts mit ihrem Verständnis der islamischen Schriften zu tun haben.
Einige sahen sich als Opfer von Unterdrückung, andere als Söhne enteigneter Familien und nur wenige waren neben dem Frust über den beschämenden Machtverlust gegenüber dem Westen frei von der Sehnsucht nach der Frühzeit des Islams. Ende 2014 kämpfen sie alle unter dem Banner der gefährlichsten Dschihadisten-Gruppe der vergangenen 30 Jahre.
Im Windschatten der FSA
Im Februar 2013 befinde ich mich einige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt und sehe mir gerade die Überreste eines Panzers der syrischen Armee an, der vor einem ehemaligen Regierungsbüro steht. Die Rebellen, bei denen ich untergekommen bin, warnen mich, das Gebäude nebenan sei von Ausländern besetzt, die gekommen seien, um zu kämpfen. Der IS als solcher hat sich noch nicht konstituiert. Anfang 2013 kommen aber Kämpfer aus der ganzen Welt in die hügeligen Berge der Region Jebel al-Akrad im Nordwesten Syriens, 320 Kilometer westlich von Dabiq. Unterwegs haben sie alawitische Familien zur Flucht gezwungen und deren Häuser beschlagnahmt. Sie kommen im Windschatten der Freien Syrischen Armee, der es in den Wochen zuvor gelungen ist, die Streitkräfte Assads südwärts in Richtung der Regierungshochburg Latakia zu drängen.

Karte: der Freitag
Während ich mir den Panzer ansehe, kommt einer der Neuankömmlinge auf mich zu. Er hat eine Kalaschnikow um die Brust geschnallt und verlangt meinen Ausweis. Ich frage, was ihn dazu veranlasst hat, sein bisheriges Leben aufzugeben und nach Syrien zu reisen. „Omar und Ali – ist das deine Frage?”, entgegnet er mir. Omar ist ein traditionell sunnitischer Name – Ali hingegen wird mit dem schiitischen Islam identifiziert. Der Mann, der sich Abu Muhammad nennt, stellt damit sofort klar, dass es hier für ihn um einen Glaubenskrieg geht. Er und die anderen Dschihadisten haben in ihrem Haus als Erstes alles von den Wänden entfernt, was an den Glauben der vertriebenen Alawiten erinnert.
Abu Muhammad ist 30, gebürtiger Libanese, hat vier Frauen, zehn Kinder und eine amerikanische Ausbildung. Nun will er mich wegen des Verdachts auf Spionage verhaften. „Wir haben unsere Gründe, hier zu kämpfen“, sagt er in perfektem Englisch. „Das alles ist vorbestimmt.“ Kurz darauf kommen mir Angehörige der Rebellengruppe, bei der ich untergekommen bin, zu Hilfe. Abu Muhammad entschließt sich darum, mich doch nicht gefangenzunehmen. Stattdessen lädt er mich zum Tee ein. Wir setzen uns in dem von seiner Gruppe besetzten Haus auf Plastikstühle und reden. Er ist überzeugt, dass es keinen Unterschied macht, ob man im westlichen Wirtschaftssystem lebt, Geld verdient, Steuern zahlt und an dem nicht-islamisch geprägten öffentlichen Leben teilnimmt – oder ob man seinem Glauben explizit abschwört. Beides seien gleichschwere Vergehen.
„Das wird ein Krieg gegen einen mächtigen Gegner“, sagt er. „Und die Muslime werden ihn gewinnen. Du bist im Rahmen einer humanitären Mission hier, also darfst du gehen. Aber bleib nicht lange!“ Das tue ich nicht. Aber im Laufe der folgenden 18 Monate, während fünf weiterer Reisen in den Norden Syriens, kann ich mitansehen, wie die Dschihadisten in den Provinzen Idlib und Aleppo nach und nach immer weiter an Einfluss gewinnen. Sie erobern immer mehr Gebiete, insbesondere auf dem Land. Wo sie hinkommen, zwingen sie den Bewohnern rücksichtslos ihren Willen auf und missachten die Anweisungen der anderen Rebelleneinheiten, die auf den Trümmern dessen, was von Syrien übrig bleibt, einen neuen Staat errichten wollen. Die Dschihadisten betrachten Assad zwar als Teil des Problems, verfolgen aber ein weitreichenderes Ziel. Deshalb hintertreiben sie die Sache der Rebellen. Wo sie können, verwandeln sie den Kampf gegen das Regime in ein nihilistisches Alle-gegen-alle.
Studenten und Gotteskrieger
Als Abu Issa, ein junger Dschihadist, Ende 2011 aus dem Zentralgefängnis von Aleppo entlassen wird, ist die Trojanisches-Pferd-Operation des IS, den syrischen Bürgerkrieg zu kapern, bereits in vollem Gange – begünstigt durch die Durchlässigkeit der türkischen Grenze, die Brutalität des Assad-Regimes, die Erfolglosigkeit der Versuche, die einzelnen Oppositionsgruppen in eine einheitliche Armee zu verwandeln, und nicht zuletzt auch durch die Entlassung von gewaltbereiten Gefangenen wie Abu Issa aus syrischen Gefängnissen. Als Syrer mit Verbindungen zu Al-Qaida wird Abu Issa zusammen mit Dutzenden seiner Mitstreiter entlassen. Assad gewährt islamistischen Gefangen Amnestie und verkauft das als Geste der Versöhnung. In Wahrheit steckt ein ganz anderes Kalkül dahinter.
Viele Al-Qaida-Leute sind bereits mehrere Jahre in den berüchtigten syrischen Gefängnissen interniert, bevor der Aufstand gegen Assad beginnt. „Wir saßen in den schlimmsten Löchern Syriens“, sagt Abu Issa, der einem der zahlreichen IS-Vorgänger angehörte und 2004 und 2005 gegen die US-Armee im Irak gekämpft hat, bevor er 2006 aus Bagdad flieht. „Wenn man für unsere Verbrechen verurteilt wurde, kam man in eines der Hochsicherheitsgefängnisse. Dort konnte man noch nicht einmal mit den Wärtern reden. Es gab nichts als Brutalität und Angst.“
Doch einige Monate bevor Abu Issa entlassen wird, holt man ihn und eine Gruppe anderer Dschihadisten aus ihren im ganzen Land verteilten Isolationszellen ins Hauptgefängnis von Aleppo, wo sie plötzlich mehr Kontakt untereinander haben dürfen und auch sonst Annehmlichkeiten zugestanden bekommen. „Es war wie in einem Hotel“, sagt er. „Wir konnten es nicht glauben. Es gab Zigaretten, Bettdecken, alles, was man wollte. Man konnte sogar Mädchen kriegen.“ Schon bald sind die Insassen noch über etwas Weiteres verblüfft: Sie werden mit Universitätsstudenten zusammengelegt, die in Aleppo bei Protesten gegen das Regime verhaftet wurden.
„Das waren Kinder mit Plakaten, die mit Dschihadisten zusammen ins Gefängnis gesteckt wurden. Einer von ihnen war Kommunist und hat mit allen über seine Ansichten geredet. Ein Typ von Al-Qaida regte sich unglaublich über ihn auf. Er drohte ihm, ihn zu töten, falls er ihm noch einmal über den Weg laufen sollte.“ Abu Issa und die anderen inhaftierten Islamisten sind bald der Überzeugung, dass es nur einen Grund geben kann, warum man sie in das Gefängnis nach Aleppo gebracht hat: Sie sollen die Studenten, die damals in der größten Stadt Syriens die Avantgarde der Proteste bilden, ideologisch radikalisieren.
Am selben Tag, an dem Abu Issa und viele seiner Freunde entlassen werden, lässt auch die von Damaskus unterstützte libanesische Regierung über 70 Dschihadisten frei, von denen viele wegen terroristischer Vergehen verurteilt sind. Für die Behauptung, das syrische Regime fördere gezielt den Extremismus, um die Opposition zu spalten und seine eigene Version des Konflikts zu verkaufen, wonach es in dem Krieg nur um die Bekämpfung des Terrorismus gehe, gibt es daher zahlreiche Belege. „Es gab keinen anderen Grund, warum salafistische Dschihadisten zusammen mit Studenten in dem Gefängnis waren“, sagt Abu Issa, der heute im türkischen Exil lebt. „Sie wollten, dass die Studenten sich radikalisierten. Wenn es weiter ein Straßenprotest geblieben wäre, hätte dieser das Regime innerhalb von Monaten zu Fall gebracht. Und das wussten sie.“
Zunächst sprechen die Dschihadisten nicht darüber, warum man sie freigelassen hat. Sie sind einfach erleichtert, dass sie den Gefängnissen, die einen in Syrien für Jahrzehnte verschlucken können, irgendwie entkommen sind. „Doch mit der Zeit wurde allen klar, was vor sich ging“, erzählt Abu Issa. „An diesem Tag wurden ein paar äußerst wichtige Terroristen freigelassen. Sie taten, was man von ihnen erwartete und schlossen sich unverzüglich dem Kampf gegen das Regime an. Von diesem Augenblick an ging es in diesem Krieg nicht mehr um Bürgerrechte.“
Anfang 2013 errichten die Dschihadisten innerhalb der syrischen Grenzen dann Bootcamps, mehrere Camps weniger als vier Kilometer vom Hauptgrenzübergang zur Türkei entfernt. Neue Rekruten erhalten 30 Tage Grundausbildung und intensive Koran-Stunden, dann werden sie an die Front geschickt. Ungefähr zu dieser Zeit treffe ich den irakischen Dschihadisten Abu Ismael, der aus seiner Vergangenheit keinen Hehl macht. „Von 2005 bis 2011 war ich Mitglied von Al-Qaida. Ich habe mich der Gruppe zusammen mit meinem Vater angeschlossen, als ich 16 war.“ Als mittlerweile 23-Jähriger gelangt er 2012 in die Provinz Aleppo und wird dort von der örtlichen Oppositionseinheit angenommen. „Wir trauen Al-Qaida nicht“, sagte der Anführer der Gruppe damals. „Sie wollen nicht das, was wir wollen. Aber als Muslime müssen wir Reisende aufnehmen, insbesondere wenn sie gekommen sind, um zu helfen.“
Abu Ismael ist einer von vielen Irakern, die nach Syrien kommen. Für ihn und die anderen ist der Bürgerkrieg die Verlängerung der Konfliktlinie, die seit 2005 bereits den Irak spaltet – ein Kampf zwischen Sunniten und Schiiten. Auch wenn die Frontlinien sich heute auf eine moderne politische Rivalität gründen, glaubt Abu Ismael, sie seien in dem historischen Bruch zwischen den Glaubensrichtungen verwurzelt, der sich vor mehr als tausend Jahren in Mesopotamien ereignet hat. „Es war nicht schwer, herzukommen und andere Mudschaheddin zu finden“, sagt er. „Wir können kämpfen, wo und wann wir wollen. Und so Gott will, werden wir siegen.“ Für den Aufstieg des IS ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 Iraker dem Kampf in Syrien anschließen.
Geplante Infiltration
April 2013. In Syrien kämpfen nun bereits 5.000 Iraker, täglich kommen neue hinzu. Veteranen des Kampfes gegen die US-Besatzung und gegen die schiitische Herrschaft im Irak haben die Grenze überschritten und nehmen in einer neuen Gruppe Führungspositionen ein, die sich schon bald zur bestorganisierten und fähigsten Gotteskriegergruppe entwickeln wird: Jabhat Al-Nusra. Das ganze Jahr 2013 hindurch kann man sowohl in den Kriegsgebieten entlang der türkischen Grenze als auch auf den innertürkischen Flügen von Istanbul nach Gaziantep oder Antakya Neuankömmlinge in dschihadistischen Kampfanzügen sehen.
Auf jedem Flug, den ich zwischen Mai 2012 und Mai 2014 nehme, sind mindestens fünf Dschihadisten an Bord, eindeutig auf ihrem Weg an die Front. Die meisten weigern sich, neben Frauen zu sitzen. Keiner von ihnen macht einen Hehl daraus, wohin er unterwegs ist. Sie gelangen ohne Schwierigkeiten an Bord. Nach Aussage der Fahrer, die geschickt werden, um sie abzuholen, machen sie sich für gewöhnlich direkt auf zur Grenze. „Ich habe einmal in einer Woche vier von den Typen gefahren, in der darauffolgenden zwei“, erzählt mir ein Taxifahrer aus Antakya im September 2013. „Sie kannten die GPS-Koordinaten der Stelle, zu der sie wollten. Ich habe sie an der Straße rausgelassen und sie sind mit ihren Sachen durch den Wald weitermarschiert.“
Einige Monate zuvor kommt ein graubärtiger Mann in die nordsyrische Stadt Tal Rifaat. Sein Name ist Samer al-Khlifawi. Die Ankunft dieses Mannes ist für die weitere Entwicklung der Terrororganisation entscheidend, denn er weiß, wie man die Befehlskette eines Sicherheitsapparats aufbaut. Das hat er in seiner Zeit als Geheimdienstoberst in der Luftwaffe Saddam Husseins gelernt. Wie alle anderen Mitglieder der Streitkräfte Saddams verlor auch Khlifawi seinen Job, seine Pension und jede Chance auf eine Beschäftigung, als die Amerikaner die irakische Armee auflösten und die Baath-Partei verboten.
Sobald Khlifawi 2013 in Tal Rifaat ankommt, fängt er damit an, den Grundstein für den IS zu legen. Er entwirft einen Spitzel- und Kontrollapparat. Sein Ziel ist es, Strukturen zu etablieren, die dem IS die Übernahme der Kommunen ermöglichen. Ungefähr 50 Iraker, zumeist verdiente Veteranen des Aufstands gegen die Amerikaner, werden nach Syrien entsandt, um das Stammes- und Gemeindeleben ihrer neuen Heimat zu infiltrieren. Khlifawi verfasst Dokumente, die zeigen, mit welch klinischer Effizienz er bei dem Plan vorgeht. (Der Journalist Christoph Reuter veröffentlichte sie im April 2015 im Spiegel). Khlifawi hält die Iraker an, Wohltätigkeitsvereine aufzubauen, um so die mächtigsten Stämme und Clans zu identifizieren. Außerdem sollen sie versuchen, in Familien einzuheiraten. Rivalisierende Machtzentren werden identifiziert, um sie später eliminieren zu können. Die Gemeinden, die die Fremden aufnehmen, weil sie ihnen helfen wollen, sehen die Gefahr nicht kommen.
Innerhalb von Monaten sind die einzelnen Vorbereitungen so weit, dass der nächste Schritt unternommen werden kann. Im April erklärt IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, dass Jabhat al Nusra, die mit al Qaida verbundene Dschihadistengruppe, in der neu benannten Organisation ISIS aufgehen werde. Am selben Nachmittag fahren Baghdadis Männer, die meisten von ihnen Iraker, ins Zentrum von Aleppo und schmeißen die Mitglieder von Al-Nusra aus deren Hauptquartier in der Augenklinik der Stadt. Dann streichen sie das Gebäude schwarz. Überall im Norden Syriens wiederholen sich diese Szenen mit gnadenloser Effizienz. Der IS etabliert sich.
Kurz nach der Vertreibung der Al-Nusra-Front im April 2013 wird Abu Muhammad, der mich im Norden Syrien verhaften wollte, während eines Angriffs auf einen Stützpunkt des Regimes getötet. Samer al-Khlifawi, Mastermind der IS-Befehlsstrukturen, wird im Januar 2014 von einer regionalen Brigade der syrischen Opposition erschossen. Sein unheilvolles Erbe lebt weiter.
Abu Ismael ist heute Emir im Osten Syriens und hat eine Schlüsselrolle bei der Unterwerfung des Nordens durch den IS gespielt. Abu Issa versucht, sich in der Türkei seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Viele Freunde aus seinen Tagen in der dschihadistischen Bewegung sind noch in Kontakt mit ihm, ebenso wie die Männer, mit denen er im Gefängnis war – Muslimbrüder, Männer, die mit Al-Qaida zu tun hatten und viele, die, als sie 2011 anfingen zu protestieren, kein anderes Anliegen hatten, als ein Wörtchen dabei mitzureden, von wem sie regiert werden. „Einige von ihnen sind zu Dschihadisten geworden, genau wie das Regime es wollte“, sagt Abu Issa. „Doch die meisten haben ihre Hoffnung verloren. Heute haben nur noch die Dschihadisten Hoffnung. Sie haben vieles, an das sie glauben können. Und sie picken sich immer das raus, das ihnen gerade in den Kram passt.”
Mitarbeit: Saalim Rizk
Übersetzung: Holger Hutt
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