California Punk Vor dreißig Jahre jagte man Scharfschützen auf die Bands. Der wüste Punk der US-Westküste beeindruckt dem zum Trotz – oder gerade deshalb – noch heute
Javier Escovedo erinnert sich an den Tag, als bei einem Gig der Zeros Scharfschützen auftauchten. „Wir spielten in Larchmont Hall, einem Veranstaltungsort, der von Senioren betrieben wurde“, erzählt der Sänger der kalifornischen 70s-Punk-Band. „Als das Publikum anfing Pogo zu tanzen, dachten die alten Leute, da sei eine Schlägerei am Laufen, ein Krawall oder so etwas. Sie riefen die Polizei, die uns befahl, das Konzert abzubrechen, was wir natürlich nicht taten.“ Zum Glück endete alles ohne Gewalt. „Aber dann spielten wir auf Elk’s Lodge, einem riesigen Gelände, wo man Hallen mieten konnte. In einer fand eine Hochzeit statt, und einer erzählte hinterher, die Hochzeitsgäste seien mit Gläsern beworfen worde
rden. Man kann sich das nur schwer vorstellen – die gesamte Polizei von L.A. rückte an. Ich sah, wie sie auf 40 Kilo leichte Punk-Mädchen einschlugen. Auf den Dächern lagen sogar Scharfschützen.“Punk aus Kalifornien wurde in Großbritannien größtenteils ignoriert. Jon Savage, der damals für das heute eingestellte Musikmagazin Sounds arbeitete, meint den Grund zu kennen. „Nationalismus“, sagt er verächtlich. „Sie wissen schon: Großbritannien hat den Punk erfunden, alles Britische ist am Besten.“ Andererseits wurde der California Punk auch in Kalifornien größtenteils ignoriert. Von der Unmenge an Bands, die auf der neuen Compilation Black Hole vertreten sind – der jüngsten in einer ganzen Reihe von Samplern, die obskure Richtungen des Pop wiederaufleben lassen – waren nur zwei (X und The Germs) bei einem Major-Label unter Vertrag.Die Musik auf Black Hole klingt noch heute frisch. Man wird die Annalen der Rockgeschichte vergebens nach etwas durchforsten, das mit einer Band wie Black Randy and the Metro Squad vergleichbar wäre. Auf Black Hole ist ihr Song Trouble at the Cup vertreten, in welchem der korpulente Black Randy stolz über das Leben als Stricherjunge jault: „Schools and factories make me sick/ I’d rather stand here and sell my dick!“ Von einer Ramones-inspirierten Standard-Nummer ist das ganz schön weit weg.Savages Interesse für California Punk wurde Anfang 1978 geweckt, als einige Fanzines aus L.A. – Search and Destroy und Slash – auf seinem Schreibtisch landeten. „In England war Punk öde und kommerziell geworden“, sagt er. „Es gab The Jam, die Stranglers und das ganze Zeug, das durch die Musikindustrie gelähmt und beherrscht war.“Im Vergleich dazu wirkte die Welt des California Punk, wie sie in diesen Fanzines festgehalten wurde, faszinierend schräg. Als Savage Ende 1978 nach L.A. reiste, fand er eine Szene vor, die auch mit der zornigen Rock-Tradition des Underground an der Westküste nichts zu tun zu haben schien. Sie bestand aus bunten Außenseitern, die ein Besuch von The Damned 1977 in ihrer Stadt angetrieben hatte.Niemals Platten. Nur VideosL.A., so schien es, hatte nicht nur Platz für ehrliche Punkbands (The Dils, The Avengers, The Zeros), sondern auch für Künstler wie The Middle Class, „vier extrem wütende Heranwachsende, die unglaublich schnelle Songs spielten, die alle etwa eine Minute lang waren“, sagt Savage. Dann waren da noch die Weirdos, die von der Pop-Art inspiriert waren, und die Screamers. Letztere hatten zwei Lead-Sänger, zwei Synthesizer-Player und keinen Gitarristen; sie kündigten großartig an, sie würden niemals Platten veröffentlichen – nur Videos.„Alles, was kreativ und energiegeladen war, ging in Ordnung“, sagt K. K. Barrett, damals Drummer der Screamers, heute Film-Designer für Stars wie Sofia Coppola und Spike Jonze. „Die Szene war winzig, etwa 50 Leute machten Musik und 50 Leute stellten das Publikum. Typen, die die Kunsthochschule abgebrochen hatten und Stricher. Es gab keinen Ort, an dem wir auftreten konnten. Als das Masque eröffnete, blühte rund um den Club die Szene auf. Und wir sprechen über einen Ort, dessen Bühne gerade mal 15 Zentimeter hoch war.“Die meisten Bands schafften nur ein oder zwei Singles auf lokalen Indie-Labels, die über Nacht aus dem Nichts entstanden waren und sich mit Namen wie Dangerhouse, Bomp, Posh Boy und Frontier brüsteten. Doch dieser Mangel „tat der Szene gut – denn dadurch beschränkte sich der Output jeder Band auf ihre besten beiden Songs,“ meint Avengers-Sängerin Penelope Houston.Auf dem Weg in die nächste StratosphäreDen Screamers wollte nicht einmal das gelingen. „Wir hätten bei Dangerhouse Singles veröffentlichen können, dem Label, das unser Keyboarder mit gegründet hatte“, erzählt Barrett. „Aber er bekam mit einem der Typen von den Screamers Streit und sie warfen ihn raus.“ Ihr Plan, ausschließlich Videos zu veröffentlichen, gibt er zu, sei „dreist arrogant“ gewesen: „Wir konnten sagen, wir wären auf dem Weg in die nächste Stratosphäre. Aber damals hatte keiner einen Videoplayer. Es war eine völlig lächerliche Idee.“Savage erinnert sich, wie er die Dils interviewte: „Sie hatten einen „politischen Manager“, der eine Menge über Marxismus redete. Ich sagte: „Gut, was werdet ihr machen, wenn ihr einen Plattenvertrag bekommt, wenn ihr ins Fernsehen kommt, wenn ...?“ und sie sahen mich einfach nur an. Ich dachte, „Oh, O.K. Ihr werdet keinen Plattenvertrag kriegen, ihr werdet nicht ins Fernsehen kommen, so läuft das hier.“ Es war romantisch, diese komplette Außenseiter-Subkultur, die 1.000 Exemplare einer 45er Single veröffentlichte. Man konnte seine eigene Kultur aufbauen.“Auf "Forming", einem Song der Germs, sind zwei aufwühlende Gitarrenakkorde über einem Rhythmus zu hören, der irgendwo zwischen dem Geklapper von Maureen Tucker und einem Aufziehspielzeug liegt. Er endet mit einer Kritik des Songs. „They’re playing it all wrong“, sagt Sänger Darby Crash. „The drums are too slow, the bass ist too fast, the chords are wrong.“ Einer der wenigen Songs, die in Großbritannien Eindruck hinterließen, war California Über Alles von den Dead Kennedys. Auch er basiert nicht auf Power-Akkorden sondern auf dem dürren, hallenden Sound einer Surf-Gitarre.Ramponierter Van, gestohlene GitarrenDoch schließlich führte das mangelnde Interesse von Außen auch zum Ende dieser Pioniere. Die Avengers waren so weit gekommen, dass sie vor den Sex Pistols auf ihrem letzten, ausartenden Konzert in San Francisco auftreten durften. „Ich erinnere mich an ein aufgewühltes Meer von Gesichtern, in dem ab und zu einige Freunde auftauchten, nur um sofort wieder verschluckt zu werden“, erinnert sich Penelope Houston. „Es war unheimlich.“ Die Band driftete 1979 auseinander, weil es „keine echten Labels, nur wenige Clubs, kein Radio gab. Es war extrem hart als Band zu überleben.“Die Screamers trennten sich, die Zeros gaben nach einem katastrophalen Trip nach New York auf. „Wir schnappten uns in San Francisco einen ramponierten Van, blieben einen Monat in New York und spielten fünf Konzerte“, lacht Escovedo. „Wir wussten nicht, wie man es angeht. Uns wurden drei Gitarren gestohlen und wir schlichen mit eingezogenem Schwanz zurück nach Hause und entschieden, dass es Zeit für eine Veränderung war. Aber wir hatten das Glück, dabeigewesen zu sein. Wir hatten das Gefühl, die Dinge zu verändern und offensichtlich haben wir das getan. Heute sieht man jemanden mit grünem Haar und ....“, er bricht lachend ab. „In Chula Vista, wo wir herkommen, konnte man wirklich nicht mit grünen Haaren herumlaufen. Wer kurze Haare hatte, war ein Freak. Die Leute schrieen uns hinterher, wenn sie an uns vorbeifuhren. In den Vororten konnte es passieren, dass man verprügelt wurde, wenn man sich so anzog wie wir. Das haben wir definitiv geändert. Diese Kriege haben wir gekämpft.“
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