Jeden Abend kommen sie auf der Straße unterm gelben Schein der Laternen zusammen, setzen sich auf die Mauer eines Nachbarschaftsladens und singen zu der haitianischen Musik, die aus Mobiltelefonen quäkt. Iñapari ist um diese Zeit von Dunkelheit umgeben. Um so besser ist zu hören, wenn sich in der am Flussufer gelegenen Grenzstadt der peruanischen Amazonas-Region die Luft mit dem Klang des Kreolischen füllt. „Wir sind hierher gekommen, weil wir auf der Suche nach einem besseren Leben sind“, sagt der 29-jährige Baptiste Suppler aus Haitis viertgrößter Stadt Gonaïves. Er gehört zum Strom haitianischer Migranten, die im brasilianischen Amazonas-Gebiet auf eine neue Existenz hoffen. Baptiste steht am Ufer des Grenzflusses Acre, der Iñapari von der brasilianischen Grenzgemeinde Assis Brasil trennt. Wer sie passiert, hat Südamerikas größtes und mutmaßlich reichstes Land erreicht. „Wir wollen hinein! Wir wollen durch dieses Tor“, murmelt Baptiste.
Nach Angaben der brasilianischen Behörden haben seit dem Erdbeben, das im Januar 2010 mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete, mindestens 1.500 Haitianer öfter als die Schuhe die Länder gewechselt. Nach einer zermürbenden Tour über die Dominikanische Republik, Panama, Ecuador, Bolivien, manchmal auch Kolumbien und Peru landen sie im verschlafenen Iñapari und warten auf eine Gelegenheit zum Grenzübertritt. Ist der vollbracht, setzen viele in Brasilien auf einen neuen Job. Wenn es sein muss, bei den Staudamm-Projekten oder in den Wasserkraftwerken von Santo Antonio und Jirau.
Ein Kojote muss her
„Ich habe mich wie viele meiner Landsleute für Brasilien entschieden, weil es hier 2014 eine Fußball-WM geben wird“, sagt Esdras Hector, der am 15. Mai nach einer vierwöchigen Tour per Bus und zu Fuß den Amazonas erreicht hat. Die brasilianischen Behörden fühlen sich von diesem jähen Zustrom einigermaßen überrannt. Sie wissen nicht, wie sie die Migranten einstufen sollen. Inzwischen erhielten die Beamten der Bundespolizei die Order, Neuankömmlingen die Einreise zu verweigern, bis man eine Lösung gefunden hat. So bleibt die brasilianische Grenze vorerst geschlossen, zumindest theoretisch, denn für viele in Iñapari gestrandete Haitianer, die hoch verschuldet sind, wäre eine Rückkehr keine Option. So warten die meisten ab und wiegen sich in der Hoffnung, in ein paar Monaten wird die Grenze wieder geöffnet sein. Andere engagieren sich einen Kojoten, einen professionelle Schleuser, den man braucht, um durch den nicht ungefährlichen Dschungel nach Brasilien gelotst zu werden.
„Sie werden nicht aufgeben. Niemals, sie sind nicht mehr weit von ihren Träumen entfernt“, meint die 49-jährige Maria Cardozo Mouzully, der das Gästehaus Hospedaje Iñapari auf der peruanischen Seite gehört, in dem viele Haitianer leben. Deren Schicksal rührt die Regionalregierung nicht im geringsten und verführt sie zu keinerlei Tatendrang. Also hat Mouzully viele ihrer Zimmer und selbst die Küche haitianischen Migranten überlassen, die gerade in der Luft hängen. „Was sollen wir tun? Sie töten? Ihnen dabei zusehen, wie sie vor unserer Haustür verhungern?“
Alles, was uns blieb
71 Meilen östlich von Iñapari liegt Epitaciolândia, eine kleine brasilianische Kommune, in der 160 Haitianer leben, denen der Übertritt nach Brasilien gelang, bevor die Grenze geschlossen wurde. Es sind Studenten, Lehrer, Maurer, Elektriker, Straßenkehrer und Prediger. Sie schlafen auf dem Boden einer Turnhalle, solange sie auf ihre Papiere warten, die ihnen Legalität und Arbeitsmöglichkeiten verschaffen könnten. Um die Zeit zu überbrücken, spielen sie Karten, lesen in der Bibel oder verdingen sich als Handlanger bei den Viehzüchtern der Gegend.
„Eine Katastrophe hat mein Land zerstört“, sagt der 27-jährige Esdras Hector, der Portugiesisch lernt, um eine Anstellung bei den Vereinten Nationen zu bekommen. „Ich weiß, dass ich in Brasilien den Traum verwirklichen kann, meiner Familie in Port-au-Prince eine Stütze zu sein, wenn ich meinen Verstand benutze. Nichts als meinen Verstand.“
Viele haben einen hohen Preis für die Sehnsucht nach einem neuen Leben bezahlt. Silvaine Doris, eine 46-jährige Shampoo-Verkäuferin, die ihren Bruder und ihre Schwester durch das Erdbeben verloren hat, ließ ihre siebenjährige Tochter und den elfjährigen Sohn bei der Familie einer Nichte in Port-au-Prince zurück, die sich nun um die beiden kümmert. „Nachdem ich mir das Ticket gekauft hatte, fing ich an zu weinen. Und wenn ich jetzt an die Kinder denke, zerreißt es mir das Herz.“ Im Augenblick wohnt Silvaine Doris im Gästehaus Pousada Sao Jose in Brasiléia, einer peruanischen Stadt im Amazonas nahe der Grenze zu Bolivien und Brasilien. „Alles, was uns nach dem Beben blieb, war der Wunsch, möglichst schnell auszuwandern.“ Auch andere sind davon beseelt. Zu den nomadisierenden Migranten in der Amazonas-Region gehören auch Männer aus Bangladesch, aus Liberia und Nigeria. Es sollen auch schon Pakistani und Glückssucher aus Tansania gesichtet worden sein.
Peter John Prince, ein junger Mann aus Liberia, erzählt, er habe bis vor einigen Monaten in der Elfenbeinküste gelebt. Dann sei sein Bruder, dem ein Geschäft für Sportbekleidung in Abidjan gehörte, von den Rebellen getötet worden. „Ich bin ein Flüchtling, denn ich musste weg, wollte ich nicht ebenfalls sterben.“ Neben ihm steht der 23-jährige Frank Jideofor aus Nigerias ölreichem Bundesstaat Bayelsa. Ihm wurde der linke Arm amputiert, nachdem er von den gleichen Leuten angeschossen worden war, die auch seinen Vater, einen Regierungsbeamten, ermordet hatten.
Warum hat Frank Jideofor einen Ozean überquert, um nach Brasilien zu kommen? „Ich wollte mein Leben retten, nachdem nicht nur der Vater tot, sondern auch noch unser Haus niedergebrannt war.“ – Wenn aber das Tor ins Gelobte Land verriegelt bleibt?„Ich werde warten.“ – Wie lange? „Sehr lange!“ Er kreuzt die Finger und blickt zum Himmel empor.
Tom Phillips ist Brasilien-Korrespondent des Guardian und in Rio de Janeiro stationiert
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