Als an einem der fünf Kühlwaggons die große, graue Tür geöffnet wird, rennen maskierte Männer den Bahnsteig entlang und schwenken nervös ihre Gewehre. Ein grauenhafter Geruch dringt heraus. Die Gruppe der OSZE-Beobachter kann einen kurzen Blick auf die schwarzen Leichensäcke werfen, die im Inneren aufeinandergestapelt liegen, dann wird die Tür schon wieder geschlossen. Dass dieser Vorgang auf dem Bahnhof im ostukrainischen Tores bei der Aufklärung des Absturzes von MH17 als kleiner Durchbruch gehandelt wird, macht deutlich, wie chaotisch die Bergung der Leichen vonstattenging. Was auch für das dabei eingesetzte Personal gilt.
Bis Anfang der Woche besteht die OSZE-Mission ausschließlich aus Emissären, die sich wegen der Kampfhandlungen ohnehin in der Region aufhalten. Kein einziger Luftfahrtexperte hat den Absturzort bis dahin besucht. Bis Sonntagnachmittag ist noch nicht einmal bekannt, wohin die Leichensäcke gebracht werden. Man munkelt, es geht nach Charkiw. Wie viele Tote sind es? Da muss sich die OSZE-Crew auf die Angaben örtlicher Rettungskräfte verlassen: Bis zum 20. Juli seien im Raum Tores 196 Leichen geborgen worden.
„Wir waren noch nicht in der Lage, die Leichensäcke selbst nachzuzählen“, meint Alexander Hug, stellvertretender Leiter der OSZE vor Ort, während die Rebellen um ihn herumstehen. Michael Bociurkiw ergänzt als Sprecher der Mission: „Es ist unmöglich, die Waggons ohne Spezialausrüstung zu betreten. Der Geruch ist einfach zu stark.“
Keine Frage, die OSZE-Trupps sind ganz und gar auf die Aufständischen angewiesen. „Wir warten darauf, dass sie uns sagen, was wir tun können“, meint einer der Beobachter, als er gerade in einem Donezker Hotel sein Frühstück verzehrt. „Sie sind schwer bewaffnet, wir nicht. Das lässt uns keine andere Wahl, als mit ihnen zu kooperieren.“
Obwohl die Rebellen das Gelände abgesperrt haben, trifft man dort freiwillige Bergleute, lokale Rettungsdienste und Feuerwehrmänner, die – ohne dass jemand die Aufsicht führt – Leichen aus Hafer-, Mais- und Sonnenblumenfeldern holen und in dicke Plastiksäcke packen: Schwarz für mehr oder weniger vollständige Körper. Grün für Körperteile.
So etwas wie eine Zugangskontrolle zum Gelände fehlt. Auch die internationalen Fernsehkorrespondenten scheinen nicht zu realisieren, dass sie selbst Teil der Anarchie sind, die sie unablässig kritisieren. Kameramänner stampfen auf der Suche nach der immer besseren Aufnahme durch die Felder, ohne groß Rücksicht auf menschliche Überreste und Flugzeugtrümmer zu nehmen. Der Sender Sky News muss sich entschuldigen, als ein Reporter vor laufender Kamera einen Koffer durchwühlt.
Anderswo sind persönliche Sachen von den Suchmannschaften am Rand einer Straße gestapelt worden. Neben Taschen und anderen Gepäckstücken liegen die Biografien der Fußballer Kevin Keegan, Ron Atkinson und Nigel Clough in einer ordentlichen Reihe.
Kuscheltiere und Kerzen
Gerüchten zufolge soll es Plünderungen gegeben haben. Über das Ausmaß ist nichts bekannt. Vieles, was leicht zu haben gewesen wäre, liegt auch drei Tage nach dem Absturz noch unberührt herum: Uhren, Schuhe, Koffer und sogar Whisky-Flaschen aus dem Duty-free-Shop, die den jähen Sturz in die Tiefe unbeschadet überstanden haben. An einer Stelle sind Einheimische gerade dabei, Kuscheltiere abzulegen und Kerzen aufzustellen, um der Opfer zu gedenken. Keiner weiß in diesem Augenblick, ob und wie die Hinterbliebenen jemals die Habseligkeiten ihrer Angehörigen entgegennehmen können. Vorerst scheint niemand damit beschäftigt, sie systematisch zu sammeln und zu erfassen.
Experten zufolge ist die Absicherung einer Absturzstelle von entscheidender Bedeutung, will man in Erfahrung bringen, was genau mit Flug MH17 passiert ist. Phil Giles, der den Anschlag auf den Pan-Am-Flug 103 am 21. Dezember 1988 über Lockerbie untersucht hat, ließ bereits wissen, seinerzeit habe letzten Endes alles von einem fingernagelgroßen Stück des Zünders abgehangen, das leicht in den Boden hätte getreten werden können. Andere Experten meinen, Spuren der Explosion auf der Oberfläche des Flugzeuges könnten Hinweise auf den Hersteller der Rakete geben, von der die Maschine möglicherweise getroffen wurde. Zudem könne die Aufzeichnung der Explosion im Cockpit so etwas wie ein „Fingerabdruck“ sein, mit dem sich der Typ der verwendeten Rakete identifizieren lasse, sagt Tony Cable, der seit 32 Jahren für die britische Air Accidents Investigation Branch Unfälle mit Flugzeugen aufklärt.
Je mehr Zeit seit dem Absturz vergeht, desto größer sind Wut und Bestürzung, besonders in den beiden Ländern, die von dem Absturz am stärksten betroffen sind – die Niederlande und Malaysia. De Telegraaf, auflagenstärkste Zeitung in Den Haag und Amsterdam, verlangt kategorisch, jetzt müssten NATO-Truppen in den Osten der Ukraine geschickt werden. Nur dadurch könne man sich den Zugang zum Absturzort verschaffen, den man brauche.
In Donezk halten die Rebellen solche Absichten für deplatziert und gefährlich. Alle Experten seien willkommen, erklärt Alexander Borodai, selbsternannter Premierminister der Volksrepublik Donezk. Man erwarte in dieser Woche mindestens 80 Experten, darunter 20 Spezialisten aus Malaysia. Er wisse nicht, warum die internationale Gemeinschaft nicht schneller auf den Vorfall reagiert habe. „Wir sind keine Insel, es sollte nicht allzu schwer sein, hierherzukommen.“
Angesichts der andauernden militärischen Zusammenstöße zwischen ukrainischer Armee, Nationalgarde und Rebellen – die Gefechte erfassen inzwischen auch Donezk – ist die Sicherheitslage wohl ein Grund für die verzögerte Anreise der Spezialisten. Abgesehen davon, dass auf dem Flughafen von Donezk kein Flugbetrieb mehr abgewickelt wird, seit das Gelände im Mai tagelang umkämpft war.
Auf die Frage, ob er mit den russischen Behörden wegen der Blackbox in Kontakt stehe, erwidert Alexander Borodai lediglich: „Offiziell nicht.“ Die Rebellen hätten „technische Bauteile“ gefunden, die sie für die Flugschreiber hielten. Sie würden an einem sicheren Ort in Donezk aufbewahrt, bis man sie den internationalen Ermittlern übergeben könne. Was inzwischen geschehen ist.
Am Sonntagabend trifft ein forensischer Experte des Roten Kreuzes in Donezk ein, der sofort nach der Katastrophe Hilfe angeboten hat, was von den Behörden umgehend akzeptiert wurde.
Ein Kind im Kofferraum
Anhand der Geschichten, die Einheimische aus der Stadt Tores erzählen, wird deutlich, wie zufällig die Bergung der Leichen vonstattengehen konnte. Ungefähr zwei Stunden nach dem Absturz am Donnerstag vergangener Woche fuhr ein Mann mit einem weißen Lada vor dem Krankenhaus der Stadt vor und zog die Leiche eines Kindes aus dem Kofferraum. Der Junge sei vielleicht sechs oder sieben Jahre alt gewesen und hätte ein asiatisches Aussehen gehabt, erinnert sich die diensthabende Schwester Olga Karpsow. Der Mann stamme aus der Gegend, ein entfernter Bekannter. „Er erzählte, als er den Körper des Jungen entdeckt habe, den er für so alt wie seinen Sohn hielt, hätten ihn die Gefühle übermannt. Und da habe er sich eben entschlossen, die Leiche ins Hospital zu bringen, damit sie nicht von herumstreunenden Hunden angefressen würde. Der Junge war über und über mit Blut bedeckt. Sein grünes T-Shirt hatte sich am Hals zusammengezogen, der Körper wies Verbrennungen sowie Verletzungen an Armen und Beinen auf.“ Das Krankenhauspersonal habe die Leiche gewaschen und gekühlt, später aber Order erhalten, sie in ein nahe gelegenes Dorf zu bringen. Von dort, glaubt die Schwester, sei sie zusammen mit 37 anderen aufgefundenen Toten zum Kühlzug in Tores gebracht worden.
Nachdem die OSZE den Bahnhof verlassen hat, entfernen sich auch die Bewaffneten, Zug und Bahnsteig bleiben in gespenstischer Ruhe zurück. Der Lokführer meint, er wisse nicht, wann er abfahren solle und wohin. In der muffigen, von Zerfall gezeichneten Eingangshalle der Station steht eine Gruppe Einheimischer. Sie wollen wissen, wann der nächste Personenzug abfährt. „Ihr seid nur hierhergekommen, weil Ausländer gestorben sind“, sagt einer von ihnen. „Aber hier herrscht schon seit Monaten Krieg, nur das interessiert euch nicht.“
Shaun Walker ist zurzeit als Korrespondent des Guardian in der Ukraine unterwegs
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