Die meisten populärwissenschaftlichen Beträge zur Evolution betonen den egoistischen Charakter dieses Prozesses. Neue Arten entstehen demnach, weil das Individuum sich – getrieben von einer Art innerem Zwang – auf Kosten anderer vermehrt und verbreitet. Frans de Waal sieht das etwas differenzierter. Der 61 Jahre alte Leiter des Instituts für Primatenforschung an der Emory University in Atlanta ist überzeugt, dass der Erfolg des Homo Sapiens in erster Linie auf unserer Empathiefähigkeit und auf dem Bedürfnis gründet, andere zu verstehen und anzuerkennen. Dem Menschen ist ein Feingefühl gegenüber den Artgenossen angeboren. In der Tat verfügen die meisten Säugetiere über diese Fähigkeit, insbesondere aber die Primaten. Und erst diese sozialen Fähigkeiten haben uns gedeihen lassen, glaubt de Waal.
Herr de Waal, die Evolution wird sehr häufig als ein höchst egoistischer Vorgang beschrieben. Glauben Sie, dass diese Perspektive die Bedeutung von sozialer Kooperation verschleiert?
Ja. Wir müssen den Prozess der Evolution – bei dem es sich ja erstmal wirklich um einen eigennützigen handelt – von den tatsächlichen Motivationen der Tiere unterscheiden. So hat sich zum Beispiel Sex zunächst als probates Mittel der Reproduktion erwiesen. Und trotzdem denken wir beim Sex heute lange nicht immer nur an Fortpflanzung. Nicht umsonst gibt es schließlich die Pille. Dass sich eine Verhaltensweise aus eigennützigen Gründen entwickelt hat, muss also folglich nicht heißen, dass sie auch auf psychologischer Ebene egoistischen Prinzipien gehorcht. Allein aus diesem Grund konnte sich so etwas wie Mitgefühl entwickeln.
Was war der Auslöser dafür?
Immer mehr Biologen sind sich darin einig, dass Empathie mit der Entwicklung der mütterlichen Fürsorge bei den Säugetieren entstanden ist. Ein Weibchen muss mit ihrem Nachwuchs permanent Kontakt halten, damit es merkt, wenn die Kleinen in Gefahr sind oder es ihnen anderweitig nicht gut geht. Das erklärt wahrscheinlich, warum Frauen eher zur Empathie neigen als Männer. Es gibt auch biochemische Hinweise. Das Hormon Ocytocin spielt hier wahrscheinlich eine Schlüsselrolle. In weiblichen Säugetieren ist es viel präsenter als in männlichen. Wenn man das Kooperations- und Konkurrenzverhalten einer Gruppe von Männern und Frauen untersucht und einzelne Teilnehmer dann mit Ocytocin einsprüht, zeigen sie sich gleich viel zutraulicher und mitfühlender. Das hängt mit dieser uralten Verbindung von mütterlicher Fürsorge und Empathie zusammen.
Oxytocin ist aber kein Privileg des Menschen.
Der entscheidende Punkt ist, dass zwar alle Säugetiere in der ein oder anderen Form und Ausprägung zur Empathie fähig sind. Auf einer niedrigen Stufe entwickeln sie fast alle eine Sensibilität für die Gefühle ihrer Artgenossen und machen sich diese Gefühle oft auch zu eigen: Wenn einer glücklich und heiter ist, werden die anderen auch glücklich und heiter. So eine emotionale Ansteckung kann man wirklich bei vielen Tieren beobachten, sogar bei Mäusen.
Höher entwickelte Tiere sind aber weit darüber hinaus mitfühlend. Sie versuchen, den Gemütszustand ihres Gegenüber zu verstehen – zu ergründen, warum der andere jetzt traurig oder fröhlich ist. Mäuse sind zu dieser Art von Mitgefühl nicht fähig, Menschenaffen, Delfine und Elefanten dagegen schon. In Menschen entwickelt sich diese emotionale Perspektive im Alter von zwei Jahren, wenn auch das Selbstbewusstsein entsteht. Dieser Zusammenhang lässt sich für alle mitfühlenden Arten beobachten. Je bewusster ein Tier sich selbst wahrnimmt, desto empathischer ist es für gewöhnlich auch.
Wie wichtig war Empathie für die Entwicklung des Homo sapiens?
Außerordentlich wichtig. Sie hält unsere Gesellschaften zusammen, sie bringt uns dazu, dass wir uns um die Kranken und Alten kümmern, und erst unsere hohe Empathiefähigkeit ermöglicht uns auch das Zusammenleben in Städten. Schimpansen, die grundsätzlich sehr tolerant sein können, ertragen es nicht lange, von fremden Artgenossen umgeben zu sein. Sie fangen an, sich gegenseitig umzubringen. Menschen machen das nicht. Wir halten es prima mit einer ganzen Masse von Fremdlingen aus. In dieser Hinsicht sind wir tatsächlich etwas besonderes.
Ja, das ist außerordentlich gefährlich. Viele Ökonomen hängen ja sehr an der Vorstellung, dass in der Natur alles auf den Wettbewerb ausgerichtet ist und fordern deshalb auch eine auf Wettbewerb ausgerichtete Gesellschaft, die dieses vermeintliche Naturprinzip nachahmt. Wer nicht mithalten kann, hat Pech gehabt.
Ich halte das aber für eine komplette Fehlinterpretation. Das Individuum ist nicht das Wichtigste. Es stimmt: Wir können selbstsüchtig sein, aber wir sind auch in hohem Maße empathisch und unterstützen uns gegenseitig. Erst diese Eigenschaften haben aus uns gemacht, was wir sind, und sie sollten deshalb auch in Zukunft einen wichtigen Grundstein unserer Gesellschaft bilden.
Das Zeitalter der Empathievon Frans de Waalerscheint am 7. Februar 2011 im Hanser Verlag. 368 S., 24,90
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