Förderband ins Aus

Brexit Großbritannien hat für den Austritt aus der EU votiert, Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt. Wie geht es nun weiter?
Zukunft ungewiss: Angestellte der City of London
Zukunft ungewiss: Angestellte der City of London

Foto: Daniel Sorabji/ AFP

Die historische Entscheidung der Briten, sich nach 43 Jahren Hassliebe von der EU zu trennen, stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Nation dar, der auf einer Stufe mit den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert steht. Wenn wir davon ausgehen, dass es kein Zurück gibt und sich keine kollektive Kaufreue einstellen wird, dann wird Großbritannien ein Jahrzehnt oder auch länger mit politischen, rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen leben müssen.

Die Reißzwecke, der Großbritanniens Platz auf der Weltkarte markiert, hat sich verschoben, Gleiches gilt für die Machtzentren innerhalb des britischen Staatswesens. Die vertrauten Autoritäten – Downing Street, die Großindustrie, die Wirtschaftsexperten, das diplomatische Establishment – bekamen es mit der Wucht einer populären Streubombe zu tun.

Wie also geht es jetzt weiter? Das Ausmaß der Zerstörung, das dieser Unabhängigkeitstag mit sich bringt, lässt eine der letzten noch stehenden Bastionen des Establishments – den Civil Service, dem Kabinettsminister Sir Jeremy Heywood vorsteht – ins Zentrum rücken. Es wird seine Aufgabe sein, in Zusammenarbeit mit dem Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, und David Cameron zumindest den Anschein zu erwecken, das anstehende Chaos ließe sich gestalten.

Der Fahrplan des Kabinetts

Cameron betonte in seiner Rücktrittserklärung, dass er den Auftrag des britischen Volkes akzeptiert. Angesichts des Ausmaßes der Zurückweisung lehnte er es ab, dem mehr oder weniger aufrichtigen Flehen einiger Hinterbänkler nachzukommen und wie geplant zu versuchen, bis 2019 im Amt zu bleiben. Stattdessen kündigte er an, dass er bis zur Wahl der neuen konservativen Parteispitze im Herbst die Stellung halten wird. In dem er eingewilligt hat, bis dahin weiter zu amtieren, gibt er seiner Partei immerhin Zeit, dem ganz offen gesagt sehr lückenhaften Brexit-Plan der Leave Kampagne etwas Substanz zu geben.

Der Fahrplan des Kabinetts ist eindeutig vorgegeben: Der Premierminister kann nicht gehen, bevor er nicht die Queen über seinen Nachfolger informieren kann. Labour-Chef Jeremy Corbyn wird ein Vertrauensvotum anstreben, aber damit nicht durchkommen.

In jedem Fall stehen Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne vor einem Dilemma. Die Mehrheit der Parlamentarier und Peers sind pro-europäisch. Ihnen wurde aufgezeigt, dass sie nicht im Einklang mit der öffentlichen Meinung sind. Die Skeptiker machen nicht mehr als 200 der 650 Abgeordneten aus, aber es hat sich herausgestellt, dass diese Minderheit für das Volk spricht. Und so ist das Herzstück des politischen Systems tief gespalten.

Artikel 50 des Vertrags von Lissabon

Cameron hat zugesichert, dass er Artikel 50 des Vertrags von Lissabon in Kraft setzen wird, der den zweijährigen Prozess einläutet, mit dem ein Mitgliedsstaat die EU davon in Kenntnis setzten kann, dass er austreten will.

Verfassungsrechtlich obliegt es ihm allein, und nicht dem Parlament, Artikel 50 anzuwenden, da es sich dabei in Großbritannien um ein königliches Vorrecht handelt. Gleichzeitig kann das Parlament nicht davon abgehalten werden, einen Antrag zu stellen, der darauf zielt, den Premierminister anzuweisen, Artikel 50 nicht in Kraft zu setzen.

Wieder zollpflichtig

Cameron hatte sicherlich auch deshalb im Vorfeld erklärt, er werde den Artikel in Kraft setzen, um in aller Drastik deutlich zu machen, dass ein Brexit unumkehrbar ist. Artikel 50 setzt zweijährige Verhandlungen mit der EU in Gang, an deren Ende der Austritt Großbritanniens stehen muss – es sei denn, die Union entscheidet einstimmig, dass die Verhandlungen auf einen längeren Zeitraum ausgedehnt werden.

Sobald eine Vereinbarung getroffen wurde – die sowohl von Großbritannien als auch von einer „qualifizierten Mehrheit“ der übrigen 27 Mitgliedsstaaten gestützt werden muss (genauer gesagt, 20, die mindestens 65 Prozent der Einwohner repräsentieren) – verlässt Großbritannien offiziell die Union.

Wenn nach Ablauf der zwei Jahre weder eine Vereinbarung getroffen wird noch einer Verlängerung zugestimmt wurde, dann gelten für Großbritannien automatisch wieder die Regeln der Welthandelsorganisation, was bedeutet, dass auf alle Güter, die in die EU verkauft werden, Zölle anfallen. Wenn Großbritannien Artikel 50 in Kraft setzt, bedeutet das also, dass die Briten mutwillig auf ein Förderband aufgesprungen sind, an dessen Ende die EU mit allen Trümpfen in der Hand steht. Bei aller Verzweiflung ist es unwahrscheinlich, dass Cameron schneller als nötig auf dieses Förderband steigen will.

Der Premierminister wird größtenteils mit der Duldung des Brexit-Flügels seiner Partei arbeiten müssen. Dieser Flügel ist zerstritten bis zur Handlungsunfähigkeit und wird Zeit brauchen, um den unerwarteten Sieg auskosten zu können. Einige Brexit-Befürworter haben seit Monaten leise darauf hingewiesen, dass das Referendum nur beratenden Charakter hat und die Wähler nur danach befragt, ob Großbritannien aus der EU austreten soll. Es sage jedoch nichts über die Form des Austritts aus. Das Referendum der Iren 2009 hingegen hatte klare juristische Fragen gestellt und eindeutige Handlungsanweisungen für die Politiker enthalten.

Vorbild Norwegen?

Die Brexit-Befürworter stehen also vor der Wahl, ob sie ihr Versprechen aufrecht halten wollen, dass der Rückzug aus dem EU-Binnenmarkt erfolgt, was das Ende der Freizügigkeit bedeuten würde. Oder ob sie stattdessen anstreben, was zuvor als Fegefeuer gescholten wurde – die halb drinnen, halb draußen Lösung, nach norwegischem Vorbild.

Der EU-skeptische EU-Parlamentarier Daniel Hannan hat dafür plädiert, den Brexit als einen Prozess zu sehen und nicht so sehr als einen Moment des Abschieds. Er ist der Ansicht, dass ein Arrangement wie jenes der Norweger für Großbritannien ein Ausgangspunkt sein könnte, bevor in einigen Jahren der endgültige Bruch folgt.

Sollten die Brexit-Befürworter zu gemächlich vorgehen, dann könnte die Wählerschaft ungeduldig werden. Die proeuropäische Mehrheit im Unterhaus könnte sich mobilisieren, die Aussicht auf Neuwahlen, die die politischen Mandate neu verteilen, würde zu einem Risiko. Hart gesottene Brexit-Befürwörter werden also ungeduldig sein.

In all diesen Kalkulationen ist das Parlament jedoch nicht der einzige Akteur. Die EU, die sich Zentrifugalkräften ausgesetzt sieht, wird entschlossen handeln wollen, was sie sonst selten tut. Eine Gruppe wird auch hier die EU drängen, dass sie von Großbritannien verlangt, Artikel 50 in Kraft zu setzen; eine zweite – in der vermutlich die Polen federführend sind – könnte sondieren, ob die Bedingungen der Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien wieder eröffnet werden können. Viele Diplomaten glauben insgeheim, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte Cameron im Bezug auf die Freizügigkeit mehr Zugeständnisse machen sollen.

Die herrschende Meinung in der EU ist, dass die Verhandlungen mit Großbritannien im Februar zu Ende gegangen sind und der Zug abgefahren ist. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte vor der Abstimmung: "Cameron bekam das Maximus dessen, was er bekommen konnte und wir gaben das Maximum dessen, was wir geben konnten. Es wird also keine Neuverhandlungen des Abkommens vom Februar geben und auch keine weiteren Vertragsverhandlungen.“

Die Priorität wird hingegen sein, zu verhindern, dass die EU psychologisch gesprochen von einem Banken-Run erfasst wird, da bereits der Ruf nach Referenden in den Niederlanden, Frankreich, Polen und Ungarn laut wird. Schließlich war dies das ausdrückliche Ziel einiger Austritts-Befürworter.

Aufruf zur "Befreiung Europas"

Justizminister Michael Gove etwa rief zur „Befreiung Europas“ auf. Wenn diese Forderungen lauter werden, dann wird das gesamte europäische Projekt von der Lähmung in die Auflösung driften.

Die Scheidungsvereinbarung wird sich hingegen auf profane Etatfragen konzentrieren – Pensionsverpflichtungen, Vermögenswerte und andere Kapitalanlagen. Sie wird sich auch auf die Rechte von EU-Bürgern erstrecken, die in Großbritannien leben und umgekehrt.

Eine Schlüssel der Übergangslösung wird darin bestehen, ob Finanzunternehmen mit Sitz in Großbritannien ihren europäischen „Pass“ verlieren, der es den in einem Mitgliedsstaat registrierten Unternehmen ermöglicht, ohne weitere Genehmigung innerhalb der Union Geschäfte zu machen.

Davon losgelöst wird ausgehandelt werden müssen, ob Großbritannien später den existierenden europäischen Freihandelsabkommen als Nicht-EU-Mitglied beitritt oder außerhalb dieser einen eigenen Freihandelsvertrag abschließt.

Zudem stehen Gespräche mit der irischen Regierung, den Commonwealthstaaten, der Nato und einer endlosen Reihe anderer Organe an. Der Erfolg dieser komplexen Verhandlungen wird davon abhängen, wie es um die Chemie zwischen Großbritannien und Europa Post-Brexit bestellt sein wird, und ob sich im Brexit-Lager die Pragmatiker durchsetzen oder diejenigen, die den Sieg voll auskosten. Letzteres wird auch davon abhängen, ob Cameron die Beziehung mit seinen beiden alten Freunden reparieren kann, die ihn außer Gefecht gesetzt haben – Michael Gove und Boris Johnson. Die vergangenen beiden Monate haben uns gelehrt, dass sie ohne Kompass unterwegs sind.

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Geschrieben von

Patrick Wintour | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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