Der gepflegte Rasen, die Bibliotheken und die reservierten Tische für das Lehrpersonal im Speisesaal der Universität Cambridge – Stephen Pax Leonard hat all das für drei Monate gegen Dunkelheit, Temperaturen von bis zu 40 Grad Minus und die Jagd auf Robben mit dem Speer eingetauscht. Der Wissenschaftler ist auf einer Mission: Er möchte die letzte Chance ergreifen, um die Sprache und die Traditionen einer Kultur zu dokumentieren.
„Ich bin extrem aufgeregt, aber auch etwas ängstlich“, erklärt Leonard, als er die letzten Vorbereitungen für die Exkursion trifft, die man getrost als Reise seines Lebens bezeichnen kann. Leonard, ein anthropologischer Linguist, wird ein Jahr mit einer Gruppe von Inuit im Nordwesten von Grönland verbri
and verbringen, einer winzigen Gemeinschaft, die sich Inughuit nennen und wie ihre Vorfahren als Jäger und Sammler lebt. Ihre Sprache – die Inuktun heißt – wurde niemals verschriftlicht, alle Geschichten und Traditionen der Inughuit überliefern sie ausschließlich mündlich an die nächste Generation.„Der Klimawandel bedeutet, dass ihnen vielleicht noch 10 bis 15 Jahre bleiben“, erläutert Leonard. „Dann werden sie nach Süden wandern müssen und aller Wahrscheinlichkeit nach in moderne Wohnungen ziehen.“ Und wenn das passiert, befürchtet Leonard, dann werden vermutlich eine gesamte Sprache und Kultur ausgelöscht.Die einzigen ErdbewohnerZwar gibt es keine Inughuit-Literatur, doch Leonard zufolge existiert ein starkes und „charakteristisches, immaterielles kulturelles Erbe“. „Wenn ihre Sprache ausstirbt, dann werden die Identität der Inughuit und ihr Erbe ebenfalls aussterben. Ziel dieses Projektes ist, die Sprache aufzuzeichnen und zu beschreiben und sie den Inughuit in einer Form zurückzugeben, die von den zukünftigen Generationen benutzt und verstanden werden kann.“Die Inughuit glaubten, sie seien die einzigen Erdbewohner, bis 1818 eine Expedition des schottischen Forschers John Ross auf sie traf. Anders als andere Inuit-Gemeinschaften wurden sie von der Ankunft des Christentums in Grönland kaum beeinflusst. Sie behielten Elemente einer viel älteren, schamanischen Kultur bei; ihr Leben unterscheidet sich kaum von dem ihrer Vorfahren. Die Männer sind oft wochenlang unterwegs um Robben, Nar- und andere Wale, Walrosse und andere Säugetiere zu jagen. Sie besitzen zwar Zelte, doch wenn die Wetterbedingungen besonders harsch werden, dann bauen sie immer noch Iglus. Ihre Sprache gilt als eine Art linguistisches Fossil und als eine der ältesten und reinsten Inuit-Sprachen, die überhaupt existieren.Leonards Reise führt über Kopenhagen – „der einzige Ort, an dem man ein Grönländisch-Dänisches Wörterbuch bekommt – nach Grönland, wo er mit zwei Inlandsflügen die Inughuit-Siedlung in Qaanaaq an der Nordwest-Küste Grönlands, nördlich der Baffin-Bucht, erreichen wird. Dort möchte Leonard etwa sechs bis sieben Monate lang an seinen Sprachfertigkeiten feilen und Kontakte aufbauen, bevor er zum traditionellsten Inughuit-Stützpunkt Siorapaluk reist, der nördlichsten bewohnten Siedlung der Welt, in der rund 70 Inughuit leben. Hier hofft Leonard darauf, die Geschichten zu hören, die das Kernstück dieser Kultur sind.Leonards Interesse an den Inughuit wurde vor zehn Jahren durch Marie Herberts Buch The Snow People geweckt, in dem sie über ihr Leben mit den Inughuit berichtet. Wie unmittelbar die Bedrohung für ihre Lebensweise und ihre Kultur ist, erfuhr er jedoch erst vor kurzem. „Mir war nicht bewusst gewesen, wie gefährdet diese Gemeinschaft ist und dass diese gesamte Kultur einfach sterben könnte, verschwinden könnte. Normalerweise sterben Sprachen aus, weil die Elterngeneration entscheidet, dass sie nicht möchte, dass ihre Kinder sie weiter sprechen.“Der 36-Jährige wird sich auf viele Dinge einstellen müssen, nicht zuletzt auf extremen Temperaturen. Die Durchschnittstemperatur beträgt zwar minus 25 Grad, doch sie kann auf bis zu minus 40 Grad abfallen oder im Sommer auf um die null Grad steigen. Dann wäre da noch die Polarnacht – am 24. Oktober wird die Sonne untergehen und erst am 8. März wieder aufgehen. Nichtsdestotrotz räumt Leonard ein: „Ich habe keine Ahnung, wie ich damit klarkommen werde, um ehrlich zu sein.“ Zu eben dieser Zeit des Jahres erzählen die Älteren aber ihre Geschichten und Dichtungen und geben sie an die Folgegeneration weiter.Töne statt GrammatikLeonard hat vor, die Inughuit aufzunehmen und eine Art „Ethnographie des Sprechens“ zu produzieren, um zu zeigen, dass ihre Sprache und ihre Kultur miteinander in Zusammenhang stehen, anstatt eine Grammatik oder ein Wörterbuch zu schreiben. Die Aufnahmen werden digitalisiert und archiviert und dann den Inughuit in ihrer eigenen Sprache zurückgegeben.„Diese Gemeinschaften, die womöglich nur wenige Jahre auseinanderbrechen werden, wollen, dass die Welt von ihrer kulturellen Notlage erfährt“, meint Leonard. Die Klimakatastrophe, die der Arktis bevorsteht, wird genau dokumentiert. Dass die Inughuit schon bald dazu gezwungen werden, Richtung Süden zu wandern, erscheint inzwischen als unvermeidlich. Leonards Mission wird dadurch umso dringlicher. Der Klimawandel hat bereits dazu geführt, dass die Robben-Bestände abnehmen, und das Eis wird bald so dünn sein, dass es nicht mehr mit Hundeschlitten zu befahren ist. Die Inughuit werden zwar regelmäßig aufgesucht, trotzdem hofft Leonard, dass sein Besuch relevanter sei wird als andere.„Mir wurde gesagt, dass sie genug davon haben, dass Journalisten auftauchen und darüber berichten, wie furchtbar es ist, dass die Eisberge schmelzen, und das war es dann; deshalb finden sie es gut, dass jemand bei ihnen leben und darüber berichten will.“Mark Brown ist Kulturkorrespondent und seit 1996 Mitarbeiter des Guardian.Übersetzung: Christine Käppeler
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