Porträt Amanda Palmer zeigt, wie die Musikbranche der Zukunft aussehen kann. Sie hat bei den Fans über eine Million Dollar für ihr Album eingesammelt. Wie hat sie das geschafft?
Anfang Mai in einer Bar im Hauptbahnhof von Philadelphia. Amanda Palmer erzählt laut, sie sei eine Frau, die auf einer Party auch mal ihren Tampon herausziehe und quer durch den Raum werfe, wenn ihr danach sei. Auf der Bühne habe sie das bisher nicht getan, aber vielleicht komme das noch. Der Mann einen Tisch weiter googelt fasziniert auf seinem Smartphone und fragt dann: „Sind Sie Amanda Palmer?“ „Ja!“ „Sie macht Musik und schreibt Gedichte“, erklärt er seinem Begleiter. Palmer zuckt zusammen. „Ich schreibe keine Gedichte.“
Turbulente Wochen liegen hinter ihr. Zwar steht sie schon seit 2000 auf der Bühne, erst mit dem Punk-Varieté-Duo The Dresden Dolls, später als Hälfte des imaginären siamesischen Zwil
schen Zwillingspaars Evelyn Evelyn. Zur Berühmtheit geworden aber ist sie erst mit ihrer neuen Band: Amanda Palmer and the Grand Theft Orchestra. Und mit der Art, ihre Musik zu finanzieren. Kürzlich erntete sie bei der TED-Konferenz in Long Beach, Kalifornien, begeisterten Applaus, als sie erzählte, wie sie die höchste jemals für ein Musikprojekt aufgebrachte Crowdfunding-Summe zusammenbekam. 1,2 Millionen sammelte sie ein, um ihr Album Theater is Evil aufzunehmen und zu vertreiben.Als sich dann nach dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon der mutmaßliche Attentäter Dzhokhar Tsarnaev in einem Boot versteckte, veröffentlichte Palmer in ihrem Blog ein Gedicht über ihn: „Du weißt nicht, wie es sich anfühlte, im Mutterleib zu sein, doch es muss zumindest ein bisschen wärmer gewesen sein als hier … Du weißt nicht, wie du aufhören kannst, an deinen Fingern zu zupfen … Du weißt nicht, wie kostbar die Laufzeit deines iPhone-Akkus ist, bis du dich ganz unten in dem Boot versteckst. Du weißt nicht, wie du von deinen Scheißeltern wegkommen kannst ...“Die Marke PalmerDer US-Medienblog Gawker wählte den Text umgehend zum „schlechtesten Gedicht aller Zeiten“. Der konservative Fernsehsender Fox News und die liberale Tageszeitung Boston Globe stimmten ein. Bei Fox hieß es, Palmer sei eine „hoffnungslose Versagerin, vielleicht heiratet sie den Typen gar“. Und der Boston Globe schrieb, das Gedicht sei „weniger ein Versuch, mit den Folgen einer Tragödie zurechtzukommen, als ein Versuch, die Marke Amanda Palmer im Zentrum der Debatte zu platzieren“. Palmer schleuderte in einem weiteren Blogeintrag ihren Kritikern entgegen: „Trauen Sie sich nicht, öffentlich zu sagen, dass Sie Mitgefühl haben? Das jagt mir Angst ein.“Im Zug von New York nach Philadelphia, noch vor dem Gespräch in der Bahnhofsbar, erzählt Palmer von ihrer Kindheit. 1976 geboren, wuchs sie in einer Kleinstadt bei Boston auf. Ihre Mutter war Programmiererin, ihr Stiefvater Physiker. „Ich war ein seltsames, verstörtes Kind. Meine Familie war für mich schwierig. Es war ein Haus ohne Metaphern. Ich hatte sehr wortgetreue Eltern. Und ich wollte mit Metaphern und Kunst überleben.“Nach der High School schrieb sie sich an einer liberalen Kunsthochschule in Connecticut ein. Zwei Jahre nach ihrem Abschluss gründete sie die Dresden Dolls. 2007 traten diese als Vorband von Nine Inch Nails auf. Und sie hatten Underground-Hits wie Coin-Operated Boy und Girl Anachronism. Alles war gut, sagt Palmer. Die Leute schenkten ihr Aufmerksamkeit. „Würdest du mich in einen Raum mit Kunstmaterialien stecken, aber mir sagen, das Ergebnis kriege keiner zu sehen, dann hätte ich, glaube ich, wenig Lust, Kunst zu machen. Bei mir liegt allem ein tiefes Verlangen zugrunde, gesehen zu werden und andere zu sehen.“2010 trennte sie sich von ihrem Plattenlabel Roadrunner Records. „Ich stellte mir die Leute da in ihren Bürozellen vor“, sagt sie, „als ängstliche Gefangene einer Industrie, die gerade ganz groß scheiterte. Es wurde schließlich unmöglich, mit Musik Geld zu verdienen. Denn niemand, der bei Verstand war, würde je wieder 18,99 Dollar für 12 Songs ausgeben.“ Also wandte sie sich der Internetplattform kickstarter.com zu. Diese gibt Künstlern die Möglichkeit, Geld direkt bei ihren Fans zu sammeln. Je nach Höhe des Betrags bekamen Palmers Fans ein Album, ein Kunstwerk oder sogar – für 5.000 Dollar – ein Privatkonzert zu Hause.Das war auch das Thema ihres TED-Vortrags. Palmer erzählt darin von ihren Anfängen als lebende Statue auf dem Harvard Square in Boston. Warf jemand ihr Geld in den Hut, gab sie ihm eine Blume: „Dann hatten wir einen Moment Blickkontakt. Meine Augen sagten: ‚Danke, ich sehe dich.‘ Und seine Augen sagten: ‚Mich sieht sonst nie jemand, danke.‘“Dann schildert sie, wie sie in ihrem späteren Leben als Musikerin selbst „der Hut wurde“ und den kostenlosen Download ihrer Musik propagierte. Im Gegenzug bittet sie auch ohne Scham um Hilfe. Sie hat eine Kunst daraus gemacht. Sie vertraut ihren Fans, ist bereit, bei ihnen auf dem Sofa zu übernachten, sich den nackten Körper von ihnen mit Filzstiften bemalen zu lassen. „Mein ursprüngliches Ziel bei Kickstarter waren 100.000 Dollar. Meine Fans gaben mir fast 1,2 Millionen“, sagte sie beim TED-Talk. An dieser Stelle applaudierte das Publikum, darunter Microsoft-Gründer Bill Gates und Google-Entwickler Larry Page. Ein bizarrer Moment, als hätten die Milliardäre Palmers Worte über das Vertrauen in ihre Fans nicht beachtet, sondern nur, dass sie es geschafft hatte, ihnen 1,2 Millionen zu entlocken.Die Kickstarter-Kampagne machte Palmer zur ungekrönten Königin des Crowdfunding. Und sie ist eine Blaupause für eine völlig neue Musikindustrie, in der Künstler nicht mehr auf das Wohlwollen von Label-Bossen und die Marketing-Maschinen großer Plattenfirmen angewiesen sind. Doch gleich anschließend schien Palmer alles wieder kaputt zu machen. Kurz nach der Aktion bloggte sie, sie suche Musiker für ihre Tournee – auf ehrenamtlicher Basis.Der Blogeintrag kam sehr schlecht an. „Mit Umarmungen als Dank kann man keine Miete zahlen“, schrieb die Musikergewerkschaft Seattle. Punk-Produzent Steve Albini nannte Palmer eine Idiotin: „Es sollte klar sein, wenn du gerade mehr als eine Million Dollar eingesammelt hast, ist es unanständig, dein Publikum zu fragen, ob es für umsonst in deiner Band spielen will. Eine Million Dollar sind scheißviel Geld.“Palmer reagiert aufgebracht, wenn man sie darauf anspricht: „Das hat mich verletzt. Niemals in meiner Karriere war ich auf Streit aus. Ich habe mir nie die Hände gerieben und gedacht: ‚Das wird die Leute jetzt echt ankotzen.‘ Genau das Gegenteil möchte ich erreichen.“ Man denke an ihre einsame Kindheit, sagt sie, als einzige Künstlerin in einer Naturwissenschaftlerfamilie. „Künstlerin wollte ich vor allem werden, um Freunde zu finden, Menschen, die mich verstehen. Wenn so was passiert, fühle ich mich zutiefst falsch verstanden.“Bono riet ihr zur VorsichtAber wie kam es dazu, dass sie Musiker aufforderte, umsonst zu spielen, wenn sie gerade so viel Geld hatte? „In meiner Community war das immer so. Da machen die Leute alles Mögliche freiwillig. Ich auch. Es gibt jede Menge Austausch ohne Geld.“ Was ist mit den 1,2 Millionen Dollar? „Das Geld habe ich für Verpackung und Porto des Albums ausgegeben, nach sechs Wochen war es weg.“ Wirklich? „Die Ironie ist, dass alle denken, ich sei jetzt reich. Aber es stimmt nicht, dass ich nur 100.000 Dollar brauchte, und alles darüber hinaus war Profit. Es waren ja Vorbestellungen. Und die Kosten stiegen mit der Stückzahl.“ Sie macht eine Pause. „Die Gewinnspanne stieg auch ein bisschen, aber nicht groß.“Ihre Fans hätten kein Problem mit ihrem Blogeintrag gehabt, sagt sie: „In meiner Community ist fast nichts ein Problem.“ Nicht einmal ihr Gedicht für den Boston-Attentäter. „Alles, was mich emotional bewegt, wird Teil der Gedanken-Melange und der Kunst, die ich schaffe.“ Genau das, sagt Palmer, sei aber auch das Problem. Früher konnten Punk-Varieté-Künstler wie sie ein ungestörtes Nischendasein führen, heute nicht mehr. Es sei ein Internetproblem. „Überall gibt es jetzt Nischen, und alle können doch gleichzeitig einander anglotzen.“ Das habe auch Bono ihr in einer E-Mail geschrieben: „Er meinte, da nun alles so exponiert ist, müssten wir vorsichtiger sein.“ Aber ist es nicht traurig, dass Bono ihr Unterwürfigkeit empfiehlt? „Ich sage ja nicht, dass ich auf ihn gehört habe.“Das hat sie gewiss nicht. Palmers Kritiker ärgert besonders, dass alles, was sie sagen, an ihr abprallt. „Ich schaue mir die Neider und Trolle neugierig an und frage mich, wer sie sind und was ihnen Angst macht.“Nach dem Gespräch in der Bahnhofsbar nimmt sie ein Taxi, um zu ihrem Konzert zu gelangen – ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Der Wagen hält in den Suburbs vor einem kleinen Haus. Da drin seien 25 Amanda-Palmer-Fans, sagt Palmer. Sie kannten einander bisher nur online. Sie haben während der Kickstarter-Kampagne zusammen 5.000 Dollar gespendet, damit Palmer ihnen ein Konzert gibt. 35 dieser Konzerte absolviert sie quer durch die USA. „Und jedes davon ist das Gemeinschaftswerk von Leuten, die sich auf Twitter oder Facebook zusammengefunden haben. Einer legt die fünf Riesen aus und vertraut einer Gruppe von völlig Fremden. Das hat immer wunderbar geklappt.“Erst Pizza und Bier, dann ein KonzertNach all den Kontroversen um sie und der ganzen Kritik seien ihre Leute zusammengerückt. Zunehmend sähen sie die Welt als „wir und die“. Sie klingelt an der Tür des kleinen Hauses. Die nächsten fünf Stunden lang plaudert Palmer mit ihren 25 Fans und lässt sich mit jedem fotografieren. Sie machen zusammen Pizza. Sie isst mit ihnen, trinkt mit ihnen Bier und lässt sich aus ihrem Leben erzählen. Teenager sind da, Rentner. Manche hoffen auf eine Musikkarriere, andere arbeiten als Pflegekräfte. Dann gibt Palmer ein Konzert an Ukulele und Keyboard. Sie spielt jeden Song, der gewünscht wird. Kurz vor Mitternacht taucht noch ihr Mann auf, der Fantasy-Autor Neil Gaiman. Er gibt Autogramme. Gegen halb eins fahren die beiden wieder zurück in die Innenstadt ins Hotel.Auf der Party war Palmer alles andere als polarisierend und konfrontativ, wie sie oft in den Medien wirkt. Sie war fröhlich, umgänglich, machte ihre Fans glücklich. Und das Konzert war gut. Diese neue Version des Musikgeschäfts wirkt ungleich sympathischer als die alte, in der Plattenbosse aus Fans noch den letzten Cent herauspressen wollten. Aber meint Palmer, dass ihr Weg auch für introvertiertere Künstler funktionieren kann, die nicht so gut im Selbstvermarkten sind? „Ich gehe gerne zu Fremden nach Hause“, gibt sie zu. „Mich macht das glücklich. Aber für Leute wie PJ Harvey wäre das nichts. Für die Introvertierten wird es schwer. Aber vielleicht können sie selbst gebastelte Geschenke mit Blut signieren und verschicken. Sie müssen sich halt etwas einfallen lassen.“Inmitten der Kickstarter-Kontroverse sei im New Yorker auch ein Artikel über sie erschienen, der sie zerfetzen sollte, erzählt Palmer noch. „Mit der niederträchtigsten, grausamsten Beleidigung, die man mir antun kann. Nämlich mir zu sagen, Bertolt Brecht wäre nicht stolz auf mich.“ Sie macht eine Pause. „Doch dann dachte ich daran, wie sehr Brecht selbst gehasst wurde, und plötzlich wurde meine Laune wieder besser.“ Sie lächelt, als sie sagt: „Da sah ich endlich den höheren Sinn: Ich bin nur auf dieser Welt, um mich mit den Menschen zu vernetzen, die zu mir passen.“Jon Ronson arbeitet für den Guardian als Reporter in den USA.
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