Was ist das bloß mit dem Wasser? Auf Englisch erscheint gerade, Pardon, eine Welle neuer Bücher, in denen es ums Schwimmen geht – in Seen, im Meer, in Freibädern. Stets geschrieben von einer Frau, die zur Schwimmerin wurde. Und immer geht es um Rettung und Läuterung. Und um Snacks. Schwimmerinnen haben immer Snacks dabei. Um es mit dem Untertitel von Jenny Landreths Buch Swell: A Waterbiography zu halten, handelt es sich bei allen drei Büchern um Wasserbiografien. Die Britin Landreth führt durch die Geschichte der Schwimmsuffragetten, wie sie sie nennt. Frauen, die es uns allen ermöglicht haben, heutzutage wie und wo wir wollen zu schwimmen. Jessica J. Lee wiederum, eine kanadisch-britisch-chinesische Akademikerin, die es nach Berlin verschlagen hat, beschließt, in einem Jahr in 52 Seen zu schwimmen, um nach einer Depression wieder zu Kräften zu kommen.
Und Victoria Whitworth, eine Historikerin, die sich hauptsächlich mit dem Mittelalter befasst, schwimmt fast immer am gleichen Ort: vor den Sands of Evie, einem Strand auf den schottischen Orkneyinseln, der abseits genug liegt, dass die Robben kurz zur Schwimmerin herüberschauen, bevor sie sich gleichgültig entfernen.
Gleichgültigkeit: Das ist die Verlockung des Wassers. Das Wort Freiheit taucht in allen drei Büchern immer wieder auf und immer geht es um eine Art von Rettung. Lees Entschluss, eine Depression durch das Durchschwimmen von 52 Seen hinter sich zu lassen, klingt zunächst wie die etwas platte Verkaufsidee für ein Buch. Doch ich wurde bald hineingezogen in ihre Erzählungen von den Seen und deren Umkippen, vom Austausch der Wasserschichten durch die Jahreszeiten. Im Altenglischen bezeichnet das Wort „Lake“ eine „Gabe, Opfer oder auch Geschenk“. Seen, die „sich offenhalten für die Welt. Als weite Platten unter dem Himmel heißen sie den Schwimmer ganz und gar willkommen.“
Das Eis aufhämmern
Stille Gewässer – und doch hat Jessica J. Lee das bewegendste der drei Bücher geschrieben. Sie springt von Berlin nach London, von London nach Kanada, begegnet Menschen, die auf- und wieder abtauchen. Dennoch wirkt ihr – auch auf Deutsch im Berlin-Verlag erschienenes – Buch auf seltsame Weise menschenleer. Abgesehen von ihrer liebsten Schwimmpartnerin Anne haben die Charaktere wenig Tiefe. Menschen begegnen ihr als anonyme Personen in Wäldern, manchmal ist das beunruhigend, manchmal nicht. Sprechen tun sie kaum, höchstens fragen sie die junge Frau im Badeanzug, die die dicke Eisschicht auf der Seeoberfläche mit einem Hammer aufschlägt: „Gehen Sie baden?“ – Ja, das hat sie getan. Manchmal ist sie dann nicht weit geschwommen, aber immer genug, um „Endolphine“ zu spüren, den Rausch, den das eiskalte Wasser auslöst, das Adrenalin und die Endorphine, die darauf folgen. Konsumenten von Opiaten haben ihr berichtet, das Schwimmen im kalten Wasser habe die gleiche Wirkung wie Heroin. Das Eis sorgt für „Schmerz, der in meine Knochen strahlt“ und trotzdem: Sie schwimmt.
Auch in Victoria Whitworths Buch Swimming with Seals stehen die Menschen am Rand. Sie schwimmt zunächst beim Kaltwasser-Schwimmclub Polar Bears in Orkney. Zu ihrer Erneuerung kommt es aber erst, als sie immer und immer wieder allein zum kalten Meer zurückkehrt, allein hineingeht, aber nicht allein bleibt. Ihre Gesellschaft sind die Robben und Seevögel, aber auch die Wellen und die Menschen der Vergangenheit. Sie schreibt wunderschön über Selkies – Wesen der schottischen Mythologie, die als Robben im Meer leben und sich an Land in Menschen verwandeln. Und wir begegnen der Kleinen Meerjungfrau von Hans Christian Andersen; das ist keine süße Romanze, sondern die Geschichte einer jungen Frau, der die Stimme herausgeschnitten wird. Als ob es nicht schon genug wäre, dass sie ihren Fischschwanz verliert und auf Füßen gehen muss, wobei sich jeder Schritt anfühlt, als liefe sie auf Messerklingen. Eine Allegorie für das, was Frauen angetan wurde in der Geschichte.
Jenny Landreth zeichnet in ihrem Buch nach, mit welcher Blasiertheit die Männer versucht haben, den Frauen die Freuden des Wassers zu verwehren. Zuerst durften sie sich ihm nicht nähern, dann wurden sie in bizarre Badekarren und behindernde Anzüge gesperrt. Eine von Landreths Heldinnen, die Journalistin Elizabeth Eiolart, mahnte ihre Geschlechtsgenossinnen zwar, nicht wie ein„schwimmender Sarg“ ins Wasser zu gehen, anderseits hatten diese aber angesichts der sechs bis sieben Meter schweren Stoffs, aus denen die Badekostüme samt Volants und Pumphosen bestanden, kaum die Wahl.
Zu Landreths fesselnden Heldinnen zählen nicht nur die heroischen Frauen, die Medaillen gewannen oder den Kanal durchschwammen, sondern auch jene, die die Verbote Stück für Stück zum Verschwinden brachten. Wie die namenlose „arme Frau aus Coal Court, Drury Lane“, die es in der Hitze des Sommers 1881 wagte, in einem Londoner See schwimmen zu gehen und „unverzüglich von aufgebrachten Polizisten festgenommen und vor einen Magistraten gezerrt wurde, während zweihundert Männer fröhlich schwimmen durften.“
Dreißig Jahre später veranstalteten Suffragetten ein Swim-in im gleichen See, bei dem sie auf die Boote in der Mitte des Sees losgingen. Landreth zeigt, wie Schwimmen und das Frauenwahlrecht zusammenfallen: Wer für den Geist kämpft, kann gleich auch den Körper mitbefreien.
Nicht alle Schwimmerinnen haben sich politisch begriffen. Die junge Agnes Beckwith von der Familienschwimmtruppe Beckwith Frogs dachte wahrscheinlich kaum, dass sie mehr tat, als sich durch Abwasser zu kämpfen, als sie die fünf Meilen von der London Bridge nach Greenwich schwamm. Sie trug „ein enges, spitzenbesetztes Badekostüm aus rosa Lamawolle, ihr langes, flachsfarbenes Haar wurde ordentlich von einem Band zusammengehalten“. Als sie Greenwich erreichte, spielte eine Band das Lied See the Conquering Hero Comes. Es reichte, um viele weitere junge und alte Frauen zu ermutigen, in Flüssen zu schwimmen, Buchten zu durchqueren, in kalten Badeanstalten zu schwimmen und Olympionikinnen zu werden – auch wenn der Gründer des Internationalen Olympischen Komitees, Baron de Coubertin, der Ansicht war, Sport widerspräche der Natur der Frau.
Das Meer heilt
Trotz der Demonstrationen großen Mutes ist der Triumph eines jeden dieser Bücher ein leiser. Jede der Frauen, die vor schwarzem Wasser, einer rauen See oder Selbstzweifeln standen, hat sich gedacht: „Ich schaffe das.“ Und es geschafft. Sie haben in sich eine Kraft gefunden, die der des Wassers gleicht, die Felsen durchfurcht oder unter einer Tür hindurchdringt. Und auch wenn sich diese Frauen nicht als Heldinnen sahen, schwammen sie unter Umständen, die die meisten Menschen in ihrem Haus bleiben lassen: an grauen Tagen, bei Stürmen, in Wogen oder in der Gegenwart von Orkas (ein netter Name für den Killerwal). „Orkas haben noch nie Menschen angegriffen“, beteuern die Mitglieder von Whitworths Polar-Bears-Meeresschwimmclub einander wie Kinder, die sich gegenseitig zuflüstern, dass sie nicht an Geister glauben.
Eine schmerzhafte Fußerkrankung brachte Whitworth zum Schwimmen, aber auch eine schwierige Ehe. Aber mit jedem Schwimmgang in immer kälterem Wasser wird es besser. Nach ein paar Wochen steht sie aufrechter, ihr Körper entkrümmt sich. Man verschreibt ihr Antidepressiva, aber sie nimmt sie nicht. Das Meer tut ihr besser. Ihr wird klar: „Ich kenne niemanden, der angefangen hat, im Meer zu schwimmen und es dann wieder aufgegeben hat.“
Worin besteht sie also, die Anziehungskraft des Wassers? „Das Meer“, schreibt Whitworth, „lässt mich spüren, wie ich zusammengesetzt bin.“ Sagen wir es so: Wasser verleiht alten Knochen Auftrieb, Wasser ist es egal, wie man in ihm aussieht. Es streift einem mehr als nur die Kleider ab. Wasser verändert einen. Nach jedem dieser Bücher wollte ich in einen See springen oder ins kalte Meer gehen und so lange drin bleiben, bis ich es nicht mehr aushalte. Und dann wieder reingehen.
Info
Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin Jessica J. Lee Hans-Christian Oeser (Übers.), Berlin Verlag 2017, 336 S., 18 €
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