Daniel Kahneman lebt in einem hellen Penthouse im 14. Stock eines Wohnblocks in Downtown-Manhattan, unweit der U-Bahn-Station auf der achten Straße. Aber das muss Sie jetzt nicht weiter kümmern. Versuchen Sie stattdessen, und ohne lange zu überlegen, folgende Frage zu beantworten: Wie viel Prozent der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen befinden sich auf dem afrikanischen Kontinent?
Die genaue Ziffer ist gar nicht entscheidend. Wichtig ist, dass die Antwort meist niedriger ausfällt, wenn man zuvor erfährt, dass Kahneman 77 Jahre alt ist oder dass sein Apartment angeblich im 60. Stock und in der Nähe der U-Bahn-Station auf der 80. Straße liegt. Das Phänomen heißt Ankerheuristik und ist insofern typisch für Kahnemans Beiträge zur Psychologie, als dass es sagt: Der Mensch neigt nicht nur dazu, sich in seinem Urteil beeinflussen zu lassen. Er wird dabei auch von Faktoren geleitet, die subtiler und absurder sind, als man es sich je vorstellen würde.
Kahnemans neues Buch Thinking, Fast and Slow (auf Englisch, Random House 2011) beschreibt zahllose solcher kognitiver Verschrobenheiten – wobei es ein Fehler wäre zu glauben, das Buch könne Irrationalität kurieren. „Es ist kein Fall von: Lesen Sie dieses Buch und es wird die Art und Weise Ihres Denkens verändern“, sagt Kahneman. „Ich habe dieses Buch geschrieben, und ich denke immer noch wie vorher.“ Kahneman, den Kollege Steven Pinker den „wichtigsten lebenden Psychologen nennt“, wirkt voller Energie, aber insgeheim ist er ein Pessimist. Und er reagiert allergisch auf die Idee, sein Buch könne als Selbsthilfe-Ratgeber missverstanden werden. Es ist das erste Buch, das er für ein Massenpublikum geschrieben hat. „Ich hatte wirklich keine Lust, mich vor meinen Kollegen zu blamieren und ich machte mir Sorgen, der Öffentlichkeit könnte es nicht gefallen, wenn es sich wie ein Lehrbuch liest.“ Schließlich war er verzweifelt genug, um sein Manuskript anonym vier jungen Psychologen zukommen zu lassen. Er bot jedem 2.000 Dollar für eine ehrliche Antwort auf die Frage, ob er das Manuskript überhaupt zu Ende schreiben solle.
Kahneman verzichtet auf Tabellen und Formeln, er bedient sich kurzer Fragen, die auf elegante Weise veranschaulichen, wie Intuition den Menschen in die Irre führt. Etwa in der „Linda-Frage“: Linda ist 31, alleinstehend, sehr intelligent und an Fragen sozialer Gerechtigkeit interessiert. Welche der folgenden Aussagen trifft eher zu: a) Linda arbeitet in einer Bank, oder b) Linda arbeitet in einer Bank und ist in der Frauenbewegung aktiv? Die überwältigende Mehrheit entscheidet sich für Antwort b), obwohl das völlig unlogisch ist: Es kann nicht wahrscheinlicher sein, dass beide Angaben stimmen als dass nur eine von beiden stimmt: Es handelt sich um einen „konjunktiven Fehlschluss“. Das Urteil wird von plausiblen Details verdreht.
„Ziemlich gute Geräte“
Menschen sind eben bessere Geschichtenerzähler als Logiker. Falls das nun jemandem bekannt vorkommt, dann weil Kahneman und der 1996 verstorbene Amos Tversky, sein Kollege, viele populärwissenschaftliche Bücher über Psychologie inspiriert haben: Malcolm Gladwells Tipping Point, Freakonomics von Steven Levitt und Stephen J. Dubner, The Wisdom of Crowds von James Surowiecki, The Black Swan von Nassim Nicholas Taleb und Predictably Irrational von Dan Ariely, usw.
Anfangs behandelte die Wissenschaft Kahneman und Tversky dabei ziemlich herablassend: Kahneman erinnert sich an einen bekannten US-Philosophen, der ihm auf einer Party mit den Worten den Rücken kehrte: „Ich interessiere mich eigentlich nicht für die Psychologie der Dummheit“. Doch Kahnemans Einfluss auf die Sozialwissenschaften nahm zu – bis dem Psychologen 2002 als einem von wenigen Nichtökonomen der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen wurde. Denn „Psychologie der Dummheit“ beschreibt es sicher nicht: Kahneman meint keinesfalls, der Mensch sei dumm, sondern dass sein geistiger Apparat, der meist gut funktioniert, ihn auf vorhersagbare Weise in die Irre führt. „Wir sind ziemlich gute Geräte. Aber wenn der Mechanismus versagt, erzählen unsere Fehler viel darüber, wie der Verstand funktioniert“, sagt Kahneman.
In Thinking, Fast and Slow veranschaulicht er das als ein Drama zwischen zwei Figuren: System eins, dem System der intuitiven Reaktionen. Und System zwei, das für bewusstes Denken steht. Das Problem mit System eins ist, dass es System zwei ohne Unterlass helfen will, auch wenn es das besser ließe, weil es stets mit allem arbeitet, was es zu fassen kriegt – und das sind eben selten die sinnvollen Informationen. Die größte Herausforderung ergibt sich daraus für die Ökonomen, die lange Zeit überzeugt waren, dass der Mensch so handelt, wie es seinen Interessen entspricht. Kahneman bekam den Nobelpreis verliehen, weil er diese Sicht widerlegte.
Irrationaler Theaterbesuch
Denn der Mensch hasst den Verlust tatsächlich mehr, als dass er den Gewinn liebt. Vor die Wahl zwischen einem sicheren Gewinn von 500 Euro und einer 50-prozentigen Chance auf einen Gewinn von 1.000 Euro gestellt, entscheiden sich die meisten für die sichere Option. Wenn die Wahl aber darin besteht, entweder mit Sicherheit 500 Euro zu verlieren oder mit einer 50-prozentigen Chance 1.000 Euro, werden die meisten es auf das Glücksspiel ankommen lassen.
Und dann das viel zitierte Gedankenexperiment mit den Theaterkarten: Angenommen, eine Frau will eine Karte kaufen, die 40 Euro kostet. Auf dem Weg ins Theater stellt sie aber fest, dass sie zwei 20-Euro-Scheine auf der Straße verloren hat – wird sie die Karte dann immer noch kaufen? Die meisten glauben, dass ja. Was aber, wenn sie die Karte im Vorverkauf erworben hat, im Theater ankommt und dort feststellt, dass sie die Karte verloren hat? Jetzt gehen die meisten davon aus, die Frau kaufe sicher keine neuen Karten – obwohl der Verlust der gleiche ist. Ein Kollege brachte die Bedeutung von Kahnemans und Tverskys revolutionärer „Verhaltensökonomik“ so auf den Punkt: „Die Rationalität war am Arsch“. Kahneman sagt lieber, erst wer sich jahrelang mit Wirtschaftsfragen befasst habe, könne von seinen Erkenntnissen überrascht sein: Seine Mutter habe sich überhaupt nicht gewundert.
Der Psychologe wurde 1934 als Sohn litauischer Juden geboren und wuchs in Frankreich auf. Bis 1940 war die Welt für ihn in Ordnung. Dann kamen die Deutschen. Sein Vater konnte der Deportation in ein Konzentrationslager entkommen, starb aber 1944 an einem unbehandelten Diabetes, sechs Wochen vor dem D-Day. Kaum dass der Krieg vorüber war, brachte seine Mutter die Familie nach Palästina, das bald Israel werden sollte. 1955 wurde Kahneman zur Armee eingezogen, später arbeitete er als Militärpsychologe.
Würfeln statt denken
Eine seiner Aufgaben bestand in der Beurteilung neuer Rekruten, die er während der „leaderless group challenge“ beobachtete. Dabei mussten je acht gemeinsam eine acht Fuß hohe Mauer überwinden und dabei einen Holzklotz mitführen – ohne dass sie oder der Holzklotz die Mauer berührten. Die Aufgabe sollte offenbaren, wer das Zeug zu einem Anführer hatte. Als Mittel zur psychologischen Evaluation taugte das Verfahren in Wahrheit aber nicht viel: Es erwies sich in etwa als so zuverlässig wie schlichtes Raten, und Kahneman lernte nie, wie man einen künftigen Helden erkennt. Aber er erkannte, wie schwer es ist, das Vertrauen in die eigenen Vorhersagen zu zerstören. „Wir wussten, dass unsere Prognosen kaum mehr waren als Willkür“, schreibt er, „aber wir verhielten uns weiter so, als wäre jede Prognose wahr.“ Vertrauen ist ein Gefühl, kein logischer Schluss. Später begegnete Kahneman dem Phänomen unter Investitionsberatern, die selbst dann noch an ihre Fähigkeiten glaubten, als man bewiesen hatte, dass sie ihre Auswahl für die Kunden auch hätten erwürfeln können.
Die intellektuelle Beziehung, die seine Karriere prägen sollte, begann in den späten sechziger Jahren an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Dort traf er den jungen Tversky. Kahneman beschreibt ihre Verbindung als „magisch“, und es klingt mehr nach einer Liebesbeziehung als nach wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Mehrere Jahre lang verbrachten die beiden jeden Nachmittag Stunden mit Gesprächen, in denen sie ihre eigenen Gefühle und Intuitionen untersuchten, um schließlich die Liste an Voreingenommenheiten und Trugschlüssen anzufertigen, für die sie berühmt wurden. Der Chefredakteur des Journals, bei dem sie ihr erstes großes Paper einreichten, lehnte es ab. Die Arbeit erschien zu frivol für das akademische Establishment. „Die Vorstellung, dass man eine Frage stellen kann, die das Entscheidende zum Ausdruck bringt – so wurde damals keine Psychologie betrieben“, sagt Kahneman.
Im Nachhinein erscheinen diese Fragen alles andere als frivol. Die irrationalen Züge, die sie offenlegen, sind von großer Bedeutung, wenn es zum Beispiel darum geht, die gegenwärtige Wirtschaftskrise zu verstehen, die ihre Ursachen unter anderem in übersteigertem Vertrauen und der Illusion von Fähigkeiten hat. Auch wenn keine Hoffnung besteht, solche Verzerrungen dauerhaft zu korrigieren, können wir versuchen, eine gewisse Demut in Bezug auf die Grenzen unserer geistigen Fähigkeiten zu kultivieren. Es ist irritierend, die Marionette von subtilen psychologischen Einflüssen zu sein, die wir nicht einmal bemerken können. Aber zumindest können wir versuchen, uns daran zu erinnern, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit passiert.
Oliver Burkeman ist Feature-Autor der Guardian-Beilage G2. Er lebt in New York
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