Im Norden Nigerias haben sich die überwiegend muslimischen Gebiete seit Jahren radikalisiert, was dazu führte, dass in weiten Teilen der Region säkulare Rechtssysteme durch die Scharia ersetzt wurden. Die nigerianische Regierung behauptet aber, sie sei über lokale Al-Qaida-Zellen und deren Finanzierungsquellen im Bilde.
Erste Todesstrafe
Doch gelten die Befürchtungen im Westen weniger der Rekrutierung von al Qaida als vielmehr radikalisierten Einzeltätern, die dazu fähig sind, vorhandene Verbindungen in die Vereinigten Staaten, nach Großbritannien und in andere westliche Staaten für Anschläge zu nutzen – wie Umar Farouk Abdulmutallab. An seiner Familie lässt sich die Spaltung erkennen, die zu einem islamistisch gefärbten Aufbegehren gegen das nigerianische Establishment geführt hat. Abdulmutallabs Vater war Minister in den als korrupten verrufenen, aber vom Westen unterstützten Regierungen der jüngsten Vergangenheit. Es kann daher kaum verwundern, wenn im zurückliegenden Jahrzehnt islamistische Politiker auf einer Welle des Zorns gegen korrupte Militärführer und deren Paladine an die Macht gespült wurden.
Die Vorreiterrolle spielte der nördliche Bundesstaat Zamfara, in dem mit Ahmed Sani Yerima der erste Fundamentalist ins Amt des Gouverneurs gewählt wurde, der die Scharia zur Grundlage der Rechtssprechung erklärte. Aber auch in Abdulmutallabs Heimatstaat Katsina haben die Menschen unter derartigem Fundamentalismus zu leiden wie kaum irgendwo sonst. 2002 wurde dort eine Frau von einem islamischen Gericht zum Tod durch Steinigung verurteilt, weil sie Ehebruch begangen und ein außerehelich gezeugtes Kind zur Welt gebracht hatte (der Vater des Kindes wurde nicht belangt). Ein ebenfalls nach den Geboten der Scharia urteilendes Berufungsgericht kassierte zwar das Urteil. Aber noch im gleichen Jahr wurde in Katsina die erste Todesstrafe vollstreckt, die nach islamischem Recht verhängt worden war.
Über Nigeria hinaus
Diese Radikalisierung brachte die Gruppen Boko Harram hervor, die sich zugleich als Filiale der Taliban bezeichnete. Geführt wurde sie von Mohammed Yusuf, der bereits wegen der Annahme von Al-Qaida-Geldern unter Anklage stand, als Boko Harram Angriffe auf Polizeistationen im Norden des Landes verübte, bei denen in vier Städten mehr als 700 Menschen ums Leben kamen – die meisten freilich gehörten zu den Angreifern. Yusuf wurde im Vorjahr von der Polizei erschossen, als die sein Haus umstellte. Trotz der nachgesagten Kontakte zu al Qaida, richtete sich die Militanz von Boko Haram vorrangig gegen die schwache, lange schon diskreditierte nigerianische Regierung. Millionen verarmter und frommer junger Nigerianer teilen diese Wut. Westliche Anti-Terror-Beamte fürchten, diese Empörung könnte über die Grenzen Nigerias hinaus spürbar waren.
Übersetzung: Holger Hutt
Kommentare 6
Besonders gravierend erscheinen diese bedrohlichen Tendenzen, wenn man in Betracht zieht, welch' zivilisatorische Fortschritte man im christlichen Süden Nigerias beobachten kann.
Christliche Aufklärer verhindern dort beispielsweise erfolgreich Hexenjagden und sorgen mit der Durchsetzung christlicher Gesetze beispielsweise für einen völlig neuen und prickelnden Ansatz zur Bekämpfung der Homophobie. Dezidiert christliche Milizen gibt es auch nicht, und wenn doch, dann sind dies rein devensive Kämpfer für die Menschenrechte.
Nigeria ist von daher für mich ein prickelndes Beispiel dafür, dass es am Islam liegt und nicht an sozialen Verwerfungen, wenn es irgendwo kracht.
Das Fazit des Artikels verstehe ich nicht so ganz. Wenn sich die Wut allein gegen die nigerianische Regierung richtet, warum sollte sie dann ins Ausland überschwappen? Da fehlt das Zwischenglied in der Beweiskette.
Vielleicht verhält es sich ja so, wie es in der taz vor gut einem Jahr zu lesen war: "Auch der Generalsekretär der Vereinigung nigerianischer Christen, Samuel Salifu, machte die Politik verantwortlich: 'Wir sind es satt, immer die gleichen Krisen zu sehen, wenn einige Politiker in ihrem Eigeninteresse die religiöse Karte spielen.' Damit spricht er aus, was viele denken: Christliche und muslimische Milizen werden von Politikern je nach Interessenlage eingekauft."
Quelle: www.taz.de/1/politik/afrika/artikel/1/mit-macheten-gegen-die-nachbarn/
Offensichtlich profitiert auch Al-Quaida von den sozialen Konflikten und der Wut auf die korrupte Regierung und so wird dann (eventuell) die Gewalt ins Ausland getragen.
Die Überschrift des Artikels erscheint mir daher etwas unpassend, falls damit auf den Roman von John Steinbeck ("The Grapes of Wrath") angespielt werden sollte. In dem Roman kommen, wie ich das sehe, die Frömmler und religiösen Fanatiker alles andere als gut weg. Einer der Helden ist dagegen Jim Casey, ein ehemaliger Wanderprediger, der eingesehen hat, dass mit dem Herumhacken auf individuellen "Sünden" kein Blumentopf zu gewinnen ist und der sich stattdessen der Protestbewegung gegen die Ausbeutung der Wanderarbeiter anschließt.
Es mag an der ständigen Präsenz westlicher Interessen liegen, dass westliche Dienste also immer auch befürchten irgendwann einmal in den Fokus zu kommen.
"Abdulmutallabs Vater war Minister in den als korrupten verrufenen, aber vom Westen unterstützten Regierungen der jüngsten Vergangenheit."
Also nicht völlig unverständlich.
@misterL
Da ist sicher was dran. In den früher vom Osten (als es den noch gab) unterstützten Ländern gab es allerdings auch so manche korrupte Regierung. Und Regierungen, die vom Westen nicht direkt unterstützt werden (mit denen er aber Geschäfte macht), wie die russische oder die iranische, bestehen deshalb auch nicht automatisch aus "lupenreinen Demokraten". Nur so allgemein gesprochen, ich weiß ja nicht, wie Du das siehst.
Natürlich wäre es besser, wenn der Westen aufhören würde, korrupte Regime zu unterstützen. Irgendwo kann ich diese Art von Interessenpolitik zwar nachvollziehen. Jedenfalls so lange in dem betreffenden Land keine bessere Alternative in Sicht ist. Anarchie (wie in Somalia) ist schließlich auch keine Lösung.
Wenn es aber so läuft wie in Nigeria, dann fällt die zynische "Realpolitik" des Westens schließlich auf ihn selbst zurück. Ähnlich wie im Falle Saudi-Arabiens, dem Hauptexporteur islamistischen Gedankenguts.
Im Grunde gebe ich Dir also Recht. Die Verantwortung dafür, sich um vernünftige Alternativen (die Einführung der Scharia oder christliche Totschläger-Milizen zähle ich nicht dazu) zu bemühen, liegt dennoch letzlich bei den Bewohnern Nigerias, meine ich. Würde der Westen zugunsten irgendeiner Oppositionsgruppe intervenieren, hieße es erst recht: der Westen mischt sich ein. Dieses Dilemma sollte man beim "Westen-Bashing" stets im Auge behalten, meine ich.
christliche "Aufklärer" ... ich glaube, mir wird schlecht. Christliche Gesetze ... Bekämpfung der Homophobie ... wer´s glaubt, wird selig.
"Dezidiert christliche Milizen gibt es auch nicht, und wenn doch, dann sind dies rein devensive Kämpfer für die Menschenrechte."
natürlich, rein defensiv und nur für die Menschenrechte, fast wie wie die Deutschen und Amerikaner in Afghanistan oder die Amerikaner und Engländer im Irak.
bei jesus.de würde ich solche Statements erwarten, im Freitag verwundern sie mich doch ein wenig
nur nebenbei, wenn es islamistische Kräfte gibt, offenbar zur Unterscheidung von echten Muslims, darf man dann analog auch von kristianistischen Kräften sprechen, die z.B. großflächig die US-Army unterwandern?
@Lethe:
Ich dachte es wäre absurd genug, was ich da geschrieben hatte, aber sollte dies nicht klar sein:
Es war sarkastisch ("ironisch" wäre untertrieben) gemeint, was ich da geschrieben hatte.