Wie an den meisten Schulen in Paris ist auch an der Ecole des Hospitalières-Saint-Gervais ein Schild angebracht, das an düstere Zeiten erinnert: „165 Kinder dieser Schule wurden während des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland verschleppt und in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet. Dies soll nie vergessen werden.“ Die Schule befindet sich im Marais-Viertel, dem historischen Zentrum des jüdischen Lebens in Paris, wo heute vor allem Schwulenbars neben Falafel-Läden, koscheren Restaurants, Synagogen und Gebetsräumen das Straßenbild bestimmen. In seinen labyrinthischen Gassen haben seit dem 13. Jahrhundert immer wieder Juden gelebt.
Am 24. Februar soll der langjährige Dior-Designer John Galliano in einer Bar des Viertels die 35 Jahre alte Géraldine Bloch und ihren 41-jährigen Lebensgefährten Philippe Vigitti antisemitisch und rassistisch beschimpft haben. Die beiden riefen die Polizei und erstatteten Anzeige. Galliano wurde festgenommen. Ihn erwarten bis zu sechs Monaten Haft. Kurz darauf wurde der britischen Boulevarzeitung The Sun ein Handyvideo zugespielt, auf dem zu sehen ist, wie ein volltrunkener Galliano bereits vor einem Jahr in der gleichen Bar französische und italienische Frauen anpöbelt und antisemitisch beschimpft, weil er sie fälschlicherweise für Jüdinnen hält. Er liebe Hitler. Leute wie sie wären tot, ihre Vorfahren wären vergast worden.
Schon immer als "dreckige Juden" beschimpft
Dior hat Galliano mittlerweile entlassen. Doch während sein Verhalten Frankreich und die Modewelt gleichermaßen erschüttert hat, sorgte der Fall auf dem Pletzl – Jiddisch für kleiner Platz – für wenig Überraschung. Wenn man Händler und Anwohner fragt, ob sie schon einmal beleidigt worden seien, erntet man nur ungläubige Blicke, so als ob man versucht habe, einen Witz zu machen. „Selbstverständlich“, ist die häufigste Antwort. Die Beleidigung „sale juif – dreckiger Jude“ gehöre für sie zum Alltag.
Dan steht in der Tür seines Lebensmittelladens in der Rue des Rosiers, der Hauptstraße des Marais. Er deutet auf seinen breitkrempigen Hut. „Meine achtzigjährige Nachbarin sagt, die Leute hätten sich früher erzählt, wir Juden trügen diese Hüte, damit man unsere Hörner nicht sehen kann und lange schwarze Mäntel, um unsere Schwänze zu verbergen“, sagt er und lacht dabei. „Sie sagt mir, ich solle meine Söhne nicht die Kippa tragen lassen, falls „sie“ zurückkommen. Über 50 Jahre nach dem Krieg denkt sie immer noch, es könnte sich wiederholen.“
Im Laden von Sacha Finkelstajn, der für seinen Apfelstrudel und seinen Käsekuchen berühmt ist, zucken zwei Frauen nur mit den Schultern, als ich sie nach Gallianos mutmaßlich antisemitischen Ausfällen frage. In dem Lebensmittelgeschäft Panzer gegenüber weigert sich der Verkäufer, über Galliano zu reden. "Wir wurden schon immer als dreckige Juden beschimpft. Antisemitismus gab es hier schon immer und wird es immer geben. Das ärgert mich, erschüttert mich aber nicht.“In der Szene-Bar La Perle, wo der Designer, der abstreitet, ein Antisemit zu sein, nach seinem zweiten antisemitischen Ausfall verhaftet wurde, sagt Jerôme: „Frankreich hat den Begriff Antisemitismus erfunden.“ Er würde gerne ein Buch über die glücklichen Ereignisse in der jüdischen Geschichte schreiben, müsste dafür aber erst einmal welche in Erfahrung bringen. Es ist deprimierend, dass ich meinem Sohn immer nur schreckliche Ereignisse aufzählen kann, wenn ich mit ihm über die jüdische Geschichte in Europa spreche.“
Wie eine Wunde, die niemals ganz verheilt, kommt es im Land mit der größten jüdischen Gemeinde Europas in deprimierender Regelmäßigkeit zu antisemitischen Ausbrüchen. Es ist eine Geschichte der Massenvertreibungen, Zwangskonversionen, Ghettoisierung und systematischen wie spontanen Progromen, der physischen Gewalt bis hin zum Mord.
Die Spuren der Dreyfus-Affäre
Nach der Französischen Revolution erlebte das frühe 19. Jahrhundert eine Emanzipation der jüdischen Bürger Frankreichs. Doch der unterschwellige Hass lebte fort und kulminierte 1894 schließlich in der Dreyfus-Affäre. Durch den Fall des jüdischen Artilleriehauptmanns im französischen Generalstab, der wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung und Haft verurteilt wurde, wurde der Name Dreyfus zu einem Synonym für Antisemitismus. Als die Nazis 1940 Frankreich besetzen, lebten 9.000 Juden in Marais. Viele von ihnen befanden sich unter den schätzungsweise 76.000 französischen Juden, die zwischen 1942 und 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet wurden.Als 1982 vor der Synagoge in der Pariser Rue Copernic eine Bombe vier Menschen tötete – unter denen nur einer Jude war – sprach der damalige Premierminister Raymond Barre von einer „verabscheuenswürdigen Tat“ gegen „unschuldige Franzosen“. Als der britische Rabbiner Michael Williams die Opfer im Krankenhaus besuchen wollte, soll er mit den Worten davon geschickt worden sein: „Mach, dass Du hier rauskommst! Du bist schuld an der Sache!“
Im Jahr 2006 wurde ein 23-jähriger Handyverkäufer entführt und drei Wochen lang auf abscheuliche Art und Weise zu Tode gefoltert, weil er Jude war und seine muslimischen Peiniger glaubten, seine Familie müsse Geld haben. Bis vor kurzem war die rechtsextreme Front National das politische Gesicht des französischen Antisemitismus. Seit Marine, die Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen, die „Modernisierung“ der Partei vorangetrieben und vor kurzem nun auch den Parteivorsitz übernommen hat, ist die Partei von ihrem historischen Revisionismus abgerückt und hat sich auf die in Frankreich lebenden Muslime eingeschossen.
Auch viele im Marais lebende Juden machen heute die Einwanderer aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien und das traditionell gute Verhältnis Frankreichs zu den arabischen Ländern für den Antisemitismus in Frankreich verantwortlich.
Der Schutzdienst der jüdischen Gemeinde registrierte im Jahr 2010 466 antisemitische Vorfälle, nachdem die Statistik 2004 ein Zehnjahreshoch von 974 erreicht hatte. Aber die Dunkelziffer ist nach wie vor hoch. Viele Übergriffe gingen auf islamische Fundamentalisten zurück, heißt es bei der Selbsthilfeorganisation.
Vor zwei Wochen berichtete die Tageszeitung Le Monde darüber, dass französische Internetnutzer, die nach Informationen über Politiker suchen, öfter als irgendjemand sonst Kombinationen aus Namen und dem Worte Jude in die Suchmaschinen eingeben. Dies sagt dem Internetspezialisten Olivier Ertzscheid von der Universität von Nantes zufolge viel über die Mentalität des Landes aus. Eine französische Internetseite fragte vor kurzem: “Ist Frankreich bereit für einen jüdischen Präsidenten?“ Dominique Strauss-Kahn, jüdisch-marokkanischer Abstammung, Chef des Internationalen Währungsfonds und potenzieller Kandidat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, wurde von einem politischen Gegner vor kurzem als „Kosmopolit“ bezeichnet, der „nicht das ländliche Frankreich“ repräsentiere – beides sind wohlbekannte Stereotypen für Juden. Jerôme glaubt, die Vorstellung vom „Feind im Inneren“, wie er in der Dreyfus-Affäre zum Tragen kam, sei eine Art von Antisemitismus, wie es ihn nur in Frankreich gebe. „Ich denke, es ärgert manche Leute, dass Juden so gut integriert sind. Dass sie wissen, dass wir hier sind, aber sie nicht wissen, wer wir sind.“
Es ist mittlerweile halb fünf Uhr nachmittags und in der jüdischen Schule ist der Unterricht zu Ende. Aber die Kinder strömen nicht einfach aus der Schule, stattdessen treibt sie ein nervös dreinschauender Mann mit einem Funkgerät in der Hand in wartende Autos. In seinem Lebensmittelladen, nicht weit von den Räumen, in denen sich früher das legendäre Goldenberg befand – das Restaurant, das 1982 zum Ziel der Terrorgruppe Abu Nidal wurde und indem sich seit 2007 ein Geschäft für Herrenmode befindet – sagt Dan, die Leute im Kiez lebten in ständiger Angst vor einem Angriff. Dann fügt er hinzu: „Insgesamt ist das hier aber ein friedlicher Ort. Es gibt da eine jüdische Redensart: 'Man kann erkennen, wie es im Herzen eines Mannes aussieht, wenn er betrunken oder wütend ist oder wenn er Geld hat. Ich denke, wir haben gesehen, wie es in Gallianos Herzen aussieht.'“
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