Gefährliche Macht

NSA-Überwachung Regierungen denken immer, sie tun bloß das Beste für den Staat und die Leute. Aber Total-Überwachung kann Leben zerstören, schreibt der chinesische Künstler Ai Weiwei
Gefährliche Macht

Foto: Ed Jones /AFP/ Getty Images

Obwohl wir wissen, dass Regierungen alles Mögliche machen, haben mich die Informationen über das US-Überwachungsprogramm Prism schockiert. In meinen Augen wird damit die Macht der Regierung missbraucht, um in die Privatsphäre des Einzelnen einzugreifen. Diese wichtige Gelegenheit sollte die internationale Gesellschaft zum Anlass nehmen, die Rechte des Einzelnen neu zu überdenken und zu schützen.

Ich habe zwölf Jahre lang in den USA gelebt. Dieser Missbrauch von Staatsmacht läuft meinem Verständnis einer zivilisierten Gesellschaft ganz und gar entgegen. Es würde mich entsetzen, wenn die amerikanischen Bürger zuließen, dass es so weiter geht. Die USA haben eine große Tradition des Individualismus und der Privatsphäre. Deshalb waren sie lange ein Zentrum des freien Denkens und der Kreativität.

In China erleben wir im Grunde das absolute Nichtvorhandensein von Privatheit. Deshalb hinkt China der Welt in so vielerlei Hinsicht hinterher: Obwohl es großen Wohlstand erlangt hat, kann es nicht mithalten, wenn es um Leidenschaft, Vorstellungskraft und Kreativität geht.

Der Einzelne ist vollkommen nackt

Natürlich unterscheiden sich die rechtlichen Vorraussetzungen – im Westen und in den Industrieländern gibt es andere Gesetze, die den Gebrauch von Informationen in Regierungshand einschränken oder abwägen. In China ist das nicht der Fall. Deshalb ist der Einzelne dort vollkommen nackt. Das Leben eines Menschen kann durch das Eindringen in seine Privatsphäre komplett zerstört werden. Dass das in westlichen Ländern passieren könnte, glaube ich indes nicht.

Dennoch: Wenn wir über den missbräuchlichen Eingriff in die Rechte des Einzelnen reden, dann macht Prism genau das. Es macht den Einzelnen schutzlos. Die Privatsphäre ist ein grundlegendes Menschenrecht, einer der absoluten Grundwerte. Es gibt keine Garantie dafür, dass die USA oder irgendeine andere Regierung die Informationen nicht unrichtig oder illegal benutzen. Ich denke, besonders eine technisch hoch entwickelte Nation wie die USA sollte ihre Macht nicht ausnutzen. Sie animiert damit auch andere Länder.

Millionen Leben wurden zerstört

Vor dem Informationszeitalter konnte die chinesische Regierung jemanden zum Konterrevolutionär erklären, bloß weil ein Nachbar irgendetwas berichtet hatte, was er zufällig mitangehört hatte. Tausende, gar Millionen Leben wurden durch den Missbrauch solcher Informationen zerstört. Heute kann der Staat aufgrund seiner technischen Möglichkeiten ganz einfach auf jedes Bankkonto, auf alle privaten E-Mails sowie auf Gespräche in sozialen Netzwerken zugreifen.

Das Internet bietet uns neue Möglichkeiten der Selbsterkundung. Andererseits haben wir haben uns auch noch nie in vergleichbarem Ausmaß entblößt. Wir sind angreifbar, sollte irgendjemand beschließen, dies gegen uns zu benutzen. Jede Information oder Kommunikation könnte junge Menschen der Überwachung durch den Staat aussetzen. Wenn repressive Staaten Menschen verhaften, haben sie oft solche Informationen in der Hand. Sie können benutzt werden, um einen zu kontrollieren, um einem zu sagen: Wir wissen genau, was du denkst oder machst. Das kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben.

Wenn Menschen Angst haben und das Gefühl, dass der Regierung alles zugänglich ist, zensieren sie ihr Denken. Es ist dann nicht mehr frei. Das ist gefährlich für die menschliche Entwicklung.

Die Macht muss begrenzt werden

Früher in der Sowjetunion, heute in China und sogar in den USA: Die Staatsvertreter halten ihr Tun immer für notwendig. Sie glauben fest daran, sie täten das Beste für den Staat und die Menschen. Doch aus der Geschichte sollte die Lehre gezogen werden, dass die Macht des Staates begrenzt werden muss.

Wenn eine Regierung von der Bevölkerung gewählt wurde und wirklich für die Menschen arbeitet, sollte sie diesen Versuchungen nicht nachgeben.

Die Wachleute haben geflüstert

Während meiner Haft in China wurde ich 24 Stunden am Tag überwacht. Das Licht war immer an. Zwei Wachen standen in Zwei-Stunden-Schichten immer neben mir – sie sahen mir sogar zu, wenn ich eine Tablette schluckte. Ich musste meinen Mund öffnen, damit sie meine Kehle sehen konnten. Man muss vor ihnen duschen. Sie schauen einem beim Zähneputzen zu – im Namen der eigenen Sicherheit, damit man sich nichts antut. Sie hatten drei Überwachungskameras installiert, um sicherzustellen, dass die Wachen nicht mit mir kommunizierten.

Aber die Wachen haben mir Dinge zugeflüstert. Sie haben von sich erzählt. Menschlichkeit und Privatheit gibt es immer, selbst unter den restriktivsten Bedingungen.

Die Macht des Staates zu beschränken bedeutet, die Gesellschaft zu schützen. Es geht nicht nur darum, die Rechte des Einzelnen zu schützen, sondern auch darum, die Macht gesünder zu machen.

Die Zivilisation baut auf diesem Vertrauen auf. Jeder muss kämpfen, um das zu verteidigen und zu schützen, was am verletzlichsten ist – die Gefühle in unserem Inneren, unsere Familien. Wir dürfen unsere Rechte nicht aushändigen. Keiner staatlichen Macht sollte ein solches Vertrauen geschenkt werden. Nicht in China. Nicht in den USA.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofmann
Geschrieben von

Ai Weiwei | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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