Für Umm Khaled und ihre Familie schien die Schlacht um Aleppo weit entfernt. Sie hofften, den ganzen Krieg irgendwann unbeschadet überstanden zu haben. Ihr Haus lag sehr zentral. Noch dazu im gleichen Viertel wie die historische Altstadt und die berühmte antike Zitadelle, der es zu verdanken war, dass Aleppo 2006 zur Hauptstadt der Islamischen Kultur erklärt wurde. Es galt als ausgemacht, dass dieses Quartier von Kampfhandlungen verschont wird. Doch war das weder sicher noch garantiert und änderte sich vor gut zwei Wochen endgültig. Die Khaleds verloren den Boden unter den Füßen, weil die Erde bebte, als sei der Familie ein Strafgericht ohnegleichen zugedacht. Dieser Eindruck stellte sich ein, als zwei Geschosse gleichzeitig in der Nachbarschaft einschlugen.
„Wir saßen beim Abendessen, und plötzlich hatten wir die Teller voller Staub und Betonsplitter. Da wussten wir, jetzt müssen wir uns doch von Aleppo verabschieden. Es gab keinen anderen Ausweg, als zu gehen.“ Umm Khaled sitzt vor einem Zelt in einem Flüchtlingscamp auf der türkischen Seite der Grenze zu Syrien. Zusammen mit 17 Verwandten ist sie vor Tagen hier eingetroffen Die Familie zählt zu den etwa 30.000 Menschen, die seit Anfang Februar aus Aleppo in die Türkei fliehen konnten und Glück hatten. Einige tausend Vertriebene teilen ein anderes Schicksal. Sie vagabundieren auf syrischem Territorium obdachlos durch die Grenzregion, sie sind zu arm für den Zehn-Stunden-Marsch über einen sicheren Gebirgspfad und einen ebensolchen Transfer in die Türkei. Dafür haben die Khaleds pro Kopf 500 Dollar an ihre Lotsen gezahlt.
Syrien
So gut wie nichts deutet darauf hin, dass die vereinbarte Waffenruhe in der Provinz Aleppo zustande kommt. Damit dürfte es vorerst auch keine neuen Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien in Genf geben
Schon vor den russischen Luftangriffen und dem Beschuss durch die Assad-Armee waren Teile Aleppos weitgehend zerstört. Seit Langem schon galt die von fünf Jahren Bürgerkrieg geschleifte Metropole als der wohl gefährlichste Ort der Welt. Eine Unzahl von Kampfgruppen hat die Stadt bisher malträtiert. Größtenteils sind sie einander in inniger Feindschaft zugetan und kämpfen um jeden Quadratmeter Trümmerfeld. Und niemand scheint noch einen Überblick zu haben, wer da wen mit tödlichem Hass verfolgt.
Nur so viel scheint sicher: Bis die von der Syrien-Kontaktgruppe angestrebte Waffenruhe – wenn überhaupt – in Kraft tritt, könnte nicht mehr viel von den Kampfzonen Aleppos übrig sein. So klagen die wenigen Bewohner, die trotz allem ausharren. Den Glauben an ein paar Stunden Feuerpause und an humanitäre Korridore für Hilfsgüter haben sie verloren.
Ödland im Industrierevier
„Baschar al-Assads Truppen rücken zügig vor und sind kaum aufzuhalten“, sagt Bahar al-Halabi in einem Unterstand der Freien Syrischen Armee (FSA). „Es ist offensichtlich, dass die Armee des Regimes, die kurdischen Milizen und die Russen koordiniert vorgehen. Für uns heißt das – wir müssen gegen drei Giganten auf einmal kämpfen. Und es wäre eine Lüge, würde ich behaupten, wir seien in einer starken Position. Falls das Regime sich überhaupt auf eine Waffenruhe einlässt, dann nur, um uns weiter einzukesseln.“
Das Flüchtlingslager, in dem Umm Khaled und ihre Angehörigen Zuflucht gefunden haben, liegt eine Autostunde südlich der türkischen Großstadt Sanliurfa. Alle Geflohenen, mit denen ein Gespräch möglich ist, sind davon überzeugt, dass Aleppo im Stich gelassen werde. „Seit zwei Jahren haben wir vor diesem Tag der Entscheidung gewarnt“, regt sich ein Mann namens Ahmed Othman auf. „Aber niemand hörte zu, denn es war allen egal.“ Nun drohe selbst der Zitadelle die Zerstörung, die 3.000 Jahre lang allen Angriffen und Aufständen getrotzt habe.
Einige Flüchtlinge berichten von einer absurden Situation. Westlich der Altstadt, die als Grenzzone zwischen dem vom Regime beherrschten Teil Aleppos und dem rebellischen Osten gilt, gehe das Leben einigermaßen normal seinen Gang. Aleppo zerfalle in zwei Hälften: Die eine sei vom Krieg verheert, die andere – die vom Assad-Regime kontrollierte – weitgehend intakt geblieben.
Der Exodus hat den Ostteil vollends erfasst, ebenso die von Gefechten heimgesuchte Peripherie. Gelegentlich gehen in den Randgebieten Geschosse der Rebellen nieder, vermutlich abgefeuert von den Brigaden der Dschaisch al-Fatah, der Eroberungsarmee aus der Al-Nusra-Front, die als Syriens Al-Qaida-Ableger gilt.
Die Familie Khaled floh in nördlicher Richtung aus der von Assads Fassbomben bedrohten Osthälfte. Dort stehe inzwischen kein einziges Hospital mehr, meint Umm Khaled. Die Stromversorgung, Schulen, Bäckereien und die Märkte für Lebensmittel – das alles sei nahezu vollständig zerstört. Die Khaleds passierten bei ihrem jähen Aufbruch das Industrierevier von Scheich an Nadschar, einst das Herzstück der syrischen Wirtschaft mit Unternehmen der Petrochemischen Industrie, der Pharma- und Textilbranche. Hier wurden Teppiche gewebt und Agrarprodukte verarbeitet, die aus den fruchtbaren Ebenen entlang des Flusses Quwaiq kamen.
Heute ist von dieser Wirtschaftszone nicht viel mehr als ein Ödland aus Schutt, ausgebrannten Autos und Fabrikhallen, umgestürzten Strommasten und Bombenkratern geblieben. Die Strecke durch Scheich an Nadschar sei vor einer Woche der einzig noch halbwegs sichere Fluchtweg gewesen, um der Hölle im Osten Aleppos zu entkommen, sagt Umm Khaled. Bald dürfte es auch diese Route nicht mehr geben, die Hisbollah- und andere Pro-Assad-Milizen konzentrieren ihre ganze Kampfkraft darauf, diese letzte Lücke im Belagerungsring zu schließen.
„Immer wenn wir einen Kontrollpunkt sahen, ob von der FSA, den Dschihadisten der Al-Nusra-Front, der Hisbollah oder sonst wem, fuhren wir stets einen kilometerlangen Bogen“, erinnert sich Abu Ihab, ein Neffe von Umm Khaled. „Auf Umwegen gelangten wir zur Grenze, und dann mussten alle, außer den Kindern, die Schlepper bezahlen. Wir konnten zu keinem Augenblick sicher sein, ob wir uns auf sie verlassen können. Wir gerieten ohnmächtig in eine Situation, von der alle befürchteten, dass sie tödlich enden könnte.“
Keiner glaubt daran
Auf ihrem Weg sahen die Khaleds Kampfjets in Formationen fliegen, die sie von Assads Luftwaffe her nicht kannten. „Die Maschinen flogen zu fünft oder zu sechst, entfalteten sich und klinkten dann ihre Raketen oder Bomben aus“, beschreibt Abu Ihab den Himmel über Syrien.
Beim stundenlangen Fußmarsch durch die Berge, unterwegs in die Türkei, seien die Flüchtlinge ständig in Angst vor Grenzschutzpatrouillen gewesen, berichten Ärzte aus der Stadt Azaz, die auf syrischem Gebiet liegt. Sie hätten schon ein Dutzend Menschen behandelt, die von türkischen Grenzern angeschossen worden seien. Inzwischen lasse die Türkei wenigstens Hilfsgüter über die Grenze, wo in den sich anschließenden Olivenhainen Zehntausende festsäßen.
Ein Sprecher der FSA in Azaz kann das nur bestätigen. Was meint er zur abgesprochenen Feuerpause? Werden die Waffen schweigen? „Dem Regime ist es mit einer Waffenruhe noch nie ernst gewesen“, sagt der Mann. „Auch diesmal glaubt keiner daran. Das ist nichts weiter als routiniertes hohles Gerede.“
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