Geister und Graffiti

Falludscha Die irakische Armee tilgt in der zurückeroberten Stadt die Spuren der IS-Herrschaft
Ausgabe 29/2016

Im Erdgeschoss des Falludscha-Krankenhauses, das ein Symbol früher überstandener Kriege ist, hatten die Besatzer vom „Islamischen Staat“ (IS) eine Moschee eingerichtet. Sie hatten Teppiche im Foyer ausgerollt und ein Pult aufgebaut, an dem Geistliche inmitten der Hektik einer Rettungsstelle in Kampfzeiten ihre Predigten hielten. Vor dem Eingang steht noch ein Sanitätswagen mit Totalschaden. Und um die Ecke ist vor Tagen erst ein IS-Kämpfer bestattet worden, dessen Leiche nach dem Abzug der Terror-Miliz gefunden wurde.

Wahlweise als „Stadt der Moscheen“ oder „Stadt des Widerstands“ hatte Falludscha in den vergangenen 25 Jahren eine traurig makabre Berühmtheit erlangt. Nun drücken ihr die irakischen Sicherheitskräfte einen neuen Stempel auf. Derzeit ist sie eine Stadt der Geister und Graffiti. An die Mauern hunderter verlassener Gebäude und Wohnhäuser haben die Eroberer ihre Slogans gesprüht, Parolen gegen den IS und Treubekundungen an die Heiligen der Schia, der Glaubenslehre der Schiiten. Offiziell wird der Sieg der Nationalarmee zugeschrieben, doch die Soldaten selbst räumen ein, dass schiitische Milizionäre vom Bündnis der Volksmobilmachungskräfte (PMF) in der Schlacht eine maßgebliche Rolle gespielt hätten. „Wir waren als Erste im Zentrum“, rühmt sich Sayyed Ammar, Sprecher der Notfallbrigaden des Innenministeriums. „Dann kamen aber bald die Milizen.“

Überall wehen Schia-Banner

Die vom Iran unterstützten Kampfverbände haben im Krieg gegen den IS vielerorts längst die Führung übernommen. Vor allem irakische Sunniten betrachten diese Dynamik mit Sorge, da manche der Schiitengruppen religiöse Vorherrschaft beanspruchen. Auch westliche Beobachter sehen die Souveränität des irakischen Staates dadurch bedroht. Dazu befragt, antwortet ein Armeeoffizier vorsichtig: „Ob man diese Kräfte gutheißt oder nicht, sie kommen hierher als Iraker, um die Menschen vom IS zu befreien. Allein das zählt.“

„Dies ist ein Sieg Alis, den wir verehren“, verkündet eine der Inschriften, „Falludscha ist in den Händen der Badr-Brigaden“, eine andere. Überall wehen Schia-Banner neben den Nationalflaggen, die nun in der ganzen Stadt zu sehen sind, nachdem es dort gut zwei Jahre lang nur die schwarze IS-Standarte gab. Während deren Verbände überall in der Region auf dem Rückzug sind, bleibt die Zukunft Falludschas ungewiss. Die Zivilbevölkerung hat die Stadt vollständig verlassen. Nichts regt sich mehr, außer den vorübergehend hier stationierten Truppen. Die meisten Einwohner sind in einem riesigen Flüchtlingslager in der nahen Wüste untergekommen und müssen noch mindestens sechs Monate ausharren. „Früher wird die Stadt nicht wieder bewohnbar sein“, sagt Oberstleutnant Tassen von den Notfallbrigaden.

Umkämpftes Falludscha

Getroffen
Während des Golfkrieges 1991 wird der Markt von Falludscha zweimal von britischen Bombern getroffen. Es sterben mehr als 200 Menschen. Tatsächlich wollen die Angreifer eine Brücke über den Euphrat zerstören.

Gelyncht
Mit der US-Besatzung ab April 2003 gilt Falludscha als Zentrum des su-nnitischen Widerstandes. So werden im März 2004 vier Berater des US-Sicherheitsdienstleisters Black-water gelyncht. Schließlich zwingen die Milizen von Musab al-Zarqawi ein US-Bataillon zum Abzug.

Geflohen
Die daraufhin eingesetzten Verbände des US-Marine-Korps starten die Operation Vigilant Resolve, setzen Phosphor- und Streubomben ein. Es gibt 1.200 Tote bei den Aufständischen und 81 gefallene Amerikaner, während die Hälfte der Bewohner flieht. Die vollständige Rückeroberung gelingt erst im November 2004.

Geschlossen
Nach dem Abzug der US-Armee Ende 2011 lebt Falludscha in einem Machtvakuum, bevor am 4. Januar 2014 der IS die Stadt bis auf wenige Vororte einnimmt. Dessen Dominanz bröckelt erst, als die Nationalarmee ab Februar 2016 einen Belagerungsring legt und langsam schließt. Lutz Herden

Die wochenlange Schlacht um Falludscha hat ganze Straßenzüge verwüstet und dabei die Geheimnisse der Terrorgruppe offengelegt, die hier wie anderswo im Irak und in Syrien Angst und Schrecken verbreitet. Inmitten einer Straße voller Schutt und Bombenkrater hatte die IS-Gefolgschaft einen Scharia-Gerichtshof und ein Gefängnis errichtet. Beides wurde zerstört, doch einige der Zellen sind noch zu erkennen. Manche zu eng, um sich darin hinzusetzen, andere zu niedrig, um zu stehen. Ein Schulhof in der Nähe diente dem Henker des IS als Hinrichtungsplatz. Die verwesenden Leichen zweier junger Männer, die Augen mit roten Tüchern verbunden, liegen noch dort. „Neun weitere sind unter dem Kies verscharrt“, sagt ein Hauptmann, der sich als Ali Kazwini vorstellt. „Die Exekutierten, das waren ausnahmslos IS-Leute. Entweder wollten sie fliehen oder sie waren wegen Verrats angeklagt.“

Er zeigt auf drei zusammengeflickte Boote, die neben den Schultoren versteckt sind und genutzt wurden, um den Euphrat zu überqueren. „Die brauchten sie zum Schmuggeln“, glaubt der Hauptmann. „Im Improvisieren sind sie gut.“

Nächstes Ziel ist Mossul

Das Innenministerium schätzt, dass sich zu Beginn der Schlacht etwa tausend IS-Kombattanten in Falludscha befanden. Nur wenigen gelang die Flucht in einem mitternächtlichen Konvoi, der am 2. Juli durch die Wüste in die Provinz Anbar aufbrach und sogleich von Kampffliegern attackiert wurde. „Wir haben ihre Leichen in den Euphrat geworfen“, sagt Armeesprecher Sayyed Ammar, „als Fischfutter.“ Erbarmen mit einem Feind, der sich nicht ergeben wollte und in seiner Brutalität keine Grenzen kannte, dürfe man nicht erwarten. Die Einwohner Falludschas – vor allem jene, die erst während der letzten Gefechte aus der Stadt flohen – werden von den Siegern argwöhnisch betrachtet. „Die Einstellung der Leute ist in dieser Gegend ein bisschen anders als im Rest des Landes – dogmatisch, ideologisch verbohrt, religiös“, meint Oberstleutnant Tassen: „In diesem Raum liegt die Hochburg des Terrorismus im Irak. Wir müssen die Bewohner genau überprüfen.“

Jahrzehntelang war Falludscha eine Handels- und Industriestadt, Saddam Hussein wusste hier eine ausgesprochen treue Anhängerschaft hinter sich. Die Straßen sind breit, die Häuser oft stattliche Bauten. „Schaut euch diese Wohnung an“, sagt ein junger Offizier, der uns die Unterkunft zeigt, die er mit seiner Truppe bezogen hat: „Unten in Hilla und Diwaniya können wir uns keine 150 Quadratmeter zur Miete leisten. Die Leute, die zugelassen haben, dass sich der IS in ihrer Stadt breitmachte, werden sehr gut begründen müssen, warum es für sie hier noch eine Zukunft geben soll.“

Vor dem Hospital, das 2009 von der irakischen Regierung erbaut wurde, steht der Gefreite Saad Mahmoud Wache am Maschinengewehr. Er stammt aus Falludscha und ist mit seiner Familie geflohen, als der IS Anfang 2014 die Stadt besetzte. „Ich gehe nicht zu unserem Haus zurück“, sagt er, „ich will nicht sehen, was daraus geworden ist.“ Neben ihm zeigt ein Rekrut aus Ramadi ein Foto von seinem Haus, das der IS zerstörte. „Sie taten es, weil sie wussten, dass ich bei der Truppe bin.“

Planierraupen arbeiten sich durch den Schutt unweit des Krankenhausportals, während Armeetransporter durch die leeren Straßen der Innenstadt schleichen, als seien sie ihrer selbst überdrüssig. In einer Lagerhalle liegen Bomben und Druckplatten gestapelt. „Hier haben sie ihre Waffen gebaut“, erklärt Hauptmann Kazwini, „dazu die Bombengürtel für ihre Attentäter.“ Er führt uns die Straße hinauf zu den Resten eines Wohnhauses. Der IS soll es als Hauptquartier genutzt haben, zwischen den Trümmern liegen Teile von Maschinengewehren, Schutzkleidung und Munition. „Eher legen sie alles in Schutt und Asche, als es uns zu überlassen“, murmelt er.

Der Sieg in Falludscha hat den irakischen Streitkräften Selbstvertrauen gegeben für die noch größere, im Krieg gegen den IS wahrscheinlich entscheidende Schlacht, die bevorsteht: die Schlacht um Mossul, zweitgrößte Stadt des Landes. „Wir haben erlebt, welcher Segen eine professionelle Armee sein kann“, meint Oberstleutnant Tassen. Die Wende im Krieg mit dem IS erzwingt ein Nachdenken darüber, wie das Land aussehen wird, wenn die Dschihadisten besiegt sind. Wird es möglich sein, überlebende Kämpfer zu resozialisieren?

„Deren Ideologie wird ungebrochen sein“, warnt Tassen, „umso mehr geht es um einen symbolischen und faktischen Wiederaufbau Falludschas. Vielleicht ist das die letzte Chance, um zu zeigen, was Versöhnung für den Irak bedeuten kann. Wenn das Land diese Chance verschenkt und die Trümmerwüste sich selbst überlässt – dann ist es aus. Aber als Erstes müssen wir garantieren, dass die Einwohner nur zurückkehren, wenn sie überprüft worden sind.“

Martin Chulov und Saud al-Murrani sind Nahostreporter des Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Martin Chulov, Saud al-Murrani | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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