Unterwegs mit Helm und Gasmaske

Hongkong Für die Sieben-Millionen-Stadt ist das Unvorhersehbare zum Normalzustand geworden. Ein persönlicher Bericht
„Wann immer ich Helm und Gasmaske einpacke, fühlt es sich an, als würde ich mich auf ein Schlachtfeld begeben“
„Wann immer ich Helm und Gasmaske einpacke, fühlt es sich an, als würde ich mich auf ein Schlachtfeld begeben“

Foto: Anthony Wallace/AFP/Getty Images

Mir geht es seit Monaten wie vielen Menschen hier: Wir schauen zu, wie sich unsere Stadt von Tag zu Tag mehr in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Furcht nimmt überhand. Jedesmal, wenn ich die Wohnung verlasse, um als Reporterin zu arbeiten, mahnen mich meine Kinder zur Vorsicht: „Pass bloß auf dich auf!“ Wann immer ich Helm und Gasmaske einpacke, fühlt es sich an, als würde ich mich auf ein Schlachtfeld begeben.

Meine Gefühle fahren Achterbahn, noch nie konnte ich so viele Wochen hintereinander nachts nicht schlafen, war ich appetitlos und unfähig an etwas Anderes zu denken als an Straßen, von denen man ständig annehmen muss, dass sie zu Kampfzonen werden. Besonders spürbar war der seelische Ausnahmezustand im Oktober, als die Behörden den Betrieb der U-Bahnen tagelang einstellten. Mich überkam ein surreales Gefühl von Unbehagen. Es stand außer Frage, dass man die Wochenendaktivitäten der Kinder absagen musste, schließlich waren alle öffentlichen Freizeiteinrichtungen geschlossen.

Zugänge verriegelt

Also fuhr ich mit meiner Familie im Taxi ans Meer. Ins Wasser zu gehen, war nicht ohne Risiko, denn kein Rettungsschwimmer tat mehr Dienst. Auf dem Weg zurück hielten uns Straßenbarrikaden auf, die von Demonstranten errichtet waren. Die Kinder wurden unruhig und hatten Angst, dass gleich die Polizei aufkreuzen und Tränengas einsetzen würde. Daher stiegen wir aus dem Taxi und machten uns schnell wie möglich durch die Menge davon. Es blieb eine erste Ahnung, dass diese Art des Bedrohlichen und Unvorhersehbaren zum Normalzustand werden könnte. Als es zuletzt den Sturm auf das Universitätsgelände gab, um die Studenten dort zu vertreiben, war ein Großteil der Stadt wie gelähmt. Beide Seiten, Demonstranten wie Polizisten, blockierten Straßen. Wieder fuhr kein Bus, und die meisten U-Bahn-Zugänge blieben verriegelt.

Sobald die Auseinandersetzungen auch nur aufflackern, bedeutet das: Menschen sind zuhause gefangen und können nicht zur Arbeit erscheinen. Wer das trotzdem schafft, kann nie sicher sein, am gleichen Tag wieder nach Hause zu kommen. Von den Angestellten im Finanzdistrikt, wagt es kaum noch jemand, zum Lunch nach draußen zu gehen. Man ist auch dort vor Tränengas nicht mehr sicher. Wenn Restaurants deshalb schließen oder Konzerte und andere Veranstaltungen abgesagt oder früher beendet werden, erliegt jedes soziale Leben. Auch wenn sie gar nicht verhängt worden ist, man lebt wie unter einer Ausgangssperre. Sogar Hochzeiten werden durchkreuzt – Freunde von mir mussten sich eine andere Kirche suchen, um ihre Gäste nicht Straßen voller Tränengas auszusetzen.

Nur noch auswandern

Alle sind hochgradig erregt, sodass zwischenmenschliche Beziehungen notgedrungen belastet und Familien oder Freundeskreise gespalten werden. Eltern und Kinder reden nicht mehr miteinander. Es wird vermieden, beim Abendessen über Politik zu sprechen. Die Geister scheiden sich an der Frage, ob man sich zum gelben (pro Protest) oder blauen Lager (pro China) bekennt. Ich habe Bekannte, die zur Auswanderung entschlossen sind, eher heute als morgen. Sie fürchten, dass ihre Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, in der es keine Grundwerte mehr gibt. Als überall in der Stadt Schulen geschlossen waren, freuten sich Hongkongs normalerweise stark akademisch gedrillte Kinder über Tage des freien Spielens im Park. Ich wusste nicht, sollte ich lachen oder weinen, wenn ich sie „schwarze Polizisten“ gegen „Demonstranten“ spielen sah.

Meine eigenen Großeltern flohen 1949 mit ihren sieben Kindern in einem überfüllten Zug nach Hongkong, nur wenige Monate vor Ausrufung der Volksrepublik in China am 1. Oktober 1949. Wie mein Vater erzählte, musste seine Familie nach ihrer Ankunft auf Tischen und Stühlen in einer Schule übernachten. Man sollte nicht vergessen: Die internationale Metropole und Finanz-Drehscheibe, die Hongkong heute ist, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb weniger Jahrzehnte durch die harte Arbeit meiner Vorfahren und anderer Geflüchteter geschaffen. Werden jetzt, nur eine oder zwei Generationen später, ihre Kinder oder Enkelkinder wieder fliehen müssen?

Die meisten Hongkonger – vor allem die jungen – können es sich nicht leisten zu emigrieren. Und sie wissen genau, dass China ein mächtiges Regime ist, das sie nicht besiegen können.

Was sollte ich sagen?

Ich habe viele Demonstranten gefragt, warum sie sich angesichts der geringen Hoffnung auf Zugeständnisse weiter in endlose Straßenkämpfe mit der Polizei einlassen, wenn es doch nur dazu führt, dass sie verletzt und verhaftet werden. Für Volksaufruhr drohen immerhin bis zu zehn Jahre Gefängnis. Auch wollte ich wissen, ob ihnen klar ist, dass der Regierung nach fünf Monaten Widerstand eskalierende Handlungen als Rechtfertigung dienen, drakonische Maßnahmen zu ergreifen. Sollte dies geschehen, könnten die Menschen in Hongkong mit weniger bürgerlichen Freiheiten dastehen als zuvor.

Regelmäßig erhielt ich die Antwort, friedliche Proteste hätten aber zu nichts geführt. Man habe keine Angst davor, das Leben in einem letzten Kampf für Hongkong zu lassen. „Wenn wir draufgehen, dann gehen wir gemeinsam drauf!“, sagen viele. „Hongkong stirbt sowieso; da können wir auch einen letzten Versuch machen.” Ihre Hoffnungslosigkeit tat mir in der Seele weh. Ich wandte warnend ein, dass ihr Opfer umsonst sein könnte. „Was ist dann Ihre Lösung?“, hielten mir die Demonstranten entgegen. Da wusste ich nichts zu sagen.

Verna Yu ist Reporterin

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung Carola Torti
Geschrieben von

Verna Yu | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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